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Physiker als "Friedens"-Forscher

In Allaan (Jordanien) entsteht ein Forschungszentrum, für dessen Arbeit der Nahostkonflikt offenbar außer Kraft gesetzt ist

Von Frank Odenthal *

In Jordanien entsteht ein internationales Zentrum für Materialforschung. Dort arbeiten Länder zusammen, die sonst kaum miteinander reden: die Türkei, Israel, Ägypten und Iran.

Die Inschrift über dem mächtigen Portal lautet »SESAME - International Research Center«. Das Akronym steht für »Synchrotron Light for Experimental Science and Applications in the Middle East«. Hier, nahe der jordanischen Hauptstadt Amman, wird ein Teilchenbeschleuniger gebaut, eine Quelle für Synchrotronstrahlen, wie sie in vielen Industrie- und auch in einigen Schwellenländern betrieben werden.

SESAME ist der erste seiner Art im Nahen und Mittleren Osten. Oder genauer: Er soll der erste werden, denn bis zum Betriebsbeginn gilt es noch viele Hürden zu überwinden. Die Idee eines Teilchenbeschleunigers in dieser Gegend kommt aus Europa. Als man 1997 in Deutschland beschloss, die in Berlin betriebene Synchrotronanlage »Bessy 1« durch eine leistungsstärkere Anlage zu ersetzen, setzten sich der ehemaliger Generaldirektor der Europäischen Organisation für Kernforschung, Herwig Schopper, sowie Gus Voss vom Deutschen Elektronensynchrotron in Hamburg dafür ein, dass sich die Bundesregierung zu einer Schenkung des Bessy-1-Moduls - ein Aggregat mit einem geschätzten Wert von damals 60 Millionen Dollar - als Basis für einen Beschleuniger im Nahen Osten bereit erklärte.

Israelis arbeiten mit Palästinensern

Im Mai 2002 beschloss der Exe᠆kutivausschuss der UNESCO, unter deren Schirmherrschaft das Vorhaben steht, den Baubeginn des SESAME-Centers in Allaan, 30 Kilometer nordwestlich von Amman. Noch im selben Jahr wurde das Bessy-1-Modul in den Nahen Osten verschifft. Bislang strahlen in der weiten, hellen Halle allerdings nur die Neonröhren von der Decke. Gerade ein Drittel der Anlage sei montiert, sagt der Teilchenphysiker Mohammed Yasser Khalil, Geschäftsführer des Projekts. Bessy 1 sei ein Glücksfall, doch müsse man die Module modernisieren, wenn man später konkurrenzfähig sein wolle. 2015 solle SESAME in Betrieb genommen werden.

Schon einmal musste der Beginn verschoben werden, weil der Zeitplan nicht zu halten war. Dabei wurde das Vorhaben von Beginn an von vielen Organisationen und Instituten aus aller Welt unterstützt. Neben dem Bessy-1-Modul wurden weitere Bestandteile für den neuen Beschleuniger gespendet, allein das Daresbury Laboratory in Großbritannien stiftete Komponenten im Wert von gut 12 Millionen Dollar. Hinzu kamen Beiträge der UNESCO, der EU und der USA.

Maher Attal von der nahe gelegenen Al-Balqa-Universität von Amman leitet den Einbau der Instrumente. »Mit der Synchrotronstrahlung«, sagt er, »können wir Materialstrukturen viel genauer erkunden als mit herkömmlichen Mikroskopen.« Die Anwendungen reichen von der Molekularbiologie und Medizin, der Chemie und Physik, über Materialforschung bis hin zum Energiesektor, etwa bei der Entwicklung effizienterer Solarmodule. »Sogar in der Archäologie kann Synchrotronstrahlung hilfreich sein, etwa bei der Altersbestimmung prähistorischer Funde.« Interdisziplinär soll es zugehen bei SESAME, und international. »Die Teams werden gemischt sein, Israelis werden mit Palästinensern, Türken mit (griechischen) Zyprioten, Iraner mit Pakistanern zusammenarbeiten«, sagt Attal.

Auf der anderen Seite des Jordans, in Rehovot (Israel), befindet sich das Weizmann-Institut. Hier hat Irit Sagi einen Lehrstuhl für Molekulare Biophysik inne. Über das Projekt, sagt sie, könne sie nur Positives berichten. »Bislang mussten wir regelmäßig in die USA oder nach Frankreich reisen, um unsere Forschungen voranzubringen.« Eine Quelle für Synchrotronstrahlen vor Ort zu haben, sei daher einfach wunderbar. »In all den Jahren seit Beginn der Bauarbeiten hat es nie Probleme mit den Kollegen aus anderen Ländern gegeben.« Auch nicht mit der palästinensischen Delegation, ergänzt sie, als wolle sie der Nachfrage vorgreifen.

