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Landraub mit europäischer Hilfe

In Kambodscha bereitet europäische Handelspolitik der Vertreibung von Kleinbauern den Boden / Hunger ein strukturelles Problem: 870 Millionen Menschen weltweit betroffen


Eang Vuthy repräsentiert die Nichtregierungsorganisation Equitable Cambodia (Gerechtes Kambodscha), die sich für die Rechte Marginalisierter einsetzt. Der Brite David Pred ist Mitgründer und Geschäftsführer der Entwicklungsorganisation inclusive development interntaional (idi) mit Sitz in Phnom Penh. Über den Landraub in Kambodscha im Kontext der Handelspolitik der EU sprach mit ihnen für »nd« Martin Ling.


nd: Am 16. Oktober wird alljährlich der Welternährungstag begangen, um auf den Welthunger aufmerksam zu machen. Die Europäische Union (EU) erlaubt seit 2009 den am wenigsten entwickelten Länder der Welt (LDCs) wie Kambodscha zollfreien Export von Zucker. Zucker war wie Reis und Bananen bis dahin aus der »Alles außer Waffen«-Marktöffnung der EU (EBA) ausgenommen. Mit der 2001 auf den Weg gebrachten EBA soll laut EU die Wirtschaft der LDCs beflügelt und so gegen Armut und Hunger gewirkt werden. Funktioniert das in Kambodscha?

Eang Vuthy: Für jemand, der wie ich für die von den Folgen der Liberalisierung negativ Betroffenen spricht, lässt sich der EU-Sicht nicht zustimmen. Es ist sicher nicht so, dass alle Bestandteile von EBA Probleme verursachen, ein Teil davon jedoch gewiss. Ein Teil der Industrie kann von EBA profitieren, der Großteil der Bevölkerung hat davon nichts. Für sie fällt nichts von den Profiten der Zuckerindustrie ab. Im Gegenteil: Die Zuckerunternehmen rauben Kleinbauern Land und die EU hat bisher keine Vorkehrung gegen solche Praktiken getroffen.

Sehen Sie das ähnlich?

David Pred: Absolut. Was man betonen muss: Die EBA war ein Treiber für das Land Grabbing (Landraub) in Kambodscha. In Bezug auf Kambodscha wurde das für den agroindustriellen Sektor klar dokumentiert, insbesondere in Bezug auf die Zuckerindustrie. Der größte Nutznießer der EBA in Kambodscha sind thailändische Zuckerunternehmen. Die investieren groß in Kambodscha weil sie von dort im Gegensatz zu Thailand zollfrei in die EU exportieren können. Sie rauben Kleinbauern Land, ohne dafür bestraft zu werden. Das sind die Nutznießer, sicher nicht die tausenden Familien, die von ihrem Land gewaltsam vertrieben worden sind.

Lässt sich der Landraub exakt beziffern?

Unsere Schätzungen, die sich nur auf die Zuckerindustrie beziehen, belaufen sich auf 20 000 Menschen, die in den vergangenen vier bis fünf Jahren davon betroffen waren. Sie alle haben den Zugang zu ihrem Land verloren. Bei einer Gesamtbetrachtung zeigt sich, dass mehr als 700 000 Kambodschaner im vergangenen Jahrzehnt vom Landraub betroffen worden sind. Das ist das vordringlichste Menschenrechtsproblem in Kambodscha. Und EBA, bei allen wohlmeinenden Absichten, hat eine Menge negativer Nebeneffekte wie die Förderung einer exportorientierten Landwirtschaft, die den Landraub befördert und die Ernährungssicherheit schwächt.

Was sind ihre Forderungen in Bezug auf EBA?

Eang Vuthy: Die Absichten der EU, mit der EBA-Initiative Einkommen und Beschäftigung in Ländern wie Kambodscha zu schaffen, sind ehrenwert. Aber de facto spielen die beiden Aspekte keine große Rolle. Zuckeranbau schafft nur in drei Monaten des Jahres überhaupt Beschäftigung. Und dafür haben die Zuckerarbeiter oft ihr Land an die Firmen verloren. Drei Monate Beschäftigung reichen nicht für ein ausreichendes Jahreseinkommen für eine Familie. Die Forderung an die EU ist, diese Entwicklungen zu begutachten. Die EU muss die Unternehmen und die kambodschanische Regierung dazu bewegen, das geraubte Land zurückzugeben. Das ist die Hauptforderung. Aber wenn sie dazu nicht in der Lage sind, dann muss eine Entschädigung zu Marktpreisen erfolgen.

Reicht eine Kompensation für die Folgen oder müsste nicht EBA umgebaut werden?

David Pred: Die EBA ist ein grobes Instrument. Sie fußt auf einer simplen makroökonomischen Logik, wonach die Marktöffnung in der EU Investitionen in den LDCs nach sich zieht und diese wiederum Beschäftigung und höhere Einkommen bewirken. Das ist zu simpel: Es gibt negative und positive Investitionen. Und in Gesellschaften wie Kambodscha mit schwacher Regulierungskapazität der Regierung ist schlechten Investitionen Tür und Tor geöffnet. Was Kambodschas Menschen bräuchten, wäre ein Fair-Trade-Agreement, also ein Abkommen, das dem fairen Handel verpflichtet ist und nicht unterschiedslos Präferenzen gewährt, von denen nur die Großunternehmen im Export profitieren und die Importeure in der EU selbstverständlich.

