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Alte kalte Männer

Rote-Khmer-Führer Khieu Samphan und Nuon Chea in Kambodscha für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt

Von Thomas Berger *

Als das Urteil am gestrigen Donnerstag verkündet wurde, brachen etliche der anwesenden Überlebenden der Rote-Khmer-Diktatur in Kambodscha in Tränen aus und fielen sich in die Arme. Lebenslang lautet das Strafmaß gegen Khieu Samphan und Nuon Chea, die beiden ranghöchsten noch lebenden Vertreter des von 1975 bis Anfang 1979 herrschenden Regimes. Das Sondertribunal in der Hauptstadt Phnom Penh sprach die beiden Männer schuldig, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben.

Nuon Chea war als »Bruder Nummer zwei« in der Machthierarchie direkter Stellvertreter von Anführer Saloth Sar alias Pol Pot und zudem Chefideologe der Bewegung, Khieu Samphan war ab 1977 Staatschef des »Demokratischen Kampuchea«. Nach Ansicht des Gerichts waren die beiden Männer unmittelbar in die Entscheidung eingebunden, ­Phnom Penh gleich nach dem Einmarsch am 17. April 1975 zu evakuieren. Rund zwei Millionen Menschen wurden zum Marsch aufs Land gezwungen. Schon dabei gab es Opfer, viele weitere starben später bei der Zwangsarbeit auf den Feldern, wo sie gemäß der Ideologie der Roten Khmer einen auf Agrarwirtschaft basierenden sozialistischen Staat aufbauen sollten.

Den Angeklagten half es nicht, die Verantwortung auf den bereits 1998 gestorbenen Pol Pot und andere abschieben zu wollen. Im gesamten Prozeß hatten sie sich nur ein sehr bedingtes Bedauern über die schätzungsweise zwei Millionen Todesopfer abgerungen. Das Gericht folgte nun dem Vorwurf der Anklage, daß Khieu Samphan und Nuon Chea als Mitglieder des internen Führungszirkels in alle Entscheidungen involviert gewesen seien. Das gelte auch für die massenweise Tötung von Soldaten und Beamten der Vorgängerregierung. Die Vertreter der Administration des mit den USA verbündeten Generals Lon Nol, der bei einem Auslandsaufenthalt von König Norodom Sihanouk gegen diesen geputscht hatte, waren an einem abgelegenen Ort getötet worden.

Das nun nach fast drei Jahren abgeschlossene Verfahren war nur der erste Teil im Prozeß gegen Khieu Samphan und Nuon Chea. Vor wenigen Tagen lief ein zweites Verfahren an, in dem der Vorwurf des Völkermords an den Minderheiten der Vietnamesen und der muslimischen Cham verhandelt wird. Ob die beiden 83 und 88 Jahre alten Angeklagten dessen Ende noch erleben werden, erscheint jedoch fraglich. Bereits bei der jetzigen Urteilsverkündung konnte Chea sich nicht wie vom Richter gefordert erheben. Die Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, blieb er in seinem Rollstuhl sitzen. Den Überlebenden und Hinterbliebenen war es jedoch wichtig, daß die einst so mächtigen Männer jetzt wenigstens den ersten Schuldspruch bei vollem Bewußtsein wahrnahmen. Selbst wenn sie in Berufung gehen sollten, bleiben sie weiter in Haft.

* Aus: junge Welt, Freitag 8. August 2014


Tag mit Symbolkraft

In Kambodschas Hauptstadt sollen am Donnerstag vor dem Sondertribunal die ersten Urteile gegen die angeklagten Rote-Khmer-Führer verkündet werden

