Landminen: Spuren des Krieges in Kambodscha
Es fällt schwer, die Schrecken des Krieges zu vergessen - Ein Reisebericht
Unter dem Titel "Des Henkers Richter ist ein Henker" erschien in der Frankfurter Rundschau vom 23. Oktober 2000 ein eindrucksvoller Reisebericht von A. Woltersdorf aus Phnom Penh. Darin geht es um Landminen, die auch 25 Jahre nach dem Ende des Kriegs immer noch ihre Opfer finden, und um die Vergangenheit, die bewältigt, aber auch vergessen werden will. Kambodscha, ein Land, das seinen Frieden längst nicht gefunden hat.
Chim Phan, der einbeinige Athlet, springt geschmeidig am Netz hoch und schmettert den Ball ins gegnerische Feld. Dort blockt ihn federnd Bun Horn, mit seinem einzigen Arm. Phan und Horn sind Mitglieder des ersten kambodschanischen Paralympics Volleyball-Teams, eine Gruppe von zwölf Spielern, die derzeit in Sydney an ihrem ersten internationalen Turnier teilnehmen. Anders als ihre Konkurrenten teilen elf von ihnen ein alltägliches kambodschanisches Schicksal: Sie sind Opfer der vermutlich vier bis sechs Millionen Landminen. Ein Vierteljahrhundert nach Ende des Vietnam-Krieges fordern diese Minen weiterhin ihren Blutzoll.
Phan, ein ehemaliger Soldat der Regierungs-Armee, verlor ein Bein, als er beim Holzsammeln auf eine Mine trat. Horn war zehn, als im väterlichen Reisfeld eine Minenexplosion seinen Arm zerfetzte. Wie die beiden Volleyball-Spieler verstümmeln oder töten Landminen jährlich rund tausend Kambodschaner.
Jeder 285. Mensch in dem nur rund 11,5 Millionen Einwohner zählenden Land der Khmer ist amputiert, bilanziert das nationale Minenunfall-Database Projekt. Mehr als drei Viertel aller Minenunfälle weltweit ereignen sich in Kambodscha, Afghanistan und Angola. Zuhause in Phnom Penh hat das paralympische Komitee Plakate aufhängen lassen, die die Athleten springend und rennend zeigen. Die Kampagne soll den Tausenden kambodschanischer Krüppel Mut machen. "Der Erfolg der Sportler kann vergessen machen, was ihnen geschah. Das gibt neuen Lebensmut", sagt der deutsche Trainer Daniel Kopplow.
Mut braucht man hier. Denn das Land will nur noch in die Zukunft schauen, weil der Blick zurück den Menschen den Verstand raubt. Es gibt kaum eine Familie, die nicht Vater, Onkel oder Bruder im Krieg verloren hat. Dessen tödliche Grüße ereilen heute noch die Kinder der Soldaten, die für die kambodschanische oder die vietnamesische Armee kämpften. Oder für die Roten Khmer, die agrar-kommunistischen Rebellen, die sich 1975, nach einem vierjährigen Krieg, an die Macht schossen. Sie alle spickten die Erde ihrer Heimat mit todbringenden Hinterlassenschaften. Zwar beendeten 1979 vietnamesische Truppen das von der Weltgemeinschaft weitgehend ignorierte Gemetzel der Roten Khmer am eigenen Volk, doch der sich anschließende Bürgerkrieg versenkte neue Sprengladungen in den Boden. Die Gewalt endete erst 1998 mit einem Putsch. Damit nicht genug, machen Blindgänger der US-Luftwaffe die vietnamesische Grenzregion zu einem unpassierbaren Todesstreifen. "Erst in 50 bis 100 Jahren werden wir mit der Räumung fertig sein," schätzt Keo Sarath, Leiter der Entminungs-Einheit 4 des kambodschanischen Minen-Aktions-Zentrums.
Seitdem 1992 die Vereinten Nationen mit der Räumung begannen, konnte die Zahl der Unfälle von monatlich 600 auf nunmehr 70 gesenkt werden. Die Räumer benötigen pro Mine rund 15 Minuten, von der Sicherung des Minenfeldes bis zur Vernichtung durch Detonation. Die "Killer", wie Sarath sie nennt, zu verbuddeln dauert nur wenige Minuten. Seine Einheit, sagt er stolz, hat seit 1996 mit der finanziellen Unterstützung der Europäischen Union in den Provinzen Preah Vihear und Kampong Thom über 3000 Minen entschärft und zehn Quadratkilometer Land gesäubert.
"Landminen sind das größte Hindernis beim Kampf gegen Armut," sagt Sarath besorgt. In den 90er Jahren wurden in Kambodscha auf insgesamt 80 Quadratkilometern rund 120 000 Anti-Personen-Minen entschärft. Bleiben also noch gut fünf Millionen. "Eines der größten Entminungsvorhaben der Geschichte", nennt es die Internationalen Kampagne gegen Landminen.