Wie könnte das aussehen?

Ganz einfach. Die individuellen Produzenten sollten nur unterstützt werden, wenn sie es verdienen. Derzeit brauchen die Zuckerproduzenten zwar eine Exportlizenz für die EU. Nachweisen müssen sie dafür aber nicht, dass sie sich an soziale und arbeitsrechtliche Standards halten. Sollten Sie nicht nachweisen müssen, dass Sie keine Kriminellen sind, dass Sie kein Land rauben und keine neunjährigen Kinder zum Pestizide versprühen einsetzen? Faktisch subventioniert die EU Land Grabbing, was nicht im Interesse der EU-Bevölkerung liegen dürfte. Präferenzen darf es nur für Produzenten geben, die sich an faire Regeln halten.

Menschenrechtsorganisationen aus der EU und Kambodscha haben einen Offenen Brief wegen der Missstände an den EU-Handelskommissar Karel de Gucht geschrieben. Gab es eine Reaktion?

David Pred: Ja, wir haben eine Antwort erhalten. De Gucht hat erklärt, sich der Angelegenheit annehmen zu wollen. Wir hatten appelliert, dass in einer Situation mit krassen Menschenrechtsverletzungen von Unternehmen, die von Präferenzexportbedingungen in die EU profitieren, die EU handeln müsse.

Geben das die Regeln her?

Absolut. Das Allgemeine Präferenzsystem (GSP), das der EBA zu Grunde liegt, sieht eine Regel vor, die Menschenrechte schützt. Diese Regel erlaubt, bei Verstößen Ländern oder Produzenten die Präferenzen zu entziehen. Zuerst wird den Ländern oder Herstellern bei Mängeln eine Korrekturmöglichkeit in einer bestimmten Frist eingeräumt. Bleiben die Verstöße an der Tagesordnung, dürfen die Präferenzen entzogen werden. Sie muss nur angewandt werden. Bisher haben sich De Gucht und die Generaldirektion jedoch geweigert, die Klagen in den Europäischen Rat einzubringen, damit sich die Mitgliedsländer damit befassen können.

Weshalb?

Der Grund, den er dafür angab, war, dass die Beschwerden von UNO-Überwachungsbehörden gemeldet werden müssten, damit die Regulierungen greifen. Inzwischen gibt es einen UNO-Bericht, der ernsthafte und weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen bei der Vergabe von Landkonzessionen in Kambodscha festgestellt hat. Dieser Bericht ist bereits an den Menschenrechtsrat in Genf übergeben worden. Die UNO hat klar gesprochen. Nun ist die EU gefordert, zu handeln. Es gibt keine Ausreden mehr.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 16. Oktober 2012


Hunger ist ein strukturelles Problem

Von Martin Ling **

Auch wenn der relative Anteil der Weltbevölkerung, der Hunger leidet, sinkt – die absoluten Zahlen bleiben erschreckend: 2,5 Millionen Kinder sterben weltweit jedes Jahr wegen mangelhafter Ernährung. Weitere 170 Millionen Jungen und Mädchen leiden unter Wachstumsverzögerungen, weil sie nicht genug zu essen haben. Und nach wie vor hungern 870 Millionen Menschen weltweit, besagen die Zahlen der Welternährungsorganisation FAO zum heutigen Welternährungstag. All das, obwohl es objektiv keinen Nahrungsmangel gibt, »nur«, dass es vielen Menschen an Einkommen mangelt, sich ausreichend Nahrungsmittel zu kaufen.

Hunger ist vor allem ein strukturelles Problem, denn 80 Prozent der Hungernden leben dort, wo die Lebensmittel produziert werden: auf dem Land. Und ebendort werden die Lebens- und Produktionsbedingungen für die Kleinbauern und -bäuerinnen immer schlechter. Zum seit Jahrzehnten andauernden Problem der Dumpingexporte aus dem Norden, die die südlichen Kleinbauern vom Markt verdrängen, kommen in den letzten Jahren zwei neue Probleme hinzu: Der Landraub (Land Grabbing) durch internationale Investoren, die im Süden billig Land kaufen oder pachten, um ausschließlich für den Export anzubauen, sei es für Agrosprit oder Lebensmittel für den heimischen Markt. Den Kürzeren zieht einmal mehr die Landbevölkerung des Südens.

Es fehlt nicht an Konzepten, wie eine zukunftsfähige Landwirtschaft aussehen müsste, die das Recht auf Nahrung gewährleistet. Der Weltagrarrat hat 2008 die Richtung gewiesen: von der teuren, chemieintensiven und stark erdölabhängigen Produktion zu agrarökologischen Techniken und einer Förderung der Kleinbauern im Süden. Ein Ansatz, der dort, wo er erprobt wurde, Erfolg hatte. Aber auch ein Ansatz, dem der Norden aus Eigeninteresse nichts abgewinnen kann.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 16. Oktober 2012


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