Von Thomas Berger **


Für die Überlebenden der drei Jahre und acht Monate währenden Schreckensherrschaft der Roten Khmer (1975 bis 1979) und die Hinterbliebenen der schätzungsweise zwei Millionen Todesopfer jener düstersten Ära in der kambodschanischen Geschichte dürfte dieser Donnerstag einer der wichtigsten Tage ihres Lebens werden: In der Hauptstadt Phnom Penh soll vor dem Sondertribunal im ersten Teilverfahren gegen die noch lebenden ranghöchsten ehemaligen Führer des Regimes das Urteil verkündet werden. Das allein schon ist wichtig und eine Genugtuung. Angesichts des hohen Alters der beiden verbliebenen Angeklagten war nicht absehbar, ob sie ihre Verurteilung noch erleben. ­Nuon Chea, einst Chefideologe der Bewegung und als »Bruder Nummer zwei« neben dem damals mächtigsten Mann Pol Pot bezeichnet, ist in seiner Zelle erst vor wenigen Tagen Ende Juli 88 Jahre alt geworden. Rund drei Wochen zuvor hatte Khieu Samphan, von 1977 bis zum Sturz des Regimes Staatschef, ebenfalls in Haft seinen 83. Geburtstag. Ganz bewußt war das Verfahren aufgeteilt worden. In Teil eins wurden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt, mit der Anklage wegen Genozids an den Minderheiten der Vietnamesen und der muslimischen Cham wird sich die Kammer erst im anschließenden zweiten Teilprozeß befassen.

Kleine Kehrtwende

Wenigstens gegen diese beiden Männer kann damit ein Verfahren abgeschlossen werden. Seit Prozeßbeginn im November 2011 hat sich die Zahl der Personen auf der Anklagebank nämlich halbiert. Exaußenminister Ieng Sary starb im März vergangenen Jahres, seine Frau Ieng Thirith wiederum, einst als Sozialministerin die mächtigste Frau im innersten Machtzirkel, war wegen fortschreitender Demenz für nicht mehr verhandlungsfähig erklärt worden. Aus Opferperspektive mögen diese Umstände als Rückschlag erscheinen. »Doch Gerechtigkeit macht sich nicht an der Anzahl der Angeklagten fest«, betonte Youk Chhang unlängst gegenüber dem jW-Reporter. Der Direktor des Dokumentationszentrums Kambodscha (DC-CAM) hat in den 90er Jahren landesweit Tausende Massengräber erfaßt und war auch als sachverständiger Zeuge vor dem Tribunal geladen. Schon daß Ieng Sary eben im Gefängnis und nicht als freier Mann gestorben sei, gebe den Opfern eine gewisse Genugtuung, so der 1963 Geborene, der als 13jähriger Junge unter den Roten Khmer in Haft kam, aber mit Glück bald wieder freigelassen wurde. Er selbst hat insgesamt zehn Angehörige verloren – es gibt kaum eine Familie in Kambodscha, die ohne Opfer ist.

Gut dreieinhalb Jahre hat der Prozeß im Verfahren Nummer 002/01 bislang gedauert. Ungezählte Zeugen wurden im Gerichtssaal angehört, eine große Menge Beweise auf Verwertbarkeit geprüft. Die Herausforderung liegt darin, den Angeklagten die persönliche Mitschuld an den Verbrechen des Regimes nachzuweisen. Im Mai 2013 hatten ­Nuon Chea und Khieu Samphan Gericht, Opfer und Weltöffentlichkeit immerhin damit überrascht, daß sie erstmals Bedauern über die Verbrechen der Vergangenheit äußerten und eine gewisse »Mitverantwortung« einräumten, den Überlebenden und Hinterbliebenen zudem ihr Mitgefühl aussprachen. Es war eine kleine Kehrtwende, denn bis dahin hatten sie alle Vorwürfe abgestritten. Konkrete Schuld wollten die einst so mächtigen Männer allerdings weiterhin nicht zugeben, und auch echte Reue mochten die meisten Beobachter nicht erkennen. Youk Chhang ist bis heute ebenfalls skeptisch, was den Wert solcher Statements angeht: »Reue sehe ich nicht. Sie werden doch von ihren Anwälten sehr genau beraten, was sie im Gerichtssaal sagen sollten.«

Geschichtsunterricht

Der 2006 eingerichtete Sondergerichtshof hat in den vergangenen Jahren selbst manche Krisen durchlebt. Das Rote-Khmer-Tribunal setzt sich zusammen aus von den Vereinten Nationen entsandten und aus einheimischen Juristen. Alle Positionen sind im Regelfall doppelt besetzt, und nicht immer herrscht in der täglichen Arbeit Eintracht zwischen den Vertretern der »nationalen« und der »internationalen« Seite.

