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Spuren der Gewalt

Kambodscha – ein Land nach dem Ende von Krieg und Schreckensherrschaft: Über den Versuch, Opfern von Terror und dessen Folgen zu helfen

Von Roland Platz

Es geht um eine Art von »Krieg nach dem Krieg« – und Chanthol Oung weiß genau, wovon sie spricht. »Fast täglich wurde ich als Anwältin mit Fällen konfrontiert, in denen Frauen Opfer von Gewalt geworden waren«, sagt die 40jährige. Dann erzählt sie davon, wie alles anfing in den neunziger Jahren: Wie sie Zeugin wird, als in ihrer Nachbarschaft ein Ehemann seine Frau und seine zwei Kinder fesselt und verbrennt.

Das war nach den fürchterlichen Jahrzehnten des Krieges, der – mit Unterbrechungen – zwischen 1947 und 1979 und auch noch danach auf kambodschanischem Boden ausgetragen wurde, zunächst von der französischen Kolonialmacht, die ihre Vorherrschaft zurückerobern wollte; dann von deren Nachfolgern aus den Vereinigten Staaten von Amerika und deren Marionetten, die Vietnam in ein Schlachtfeld verwandelten und die Nachbarländer nicht ungeschoren ließen; und schließlich von Kambodschanern selbst, die in Gestalt der »Roten Khmer« von Pol Pot das eigene Volk drangsalierten. Erst mit dem Einmarsch kambodschanisch-vietnamesischer Truppen endeten zwar nicht die Kampfhandlungen, aber doch nach und nach der Terror. Er hatte seine Spuren in die Köpfe der Menschen eingebrannt.

»Natürlich ist der Krieg dafür verantwortlich«, sagt Chanthol Oung, »daß die Gewalt gegen Frauen im heutigen Kambodscha zugenommen hat.« Und ihr wurde klar, daß Hilfe für die Opfer dringend benötigt wurde. 1997 gründete sie in Phnom Penh das Cambodian Women Crisis Center (CWCC). Später kamen noch zwei Zweigstellen in der Provinz hinzu. »Eine von vier Frauen wird in Kambodscha mißhandelt. In der Provinz Banteay Meanchay, wo es ein weiteres Frauenhaus gibt, sind es fast 40 Prozent.« Nach dem Fall der Roten Khmer 1979 folgte ein jahrelanger Bürgerkrieg, der erst in den neunziger Jahren nach der Kapitulation der letzten Guerillaverbände zu Ende ging. Eine ganze Nation – Kambodscha zählt fast 14 Millionen Einwohner – war traumatisiert. »Meine Mutter sprach immer davon, daß früher die Menschen respektvoll miteinander umgegangen sind. Die Roten Khmer haben bewußt die alten Familientraditionen zerstört. Gewalt ist ein Teil unseres Lebens geworden«, so Chantol Oung.

Neunzig Kambodschaner arbeiten mittlerweile für ihre Organisation. Das Projekt wird vom Kinderhilfswerk UNICEF und Terre des Hommes unterstützt. Jährlich suchen fast 2000 Frauen die Zentren auf. Die meisten von ihnen wurden zu Hause geschlagen oder vergewaltigt, andere sind Opfer von Frauenhandel und erzwungener Prostitution. Im Zentrum werden sie medizinisch und rechtlich betreut und können sich beruflich weiterbilden. Chanthol Oung und ihre Mitarbeiter kämpfen auch für strengere Gesetze zum Schutz von Frauen und gehen in die Dörfer, um die Bewohner aufzuklären. Für ihre Arbeit hat Chanthol Oung 2001 den Magsaysay Award gewonnen, in Asien eine Auszeichnung mit ähnlichem Stellenwert wie der Friedensnobelpreis.