In dem mit smaragdgrünen Reisfeldern bedeckten Land ist nicht nur der Boden gefährlich. Auch die Menschen begegnen sich mit Misstrauen. Jeder war ein Feind, heute muss man miteinander auskommen. "Wir waren ein Volk von acht Millionen", rechnet König Norodom Sihanouk Staatsgästen vor. "In den zwei Jahrzehnten Krieg starben vier Millionen." Ein zerstörtes und verstörtes Land. "Wie konnte das passieren?" Diese Frage mag niemand stellen. Die Angst, dass das Inferno noch einmal von vorne beginnen könnte, und sei es nur im Kopf, ist allgegenwärtig. So leben die Schlächter der Roten Khmer Tür an Tür mit den Familien ihrer Opfer. Verkaufen sich gegenseitig Fisch und Gemüse und blicken nach vorn.
Seit den Wahlen vor zwei Jahren ist in den Städten eine breite Diskussion in Gang gekommen. In den über 100 Zeitungen des Landes wird debattiert, ob ein Tribunal zur Verurteilung der Mörder sinnvoll ist oder nicht. Ministerpräsident Hun Sen, selbst einst Weggefährte des "Bruders Nr. 1", Pol Pot, behauptet immer wieder, dass ein internationales Tribunal den Prozess der Aussöhnung gefährde. Obwohl Mitglied der Opposition, stimmt dem sogar Ok Serei Sopheak zu. Der Direktor des Zentrums für Konfliktlösung ist skeptisch. "Das Tribunal scheint für das Ausland wichtiger als für uns" meint er. Bei den aktuellen Problemen sei die Vergangenheitsbewältigung reiner "Luxus".
Wer sollte überhaupt Recht sprechen, bringt Sopheak das Dilemma auf den Punkt. Die Henker von gestern? Die Richter seien korrupt und parteiisch. Ministerpräsident Hun Sen hält dagegen, dass ausländische Richter ebenso zweifelhaft seien. "Die Welt hat den Völkermord geduldet. Zwei UN-Mitglieder haben Pol Pot sogar aktiv unterstützt." Die Front der Argumente verläuft nicht fein säuberlich zwischen Tätern und Opfern. Daher nehmen auch Oppositionelle die Warnungen von Professor Khieu Seng Kim ernst. Er lehnt eine juristische Aufarbeitung ab, weil sie alte Feindschaften auflodern lassen und das Land erneut in einen Bürgerkrieg stürzen könnte. Die Roten Khmer hätten zwar ihre Waffen abgegeben, warnt er, aber nicht ihre Ideologie. Khieu Seng Kim weiß offenbar wovon er spricht. Er ist der Bruder des früheren Staatschefs und Stellvertreter Pol Pots, Khieu Samphan. Der lebt heute unbehelligt, ebenso wie der ehemalige Außenminister Ieng Sary, in der früheren Guerillia-Hochburg Paillin.
Täter sind Opfer und Frontenwechsel ist nicht ungewöhnlich in einem Land, in dem Überleben alltägliche Aufgabe war. Die 55-jährige Ex-Soldatin Thach Piseth und der 50jährige Veteran Cheap Houen sind dafür, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Beide nehmen an einem vom deutschen Bundesentwicklungsministerium finanzierten Demobilisierungsprogramm teil. Denn für so ein kleines Land ist die 140 000 Soldaten starke Armee riesig. Sie verschlingt fast die Hälfte des Budgets.
30 000 Soldaten sollen in den nächsten drei Jahren entwaffnet, umgeschult und resozialisiert werden. Wie die meisten von ihnen, kämpften auch die beiden Ex-Kombattanten zwei Jahrzehnte im Dschungel. Soldatin Thach Piseth zum Schluss im Rang eines Colonels . Mal für die Roten Khmer, mal für die Regierungsarmee. Je nachdem, wer in der Heimatregion gerade das Sagen hatte. Nur so konnten die Armen dem Hunger oder dem Feind entkommen.
"Für mich ist es Zeit nach Hause zu gehen", meint Thach Piseth und es hört sich an, als beende sie die Laufbahn einer Sachbearbeiterin. Veteran Cheap Houen vermisst seine Kampfgenossen. In seinem Dorf, wo er nun wieder Reis anbaut, fühlt er sich ein bisschen einsam. Dafür dass die beiden zum letzten Mal die Front gewechselt haben und wieder zur Armee gehörten, erhielten sie Orden und 240 US-Dollar für ein neues Leben. Die Ex-Rote Khmer-Kämpferin Thach Piseth zieht nun Gemüse und verkauft es auf dem Markt. Auf die Frage, wie es sei, mit den einstigen Feinden zusammen zu leben, hält sie sich die Hand vor den Mund und lacht. Wen interessiere es denn, ob man sich verstehe oder nicht, sagt sie: "Wir müssen nach vorn schauen und unser Land aufbauen."
Aus: Frankfurter Rundschau, 23.10.2000
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