Wenn am Donnerstag das erste Urteil verkündet wird, hat dies vor allem große symbolische Bedeutung. »Ich denke, daß die Opfer von Verfolgung und Gewalt damit endlich ein Stück weit Ruhe finden«, formuliert Youk Chhang die Erwartungen vieler. Es sei ein gewisser Schlußstrich, der nötig sei, damit sich die Gesellschaft weiter entwickeln könne. Die Bevölkerung des Landes ist jung, 70 Prozent der heutigen Kambodschaner wurden erst nach dem Regime der Roten Khmer geboren. Da in den Familien allerdings mitunter nicht über jene schlimme Zeit gesprochen wird, wertet der Leiter von DC-CAM das Verfahren auch als wichtigen Beitrag zum Geschichtsunterricht für die junge Generation.

** Aus: junge Welt, Mittwoch 6. August 2014


Nur eine Handvoll überlebten

»S-21«: Einstige Haft- und Folterzentrale ist heute Museum

Von Thomas Berger ***


Auf den ersten Blick scheint es der Gipfel der Perversion, ausgerechnet eine vormalige Schule zum größten Foltergefängnis des Regimes zu machen. Auf den zweiten Blick entbehrt die Entscheidung nicht einer gewissen Konsequenz: Den neuen Machthabern in Phnom Penh Mitte des Jahres 1975 waren vor allem die Angehörigen der Intelligenz als mögliche Verräter und Gegner suspekt. Lehrer, Ärzte, Beamte und buddhistische Mönche gehörten in ganz besonderer Weise zu jenen, die von den Roten Khmer verfolgt und ermordet wurden. Die Ideologie der Bewegung fußte auf der These, allein die Landbevölkerung sei revolutionär. Eine der ersten und weitreichendsten Entscheidungen von »Angkar«, dem inneren Führungszirkel der Bewegung, war daher die Evakuierung der Städte. Wer eine Brille trug, wurde auf dem Gipfel der politischen Paranoia bereits verdächtigt, der neuen Ära feindselig gegenüberzustehen.

Rund 17000 Menschen waren während der mehr als dreieinhalb Schreckensjahre der Diktatur im Gefängnis S-21 im Herzen der Hauptstadt eingekerkert. Heute ist das Toul-Sleng-Museum ein Ziel für jeden geschichtsbewußten Kambodscha-Besucher. Für die meisten Häftlinge war klar, daß sie die Strafanstalt kaum lebend wieder verlassen würden. Nur eine Handvoll Personen hat das tatsächlich geschafft. Ein Bild von fünf Kindern, die überlebt haben, hängt mittlerweile vergrößert im Hof. Und ziemlich am Ende des Rundgangs durch die Gebäude stößt der Museumsgast auch auf die Geschichte von Ngorn Chan Phal und Ngorn Channy. Bei der Befreiung Anfang 1979 waren die erst kurz zuvor mit ihrer Mutter inhaftierten Brüder gerade einmal sieben und neun Jahre alt. 2010 haben sie ihre Geschichte für die stetig wachsende Ausstellung im Museum erzählt.

Überlebt haben auch Van Nath (geb. 1946) und Bou Meng (geb. 1941) – beide Maler, denen ihr künstlerisches Talent half: Gefängnisdirektor Kaing Guk Eav alias Duch war auf sie aufmerksam geworden. Da sie ansprechende Bilder der politischen Führer malen konnten, bewahrte er sie vor dem Schlimmsten. Ein großer Teil derer, die nach S-21 kamen, waren vor allem ab dem Jahr 1977 mittlere und höherrangige Kader, die beim Regime in Ungnade gefallen waren. So wurde in einer »Säuberungswelle« die komplette politische und militärische Führung in den Ostprovinzen an der Grenze zu Vietnam abgesetzt, festgenommen und hierher gebracht. Allein die räumliche Nähe zum Feind war Anlaß genug, ihnen ein Komplott zum Sturz Angkars mit vietnamesischer Hilfe zu unterstellen. Pol Pots politischer Wahn witterte überall Verrat. Selbst Khoy Thuon, Sekretär der Nordzone, Handelsminister und Mitglied des Zentralkomitees, wurde 1977 verhaftet und ermordet. Bei seiner schwangeren Frau wartete man vor der Exekution noch die Geburt ab, keines der sieben Kinder des Paares wurde verschont. Neuerdings ist nachzulesen, daß mehrere der Verhörspezialisten in S-21 selbst unter Verdacht gerieten, gefoltert und hingerichtet wurden. Gefängnisleiter Duch war der erste, dem vor dem Tribunal der Prozeß gemacht wurde. Der wichtigste Handlanger des Terrorregimes wurde 2010 zunächst zu 35 Jahren Haft verurteilt, im Berufungsverfahren zwei Jahre später wurde die Strafe auf lebenslänglich erhöht. Anders als die jetzigen Angeklagten hat sich Duch bei den Opfern entschuldigt und späte Reue gezeigt.