Neben dem Hauptbüro, welches als Anlaufstelle dient, gibt es ein versteckt liegendes Gebäude außerhalb des Zentrums von Phnom Penh, in dem bis zu 60 Frauen wohnen. Dort können sie maximal sechs Monate bleiben, bis sie eine neue Perspektive gefunden haben. Das Haus ist von einer hohen Mauer umgeben, es gibt kein Schild am Tor. Kindergeschrei vermittelt Normalität. Einige Bewohnerinnen haben bei der Flucht aus ihrem Elend ihre Kinder mitgebracht. Sie werden unterrichtet, denn noch immer kann fast die Hälfte der weiblichen Bevölkerung Kambodschas weder lesen noch schreiben. In Näh- und Kochkursen sollen die Frauen etwas lernen, um später auf eigenen Beinen stehen zu können, Arbeit zu finden oder ihr eigenes kleines Geschäft zu gründen. Das Frauenzentrum stellt auch Anwälte zur Verfügung. Zudem müssen viele Opfer psychologisch betreut werden.

Gesetz gegen Mißhandlungen

Doch es gibt weitere Hoffnung für mißhandelte Frauen. Sahen früher staatliche Stellen weg, wurden mittlerweile 400 Polizisten geschult, damit sie mit Fällen von häuslicher Gewalt besser umgehen können. In 200 Dörfern wurden freiwillige Helfer ausgebildet, die die Opfer unterstützen sollen. Vor zehn Jahren konnten die Betroffenen nirgendwo hingehen. Zwar werden nicht selten auch heute noch mißhandelte Frauen von den Behörden in der Provinz abgewiesen, die dann auf sich gestellt bleiben oder in die Hauptstadt fahren müssen, doch existiert seit 2005 immerhin ein Gesetz gegen häusliche Gewalt. Auch gegen Pädophile geht der Staat energischer vor. Allerdings ist ein Großteil der Prostituierten unter 18 Jahre; Menschenhändlerringe zwingen Mädchen zur Prostitution. Doch läßt sich mit Geld nicht mehr – wie früher – alles regeln. Das mußten jüngst einige in Kambodscha inhaftierte Ausländer erfahren, die angeklagt wurden, Minderjährige mißbraucht zu haben. Bevorzugte Opfer von Pädophilen sind die Straßenkinder.

Phnom Penh wurde einst »die Perle Südostasiens« genannt. Krieg und Zerstörung setzten der Stadt arg zu. Noch vor zehn Jahren waren die meisten Straßen unasphaltiert – inzwischen hat man den Sisowath Quai entlang des Tonle-Sap-Flusses wieder als Prachtstraße hergerichtet. Fast wähnt man sich in Frankreich, Straßencafés reihen sich einander, Häuser im Kolonialstil wurden wieder restauriert. Allerdings sind die Zeichen der Armut unübersehbar. Seit Jahren wächst die Zahl der Straßenkinder und Bettler. Die Verwaltung läßt sie immer wieder gewaltsam an den Stadtrand verfrachten. Einige der Kinder sind erst fünf oder sechs Jahre alt. Viele werden von ihren Eltern zum Betteln geschickt, andere sind Waisen, und wieder andere sind einfach weggelaufen.

»Krousar Thmey« heißt das Heim für Straßenkinder in Phnom Penh. Spielende Kids empfangen den Besucher schon im Hof. Bei den Kleinsten, gut gekleidet und sauber allesamt, käme man nie auf den Gedanken, daß sie auf der Straße lebten. Hier können maximal 30 Kinder für sechs Monate wohnen. Als ich vor kurzem dort war, waren die jüngsten sechs, die ältesten 17 Jahre alt. Neun Mitarbeiter einschließlich Koch kümmern sich um sie. Man versucht, die Kinder wieder in ihre Familien zu integrieren oder Verwandte zu finden, die sie aufnehmen. Wenn es mißlingt, können sie in dauerhaften Heimen bleiben. Tou Vantha, Projektkoordinator, schätzt, daß im Land etwa 10000 Kinder auf der Straße leben – der größte Teil von ihnen in der Hauptstadt, in Siem Reap unweit des Touristenmagnetes Angkor und in Poipet an der thailändischen Grenze. Dort werden sie von organisierten Banden zum Betteln nach Thailand geschickt.

