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Lebenslange Haft für Pol Pots "Brüder"

Kambodscha-Tribunal verurteilt die höchsten überlebenden Anführer des »Demokratischen Kampuchea«

Von Detlef D. Pries *

35 Jahre nach dem Ende des Pol-Pot-Regimes in Kambodscha wurden dessen überlebende Führer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.

Mom Sam Oeurn war fast 85 Jahre alt, als sie vor den Außerordentlichen Kammern bei den Gerichten Kambodschas aussagte. Gefragt wurde sie, wie sie den 17. April 1975 erlebt habe, den Tag, als die schwarz gekleideten Soldaten Pol Pots in Phnom Penh einzogen. Weiße Fahnen seien geschwenkt worden, erinnerte sich die ehemalige Französischlehrerin, man habe gehofft, dass der Krieg zu Ende sei. Doch plötzlich spürte sie einen Gewehrlauf an ihrer Schulter. Einer der »Befreier« habe ihr zuerst die Brille entrissen und sie weggeworfen. Das sei »Teil der Revolution«, habe er in harschem Ton gesagt. Dann sei sie mit Mann und elf Kindern zum Verlassen des Hauses aufgefordert worden: Die Amerikaner würden die Stadt bombardieren, lautete die Begründung. »Sie beschimpften uns, sie brüllten uns an, wir durften uns nicht umsehen, nur vorwärts laufen. Wer stehen blieb, dem drohte die Erschießung. Wie Vieh haben sie uns behandelt.« Und immer wieder habe sie am Rande der Straße, auf der sie bei größter Hitze ohne Versorgung gemeinsam mit Tausenden anderen vorangetrieben wurde, Tote, Sterbende, Entkräftete gesehen.

Rund zwei Millionen Menschen – ein Viertel der damaligen Bevölkerung Kambodschas – wurden binnen Kurzem als angebliche »Feinde der Revolution« aus der Stadt vertrieben, zur Zwangsarbeit auf dem Lande, zum Bau von Straßen und Dämmen. Etwa 20 000 kamen bereits bei der Entvölkerung Phnom Penhs um, stellte das Gericht fest. Insgesamt starben unter der Herrschaft der angeblich »Roten« Khmer rund zwei Millionen Menschen. Mom Sam Oeurn verlor sechs ihrer Kinder – fünf Töchter und einen Sohn – und ihren Ehemann.

Von den Anführern ihrer Peiniger wusste die Frau zunächst nichts. Irgendwann habe sie einen Propagandafilm gesehen, in dem Pol Pot auftauchte. »Das ist Saloth Sar«, habe sie sofort gewusst. Der hatte einst zur gleichen Zeit wie sie selbst das Lyzeum Sisowath besucht.

Saloth Sar alias Pol Pot verstarb bereits 1998. Das UN-gestützte Tribunal saß insgesamt 222 Verhandlungstage zwischen November 2011 und Oktober 2013 über seinen Stellvertreter Nuon Chea und den nominellen Staatschef des damals »Demokratisches Kampuchea« genannten Landes zu Gericht. Mom Sam Oeurn gehörte zu den 92 Zeugen, Nebenklägern und Sachverständigen, die im Verlauf des Prozesses angehört wurden. Insgesamt mehr als 100 000 Kambodschaner verfolgten die Verhandlung von der mit Glas vom Gerichtsraum abgetrennten Besuchertribüne.

Am Donnerstag wurde das Urteil gesprochen. Fünf Richter unter Vorsitz des Kambodschaners Nil Nonn befanden beide Angeklagte schuldig »wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Mord, politische Verfolgung und unmenschliche Handlungen wie Zwangsvertreibung, Verschwindenlassen und Angriffe auf die menschliche Ehre«. Beide wurden entsprechend dem Antrag der Anklage zu lebenslanger Haft verurteilt.