Das Toul-Sleng-Museum ist wie kaum eine andere Stätte landesweit Erinnerungs- und Lernort. Unlängst wurden der Direktor und etliche Mitarbeiter wegen Korruptionsverdachts entlassen. Youk Chhang sieht darin eine Chance, nun den Gedenkstättencharakter weiter ausbauen zu können. Er und sein Team haben z. B. 1000 Namen zu jenen Porträtfotos recherchiert, die damals von allen Gefangenen gemacht wurden. Ihre langen Reihen zählen zu den bedrückendsten Ausstellungsexponaten.

*** Aus: junge Welt, Mittwoch 6. August 2014

Das Regime der Roten Khmer

Von Thomas Berger

Am 17. April 1975 marschierten die schwarzgekleideten Kämpfer der Roten Khmer in Phnom Penh ein und schlossen damit ihre landesweite Machtübernahme ab. Sie wurden zunächst als Befreier begrüßt – schließlich bedeutete dies das Ende des verhaßten Regimes von General Lon Nol, dem bisherigen, US-hörigen Regierungschef. Der Jubel verebbte aber Zeugenaussagen zufolge schon angesichts der grimmigen Gesichter beim Einzug der neuen Machthaber. Als kurz darauf die Metropole und andere Großstädte auf Weisung der Roten Khmer evakuiert wurden, schwante den Betroffenen, daß ihnen Schlimmes bevorstand. Was an Schrecken allerdings folgte, hatte sich wohl niemand vorgestellt. Die Roten Khmer waren in der Zeit ihrer Herrschaft von 1975 bis 1979 für den Tod von rund zwei Millionen Menschen, einem Viertel der damaligen Gesamtbevölkerung, verantwortlich. Wer nicht als »Gegner der Revolution« schon wegen kleiner Vergehen exekutiert wurde, starb an den Folgen von Zwangsarbeit, Unterernährung und Mißhandlungen. Alle, die nach »S-21« (siehe Beitrag unten) oder in andere Gefängnisse kamen, hatten vor dem Tod Folterungen zu erdulden.

Die Führungsgruppe der Roten Khmer gruppierte sich um Saloth Sar alias Pol Pot. Es waren gerade die jetzt vor Gericht stehenden Khieu Samphan und Nuon Chea, welche die ideologische Grundlage für die Schreckensherrschaft schufen. Marxistische Versatzstücke wurden mit den Lehren Mao Tse-tungs aus dem als Vorbild angesehenen China verknüpft. Vor allem wurde eine Wiedergeburt jenes Agrarstaates angestrebt, der einst die Basis für das glorreiche Königreich der Angkor-Periode im neunten bis zwölften Jahrhundert bildete. Alles Städtische und Neumodische wurde als revolutionsfremd verdammt. Nachdem die Roten Khmer die kleine Kommunistische Partei unterwandert hatten, begann ihr Siegeszug daher auch zunächst in ländlichen Gebieten.

Nach der Befreiung Anfang 1979 durch Vietnamesen und übergelaufene Exkader gingen Pol Pot und die verbliebenen Führer in den Untergrund und wurden von China, den USA und Thailand unterstützt. Erst 1996 (Ieng Sary) bzw. 1998 (Khieu Samphan und Nuon Chea) gab es endgültige Friedensschlüsse mit den Exrebellen. Pol Pot, von den eigenen Leuten zuletzt in Arrest genommen, starb 1998.




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