Wie anderswo auf der Welt auch haben die Straßenkinder ihre Bezirke, die Jüngeren werden oft von den Älteren ausgebeutet. Cheam Kosal, die Leiterin von Krousar Thmey, berichtet von einem 13jährigen Kinderpaar, das ihr neugeborenes Baby für 20 Dollar verkaufte. Trotzdem: Einige der Heranwachsenden haben wieder Fuß gefaßt, Arbeit gefunden und eine Familie gegründet. Ohne die Zuflucht von Krousar Thmey wären sie verloren gewesen.

Wer den Sisowath Quai im Zentrum Phnom Penhs am späten Abend verläßt und in die Seitenstraßen geht, sieht Hunderte von Rikscha-Fahrern, die in ihren häufig schäbigen Fahrzeugen schlafen: Ein anderes Zuhause besitzen sie nicht. Manchmal stapelt sich tagelang der Müll auf den Bürgersteigen, bis er endlich fortgeschafft wird. Wer zum Ufer des Tonle-Sap-Sees fährt, 20 Kilometer vom Touristenzentrum Siem Reap entfernt, wähnt sich in den schlimmsten Armutsregionen der Welt. Nackte Kinder mit aufgeblähtem Bauch vor elenden Hütten spielen an der Staubstraße. Das war vor sieben Jahren so, und das ist so geblieben.

In Siem Reap selbst entstehen fast täglich neue Hotels vor allem in den Außenbezirken der Stadt. Wirtschaftlich wird Kambodscha von etwa 20 Unternehmen, häufig in Familienbesitz, weitgehend beherrscht. Eine der großen Firmen ist Mobitel, die den Telekommunikationsmarkt dominiert. Sokimex, die wichtigste Mineralölfirma Kambodschas, vermarktet die Eintrittskarten für das Tempelgelände von Angkor und erwirtschaftet einige Millionen Dollar Gewinn im Jahr. Neben internationalen Einflüssen dominiert eine Oligarchie aus Militärs, Polizei und eine Wirtschaftsnomenklatura. Eine korrupte Elite bemüht sich nicht gerade, die breite Masse an ihren Einkünften teilhaben zu lassen.

Ungelöste Landfrage

Einen Lichtblick im Dunkel diverser Machenschaften bildet sicherlich das 2002 vom ehemaligen Parlamentsabgeordneten Kem Sokha gegründete Kambodschanische Menschenrechtszentrum (CHRC), das das »Bewußtsein für Demokratie und Menschenrechte schärfen« will. Es verfügt über ein Hauptbüro in Phnom Penh und noch sieben Regionalbüros, betreibt ein Bildungs- und ein Radioprogramm. Andreas Salmici, ein Schweizer im Dienste des Deutschen Entwicklungsdienstes, arbeitet in der Zentrale in der Hauptstadt. Er ist für das Radioprogramm verantwortlich, das Millionen Hörer erreicht. Nahezu 100 Prozent der Sendungen sind inhaltliche Beiträge ohne musikalisches Beiwerk. Auf regelmäßig durchgeführten öffentlichen Foren zu bestimmten Themen können Bürger Probleme vortragen.

Salmici berichtet von einer Frau, die von ihrem Land vertrieben wurde. Vorn auf dem Podium sitzt der dafür verantwortliche Regierungsvertreter. Die Hörer sind live dabei. Salmici hebt hervor, daß die Menschen in Kambodscha ein echtes Interesse an Politik haben. Dabei spielt die Landfrage häufig eine herausragende Rolle. Sie ist nicht geklärt. Die meisten Bauern haben keine eingetragenen Landrechte. Früher gehörte das Land dem König, später dem Staat. Solange es genug Land gab, konnten die Bauern Nutzungsrechte beanspruchen. Heute entscheidet meist der Einfluß und das Geld. Wer ein großes Hotel in Sihanoukville, dem Badeort am Südchinesischen Meer, bauen möchte, wird das Bauland dann bekommen, wenn er über das nötige Kapital verfügt – unabhängig davon, wer derzeit auf dem Land lebt.