Das Gericht hatte den Fall wegen des großen Umfangs der Anklage in mehrere »Klein-Prozesse« geteilt. In diesem ersten Prozess wurde die Zeit zwischen dem April 1975 und Dezember 1977 behandelt. Konzentriert hatte man sich auf die Zwangsvertreibung im April 1975, weitere Zwangsumsiedlungen zwischen September 1975 und Dezember 1977 und die Erschießung von mindestens 250 Offiziellen des gestürzten Lon-Nol-Regimes unmittelbar nach dem 17. April 1975. Weitere Anklagevorwürfe, darunter der des Völkermords an Vietnamesen und Angehörigen der muslimischen Cham-Minderheit, sollen in einem zweiten Prozess ab Herbst dieses Jahres verhandelt werden. Ob dieses Verfahren angesichts des Alters Nuon Cheas (88) und Khieu Samphans (83) zu Ende geführt werden kann, ist jedoch fraglich. Bereits während des ersten Prozesses war der dritte Angeklagte, der ehemalige Vizepremier und Außenminister Ieng Sary, verstorben. Seine Frau Ieng Thirith, Sozialministerin des Regimes, war wegen Demenz für verhandlungsunfähig befunden worden.

Die beiden verbliebenen Angeklagte äußerten während der Verhandlungen zwar Bedauern über die Leiden der Opfer, lehnten aber jede persönliche Verantwortung ab. Er sei nur für Erziehung und Propaganda zuständig gewesen, behauptete Nuon Chea, und stets für die Einheit des Volkes und für Gerechtigkeit eingetreten. Von Gräueltaten habe er nichts gewusst. Wo es sie gab, seien Verräter oder Agenten Vietnams dafür verantwortlich gewesen. Khieu Samphan wiederum erklärte sich zum Staatschef ohne Staat, der an Entscheidungen nicht beteiligt wurde und vom Geschehen im Lande nichts wusste.

Das Gericht sah beide indes als Mitglieder einer »kriminellen Vereinigung« an, deren Ziel es gewesen sei, eine rasche sozialistische Revolution durch einen »großen Sprung vorwärts« durchzusetzen, koste es, was es wolle. Nuon Chea habe als Stellvertreter Pol Pots höchste Entscheidungsgewalt ausgeübt. Khieu Samphans Rolle als Vorsitzender des Staatspräsidiums sei zwar eine weitgehend symbolische gewesen, doch habe er das Vertrauen der obersten Führung besessen und an deren Sitzungen teilgenommen. Die Anwälte beider Angeklagter, die Freispruch beantragt hatten, kündigten nach der Urteilsverkündung an, Berufung einzulegen.

Mom Sam Oeurn erklärte bei ihrer Anhörung, sie sei bis heute traumatisiert und ihres Schlafes beraubt, wenn sie an das Schicksal ihres Mannes und ihrer verschwundenen Kinder denke. Ihre überlebenden Kinder, darunter eine Tochter, die nach dem Sturz Pol Pots 1979 in der DDR studierte, sorgten sich zwar um sie und sagten ihr, sie solle das Vergangene vergessen, »aber das ist einfach zu schwer.«

* Aus: neues deutschland, Freitag 8. August 2014


Das Urteil von Phnom Penh

Detlef D. Pries zum Prozess gegen die Anführer des Pol-Pot-Regimes **

Sehr lange währte der Streit über die Einrichtung des Tribunals gegen die Führer des Pol-Pot-Regimes, das den Tod von zwei Millionen Menschen in Kambodscha zu verantworten hat. Beschlossen wurde schließlich, nur die Zeit zwischen dem 17. April 1975 und dem 9. Januar 1979 zu verhandeln, ohne Vor- und Nachgeschichte. Dennoch grub das Gericht während des Verfahrens gegen Nuon Chea und Khieu Samphan tief in den Wurzeln der kommunistischen Bewegung Indochinas, deren schwächster Zweig stets der kambodschanische war. Und wohl auch geblieben wäre, hätten die USA das Land nicht in ihren Vietnam-Krieg gezerrt und 1970 in Phnom Penh nicht dem hörigen Marschall Lon Nol in den Sattel geholfen. Der gestürzte Staatschef Norodom Sihanouk rief seine Khmer darauf zum Widerstand in den Dschungel, wodurch die wenigen »Roten« dort unerwarteten Zulauf erfuhren – und 1975 die Macht eroberten. Nichts kann die Verbrechen der »Brüder« Pol Pots rechtfertigen, die ihre Menschenverachtung und ihren dumpfen Nationalismus mit unverstandenen kommunistischen Lehrsätzen verbrämten. Nuon Chea und Khieu Samphan wurden zu Recht mit der höchstmöglichen Strafe belegt. Zum »Nürnberg des Kommunismus«, wie oft beschrieben, taugte der Prozess in Phnom Penh indes nicht. Geschichte, zeigt sich erneut, ist nicht per Justizurteil zu schreiben.

** Aus: neues deutschland, Freitag 8. August 2014 (Kommentar)


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