Malen rettete ihm das Leben
Vann Nath überlebte als einer von wenigen die Folterhölle Pol Pots
Von Robert Luchs *
Er war einer der Zeugen im Prozess gegen Kaing Guek Eav alias Duch, den Chef des Foltergefängnisses S 21, der sich in diesem Jahr als erster dem Tribunal gegen Hauptverantwortliche des Pol-Pot-Regimes (1975-1979) in Kambodscha stellen musste: Vann Nath, der Maler.
Wenn die Sonne hinter den Dächern von Phnom Penh versinkt, kommt leichter Wind auf. Die Hitze
aber steht noch lange in den engen Straßen, wo im Handumdrehen die Garküchen aufgebaut
werden. Das ist die Zeit für Vann Nath, die steilen Außentreppen seines Hauses emporzusteigen,
um auf der Dachterrasse die kühleren Abendstunden zu verbringen. Die Ausstattung hier oben ist
ärmlich: ein wackliger Tisch, zwei zerbrechliche Stühle, ein quietschender Ventilator, zwei Gemälde.
Die Wunden schmerzen noch immer
Der 65-Jährige macht es sich in einer zerschlissenen Hängematte bequem, ohne die ersehnte Ruhe
zu finden. Seine Wunden plagen ihn, die ihm vor über 30 Jahren zugefügt wurden, aber noch viel
mehr quält ihn die schmerzliche Erinnerung an die Zeit des zügellosen Terrors von 1975 bis 1979,
als Kambodscha von den Leuten Pol Pots in ein Zwangsarbeitslager verwandelt wurde. Fast zwei
Millionen Menschen kamen damals ums Leben: Viele, die nicht bestialisch umgebracht wurden,
starben an Hunger, Krankheiten oder Überarbeitung. In Phnom Penh richteten die barbarischen
Herrscher, die aus dem südostasiatischen Land einen reinen Agrarstaat machen wollten, in der
ehemaligen Schule Tuol Sleng ein Folterzentrum ein.
Mindestens 12 800 Häftlinge – so viele sind dokumentarisch belegt – mussten in dieser Hölle
unvorstellbare Grausamkeiten erdulden, bevor sie auf den »Killing Fields« vor den Toren der
Hauptstadt erschlagen wurden. Als die Pol-Pot-Leute Anfang 1979 von der vietnamesischen Armee
vertrieben wurden, hatten nur sieben Gefangene die Folter in S 21 – wie Tuol Sleng im offiziellen
Sprachgebrauch genannt wurde – überlebt.
Heute leben noch drei – Vann Nath ist einer von ihnen. Der Weißhaarige, der mit seinen Verwandten
das kleine Restaurant »Kith Eng« in Phnom Penh betreibt, leidet immer noch unter den Folgen der
Folter: Seine Peiniger hatten ihn mit Elektroschocks gequält.
Unaufgefordert krempelt er die Hemdsärmel hoch und zeigt lange Narben auf den Unterarmen.
»Nach tagelanger Folter fühlten wir uns wie Tiere, nicht mehr wie menschliche Wesen«, sagt Vann
Nath. Ganze ein bis zwei Löffel Reis erhielten die Gefangenen täglich, was dazu führte, dass ihnen
der beißende Hunger schier die Gedärme zerriss und das Denken ausschließlich auf Essen fixiert
war – auch auf Insekten, die von der Zellendecke fielen. Seine Stimme wird noch leiser und klingt
verschämt, als er davon berichtet.
Die körperlichen Qualen waren schrecklich, mehr noch die Erniedrigung. Dass die Peiniger ihn
seiner Würde berauben wollten, das nimmt er ihnen bis heute am meisten übel. Das verzweifelte
Wimmern der gequälten Mitgefangenen hört Vann Nath immer nachts, wenn ihn die Gespenster der
Vergangenheit heimsuchen. Der Maler zeigt Fotos aus der Zeit seiner Gefangenschaft in Tuol Sleng,
heute ein Völkermordmuseum. Als Nummer 719-55 wurde er dort geführt, wie alle anderen sofort
nach der Ankunft abgelichtet und dann in Ketten gelegt.
Dass Vann Nath überlebte, verdankt er seinem Talent als Maler. Nach Wochen der Folter stand er
eines Tages, völlig geschwächt, dem Leiter des Gefängnisses gegenüber, Kaing Guek Eav, genannt
Duch. Zitternd vor Angst sah Nath sein Ende gekommen. Doch Duch wollte, dass der Gefangene ein
überlebensgroßes Porträt Pol Pots malt, des Regimechefs, auch »Bruder Nr. 1« genannt.