»Andauernde Tragödie«

Die Traumata der jüngsten Geschichte Kambodschas lasten immer noch auf dem Land. Es gibt kaum eine Familie, die keine Opfer zu beklagen hatte. Eine Aufarbeitung der von den Roten Khmer begangenen Verbrechen ist allenfalls rudimentär erfolgt. Die Psyche der Menschen ist häufig schwer beschädigt, und es gibt zuwenige medizinische Fachleute. Darin liegt ein wesentlicher Grund für die latent existierende Gewalt im Lande, auch die gegen Frauen und Kinder.

Die »andauernde Tragik« bestehe darin, so der auf Südostasien spezialisierte deutsche Autor Rainer Werning, daß »die zahlreichen Opfer des Terrors bis heute mit vielen Tätern und noch immer Mächtigen zusammenleben müssen«. Erst am 4. Oktober 2004 billigte die Nationalversammlung in Phnom Penh die Einrichtung eines UN-Tribunals, vor dem sich die Führungskader der Roten Khmer für die etwa 1,7 Millionen Opfer ihrer Gewaltherrschaft verantworten sollen. Grund für diese Verzögerung waren in- sowie externe Machtinteressen, die sich gegen ein Tribunal richteten. Ministerpräsident Hun Sen, seit 1979 der starke Mann in Phnom Penh, ist selbst ein Ex-Roter-Khmer, und Länder wie China, die USA und Thailand sind wenig daran interessiert, daß in einem langen Prozeß – Experten veranschlagen eine dreijährige Dauer des Tribunals – auch ihre Rolle im Kambodscha unter den Roten Khmer zur Sprache kommt und erhellt wird. Denn »wer über den Pol-Potismus redet und richtet, darf die Verstrickung imperialer Mächte und ihre eigennützigen Interessen in Kambodscha nicht verschweigen«, so Werning.

In diesem Jahr soll das Tribunal endlich seine Arbeit aufnehmen. Die Richterstellen werden paritätisch besetzt sein, also jeweils zur Hälfte von kambodschanischen und von ausländischen Richtern. Nur sehr wenige Täter kamen bisher in Haft, darunter Ta Mok und Kang Khek Jeu alias Duch, der Leiter des Folterzentrums Tuol Sleng. Ta Mok starb 2006 im Gefängnis. Alle wichtigen noch lebenden Führer der Roten Khmer sind auf freiem Fuß. Ieng Sary, ehemaliger Außenminster, Schwager Pol Pots und »Bruder Nummer 3«, lebt in seiner Villa in Phnom Penh oder in Pailin. Khieu Sampan, ehemaliger Staatspräsident und ­Nuon Chea, »Bruder Nummer 2«, genießen ein respektables Leben im Ruhestand in Pailin. Ieng Sary ergab sich 1996, nachdem ihm eine königliche Amnestie gewährt wurde. Hun Sen hat bisher alle Versuche, Ieng Sary zur Rechenschaft zu ziehen, mit dem Hinweis zurückgewiesen, daß damit der Frieden gefährdet werde.

Phnom Penh war noch in den Achtzigern eine Geisterstadt. Bis heute bleibt Gewalt in der Gesellschaft auf der Tagesordnung, die Wirtschaft ist trotz beachtlicher Wachstumsraten fragil, einzig der Tourismus boomt. Gerade weil sich der Aufbau neuer, friedlicher Zusammenhänge in Kambodscha so schwierig gestaltet, ist die Arbeit in den Projekten, in denen den Opfern der Gewalt geholfen werden soll, so wichtig. Die Idealisten, wie Chanthol Oung, können einige Erfolge aufweisen. Das macht Hoffnung.

* Aus: junge Welt, 10. Februar 2007 (Wochenendbeilage)


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