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Mord am eigenen Volk vor Gericht

27 Jahre nach Ende der Schreckensherrschaft in Kambodscha nimmt ein Tribunal die Arbeit auf

Von Michael Lenz, Phnom Penh *

Mit einem symbolischen Akt hat Kambodscha 27 Jahre nach Ende der Schreckensherrschaft Pol Pots die juristische Aufarbeitung des schrecklichsten Kapitels seiner Vergangenheit eingeleitet. Im Königspalast von Phnom Penh wurden am Montag die Richter für ein Tribunal gegen Anführer des damaligen Regimes vereidigt.

»Ich werde weder bei der Regierung noch bei anderen Quellen um Anweisungen nachsuchen.« Mit dieser Eidesformel wurden am Montag im Königspalast von Phnom Penh in einer feierlichen Zeremonie 17 kambodschanische und 10 ausländische Richter und Staatsanwälte des Tribunals vereidigt, das die Verbrechen der Pol-Pot-Clique untersuchen soll. 27 Jahre nach Ende der Diktatur soll endlich einer der schrecklichsten Völkermorde des 20. Jahrhunderts juristisch aufgearbeitet werden. Durch Folter, Mord und Hunger waren zwischen 1975 und 1979 nahezu zwei Millionen Kambodschaner ums Leben gekommen – ein Viertel der damaligen Bevölkerung.

Strafrechtlich verfolgt und vor den »Außerordentlichen Kammern der Gerichte Kambodschas« (in der offiziellen Abkürzung ECCC) angeklagt werden können nur die obersten Führer des Anfang 1979 mit militärischer Hilfe Vietnams gestürzten Regimes. Darauf haben sich Kambodschas Regierung unter Ministerpräsident Hun Sen (der sich 1977 von den so genannten Roten Khmer losgesagt hatte und nach Vietnam geflüchtet war) und die Vereinten Nationen nach zehn Jahren zäher Verhandlungen geeinigt.

Angesichts dieser Einschränkung ist es nicht garantiert, dass es überhaupt zu Verfahren kommen wird. Die wenigen noch lebenden Führungskader sind zwischen 75 und 81 Jahren alt. Dank exzellenter politischer Beziehungen sowohl im Inland als auch im Ausland leben die meisten Verantwortlichen der Schreckensherrschaft inzwischen frei und unbehelligt in Kambodscha. Dazu gehören der damalige nominelle Staatschef Khieu Samphan, Außenminister Ieng Sary und die Nr. 2 des Regimes, Nuon Chea. Pol Pot selbst kann nicht mehr angeklagt werden: Er starb 1998 – von seinen einstigen Gefolgsleuten verstoßen – eines natürlichen Todes.

Unter dem Vorwurf des Völkermords sind derzeit nur zwei hochrangige Polpotisten in Haft. Kang Kek Eav, genannt Duch, hat als Leiter des berüchtigten Foltergefängnisses S 21 im ehemaligen Lyzeum Tuol Sleng den grausamen Tod von mindestens 13 000 Menschen zu verantworten. General Ta Mok gilt als der militärisch Verantwortliche für die mörderischen Säuberungsaktionen, weshalb er unter den Hinterbliebenen der Opfer »Schlächter« genannt wird. Der heute 80-Jährige, der 1999 festgenommen wurde, weist jede Verantwortung zurück. Er werde vor dem Tribunal seine Unschuld beweisen, ließ der Schwerkranke in der vergangenen Woche seinen Anwalt mitteilen.

Die Rufe von Opfern und Flüchtlingen nach einem internationalen Tribunal wurden direkt nach der Befreiung 1979 in westlichen Staaten geflissentlich überhört. »Die Kambodschaner mussten weiter leiden, weil sie vom falschen Land befreit worden waren«, schreibt Tom Fawthrop, Ko-Autor des Buches »Getting Away with Genocide?« über den Völkermord in Südostasien. Unter der Führung der USA und Großbritanniens habe der Westen den Guerillakampf der »Roten Khmer« gegen die Vietnamesen in den 80er Jahren unterstützt. Bis zum Pariser Friedensabkommen von 1991 nahmen die Polpotisten sogar den UN-Sitz Kambodschas ein. Fawthrop klagt: »Diese Travestie der Diplomatie ist eines der schändlichsten Kapitel in der Geschichte der UN.«

In den letzten Wochen haben gut 3000 Menschen das Gerichtsgebäude etwa 15 Kilometer vor den Toren der Stadt besichtigt. »Immer mehr Kambodschaner sind daran interessiert, die Wahrheit über die dunkle Periode zu erfahren«, ist sich ECCC-Pressesprecher Reach Sambath sicher. Er sieht einen wesentlichen Sinn des Tribunals in seiner Wirkung auf die Zukunft Kambodschas. »Das Verfahren ist eine Mahnung an künftige Führer des Landes, dass sie für Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.«

Das Tribunal ist zeitlich nicht begrenzt, das Budget von knapp 60 Millionen US-Dollar ist jedoch zunächst auf drei Jahre berechnet. Nach der Vereidigung haben sich die Richter zu einer einwöchigen Beratungsphase zurückgezogen. Am Freitag dieser Woche wollen sie auf einer internationalen Pressekonferenz in Phnom Penh das Ergebnis ihrer Strategieplanung vorstellen.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Juli 2006


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