Porträts des Diktators in Serie
Es bleibt nicht bei einem Bild, das der nun mit großen Portionen Reis aufgepäppelte Vann Nath
anhand von Fotos malt. Es rettet ihm das Leben, dass die Bilder nicht nur dem heute vor dem
internationalen Völkermord-Tribunal in Phnom Penh stehenden Duch gefallen, sondern vor allem
dem mächtigen Diktator Pol Pot, der einen Personenkult nach dem Vorbild Maos vorzubereiten
scheint. Vann Nath wird sogar ein Assistent zur Seite gestellt, weil er zu viel Arbeit hat. Ein separater
Raum wird ihm zugeteilt, die Folter bleibt ihm fortan erspart, doch die Schmerzensschreie seiner
Leidensgenossen, die regelmäßig nachts abtransportiert werden und nicht mehr zurückkommen,
muss er nach wie vor mit anhören.
Warum wurde Vann Nath im Dezember 1977 abgeholt und von seiner Frau und seinen beiden
Kindern getrennt? »Ich kann es Ihnen auch heute noch nicht sagen«, sagt der Maler leise, mit
sanfter Stimme. »Ich habe in einer Dorfgemeinschaft in der Nähe der Provinzhauptstadt Battambang
gelebt, in der jeden Tag Menschen festgenommen wurden. Tag und Nacht wurden sie verhaftet und
zu schwerster Arbeit gezwungen.« Er selbst musste Dämme bauen, später Gräber ausheben, weil
der Wahn der Polpotisten immer mehr Opfer forderte.
Vann Nath stockt für einen Moment und muss sich sammeln. Er lauscht dem heftigen Tropenregen,
der auf das Blechdach des Restaurants prasselt. Dann fährt er fort: »Als ich in das Tuol-Sleng-
Gefängnis eingeliefert wurde, beschuldigten mich die Vernehmer, den revolutionären Kurs nicht
mitzutragen und Angkar nicht zu unterstützen.« Angkar war die alles beherrschende Organisation
Pol Pots, die – wie es hieß – »tausend Augen hat und alles sieht«. Hatte ihn ein Nachbar
angeschwärzt, wurde er beschuldigt, ein Spion der CIA zu sein? Tausende verschwanden zu dieser
Zeit in Kambodscha, weil sie sich nicht gegen falsche Beschuldigungen wehren konnten.
Die gegen Vann Nath erhobenen Vorwürfe wurden von keiner Stelle untersucht, ihr Wahrheitsgehalt
nicht überprüft. Die Ungewissheit verfolgt ihn bis heute, hatte er doch ein rechtschaffenes Leben
geführt und sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Er vertraute seiner buddhistischen Religion,
die besagt: Wer im Leben etwas Schlimmes tut, der wird in seinem späteren Leben auch Schlimmes
ernten.
So soll es auch den Angeklagten aus der Führungsriege des »Demokratischen Kampuchea« gehen,
die im kommenden Jahr vor dem Tribunal stehen werden. Vann Naths Stimme wird zum ersten Mal
lauter, als er deren strenge Bestrafung fordert. Rache sei ihm fremd, sagt der Maler, aber er wolle
Gerechtigkeit, vor allem für die vielen tausend noch lebenden Opfer des Regimes. Diese
Gerechtigkeit müsse für jeden Kambodschaner »sichtbar und greifbar« sein.
Die Täter müssen ihre Schuld bekennen
Allerdings setzt Vann Nath nicht allzu große Hoffnungen in die juristische Aufarbeitung der
Verbrechen durch das Völkermord-Tribunal. Es sei zu spät eingerichtet worden. Pol Pot ist tot, viele
Schlächter von damals sind wie vom Erdboden verschluckt, seit das Tribunal seine Ermittlungen
aufgenommen hat. Andere leben unbehelligt neben ihren einstigen Opfern. Der Überlebende von
Tuol Sleng ist sicher, dass sich »viele, die gemordet und gefoltert haben, nicht vor dem Tribunal
werden verantworten müssen«. Es dürfe aber nicht sein, dass die Täter davonkommen. »Sie leben
noch, und sie können sich im Land frei bewegen. Ich kenne sie, ich habe sie in der Provinz selbst
gesehen.«
Man müsse den Tätern von einst ihre Schuld klarmachen, fordert Vann Nath. Im Prozess gegen
Duch hat er seinen Teil dazu beigetragen, als er als Zeuge vor dem Tribunal gehört wurde. Dort
schilderte er auch, wie er nach seiner Befreiung im Januar 1979 wie durch ein Wunder seine Frau
fand, mit der er noch einmal eine Familie gründete. Drei Kinder hat er heute; zwei Söhne aber haben
die Schreckenszeit nicht überlebt.
Vann Nath ist müde geworden, das Gespräch hat ihn erschöpft. Ab und zu greift er noch zum Pinsel,
sagt er, doch die Flucht zu anderen Motiven will ihm nicht gelingen. Als ob eine fremde Macht seine
Hand führte, kann Vann Nath nur wie früher Verhör- und Folterszenen malen. Sie haben sich zu tief
in seine Seele eingegraben.
* Aus Neues Deutschland, 12. November 2009
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