»Zwar wurden wir anfangs am Grenzübergang nach Jordanien mit Argusaugen beobachtet, unsere Papiere mit großer Hingabe kontrolliert und unser Gepäck durchleuchtet.« Doch das habe sich inzwischen gelegt. Die Visa werden von den jordanischen Behörden inzwischen pünktlich und anstandslos erteilt.

In Shafa Badran, einem der neuen Stadtteile im Nordosten Ammans, hat Khaled Toukan, der Generaldirektor von SESAME, sein Büro bezogen. Er hat in den USA Kernenergietechnik studiert. Seit 2011 ist er Minister für Energie und Bodenschätze. Inzwischen hat Toukan neben der Leitung des SESAME-Vorhabens auch den Vorsitz der Jordanischen Atomenergiekommission inne. Die erste Frage scheint sich daher wie von selbst zu stellen: Ist der neue Teilchenbeschleuniger auch zur Entwicklung von Nukleartechnik geeignet?

»Sie wollen wissen, ob wir eine Atombombe bauen wollen?« Toukan lacht schallend, sozusagen entwaffnend. »Da kann ich Sie beruhigen. Neue Erkenntnisse zur Nutzung von Kerntechnik sind bei SESAME nicht zu erwarten.« Es sei schade, ergänzt er, dass jeder zunächst an eine missbräuchliche Nutzung der Anlage denke, sobald er von dem Projekt und den teilnehmenden Staaten höre. »Wir haben eindeutige Statuten. Jeder, der die Anlage nutzen möchte, muss seine Pläne erläutern. Militärische Forschung ist von vornherein ausgeschlossen.«

Außerdem gebe es die Pflicht zur Veröffentlichung. Jedes Forscherteam müsse die Protokolle und die Ergebnisse seiner Arbeit offenlegen; so könne die gesamte wissenschaftliche Welt die Forschung bei SESAME einsehen und überwachen. »Doch bis 2015 gibt es noch einige Hindernisse zu überwinden«, ergänzt Toukan. Vor allem die Finanzierung sei pro᠆blematisch. Ursprünglich erwartete man jährliche Unterhaltskosten von einer Million Dollar, sobald die Anlage in Betrieb geht. Inzwischen rechne man mit bis zu fünf Millionen Dollar pro Jahr.

Trotzdem sei er zuversichtlich, das fehlende Geld zusammenzubekommen. Allein die Türkei und Israel haben im Zeitraum von 1999 bis 2009 823 Millionen bzw. 793 Millionen Dollar zum Budget des Projekts beigetragen. Es folgen Ägypten mit 555 Millionen und Iran mit 500 Millionen Dollar. Doch die hohen Beiträge ebendieser Staaten sind es, die sich als die Schwachpunkte erweisen könnten. Welche Folgen hätte es, würde die Türkei oder ein anderer zahlungskräftiger Mitgliedsstaat seine Beiträge einfrieren mit dem Verweis auf geänderte politische Bedingungen?

Gerade diese Region braucht Ideen wie SESAME

Toukan jedenfalls bleibt optimistisch. »Wir haben die Golfkriege und die zweite Intifada überstanden, ohne dass sich am Willen der Staaten zur gemeinsamen Forschung etwas geändert hätte. Immer waren es die Wissenschaftsgemeinden in den Ländern, die auf eine Zusammenarbeit gedrungen haben.« Doch was wäre, wenn es sogar zum Krieg unter den Mitgliedsstaaten käme, etwa zwischen Israel und Iran?

Es sind solche Prognosen, die das Projekt als tollkühnes Unterfangen und Toukans sympathischen Optimismus als blauäugig erscheinen lassen. Wer in Zeiten der Rebellion in vielen arabischen Staaten, der Eskalation zwischen Israel und Iran von einer freundschaftlichen Partnerschaft aller Länder der Region erzählt, läuft Gefahr, als Utopist verlacht zu werden. Vielleicht braucht die Region aber gerade solche Ideen wie SESAME, damit die Menschen zueinander finden.

* Aus: neues deutschland, 01.02.2012


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