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Jemen: eine "Revolution" im Wartestand

Von Lutz Rogler *

Auch der Jemen wurde Anfang 2011 von „revolutionärem“ Protest und Euphorie erfasst. Wie anderswo in der Region ging es um den Sturz eines Jahrzehnte lang herrschenden Autokraten, der sein Land mit einem von Nepotismus, Korruption und Repression getragenen Regime in eine umfassende politische und gesellschaftliche Krise geführt hatte. Der autokratische Präsident ist gegangen; die politische und gesellschaftliche Krise ist geblieben.

Am vergangenen 18. März demonstrierten Zehntausende von Jemeniten, vor allem in der Hauptstadt Sanaa, um an das "Massaker am Freitag der Würde" ein Jahr zuvor zu erinnern, das einen Wendepunkt in der jemenitischen "Revolution der Jugend" einleitete: An jenem Tag wurden in Sanaa von Scharfschützen fast 60 friedliche Demonstranten gegen das Regime von Präsident Ali Abdallah Salih getötet. Während letzterer jegliche Verantwortung für diesen Gewaltakt leugnete, brachte das Geschehen damals eine große Zahl von politischen Kräften und insbesondere die Parteien der etablierten Opposition dazu, sich nunmehr der Protestbewegung und ihrer Forderung nach einem Rücktritt Salihs ausdrücklich anzuschließen.

Was sich im Verlaufe weniger Wochen zur jemenitischen "Revolution" entwickelte, hatte im Januar 2011 unter dem Eindruck der Ereignisse in Tunesien und Ägypten mit Protestaktionen vor allem junger Aktivisten begonnen und vor dem Hintergrund des Rücktritts von Präsident Mubarak in Ägypten am 11. Februar einen ersten Höhepunkt erreicht. Im Jemen wird daher zuweilen auch von der "Revolution des 11. Februar" gesprochen. In der Folgezeit breitete sich bei den zahllosen Sit-ins und Demonstrationen, vor allem an den Tagen des Freitagsgebets, in weiten Teilen des Landes auch schnell die zentrale Forderung der Bewegungen in Tunesien und Ägypten aus: Sturz des Regimes, Abtritt des autokratischen Herrschers.

Entgegen der ebenfalls von den tunesischen und ägyptischen Entwicklungen genährten Erwartung, Ali Abdallah Salih würde sich letztlich schnell der Erhebung der Massen beugen und seine Macht abgeben müssen, sollte allerdings die Durchsetzung der Hauptforderung der „revolutionären“ Kräfte im Jemen ein monatelanges zähes und opferreiches Ringen erfordern: Obwohl sich die Kräfteverhältnisse ab März zunehmend zu seinen Ungunsten entwickelten, erreichte Salih einerseits durch die anhaltende Repression, andererseits durch das ihm gewohnte Manövrieren und Taktieren, dass die Entscheidung über das Ende seiner seit 1978 bestehenden Herrschaft erst im November erfolgte.

Bei der Entscheidung handelte es sich schließlich um eine lange verhandelte "politische Lösung", die auf eine Initiative des Golfkooperationsrats im April 2011 zurückging: Nachdem sich im Frühjahr Teile der jemenitischen Armee und der Stämme, darunter vor allem der Stammesverband der Hashid unter Führung der al-Ahmar-Familie, gegen Salih und seine Anhänger gestellt hatten und in diesem Kontext das Ausmaß der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen wesentlichen Konfliktparteien weiter zuzunehmen drohte, strebten die Golfstaaten unter Federführung Saudi-Arabiens danach, eine "militärische" Lösung der "Krise" im Jemen durch die Aushandlung eines politischen Auswegs zu vermeiden. Während die meisten „revolutionären“ Aktivisten darauf beharrten, dass Salih bedingungslos zurücktreten und zur Verantwortung gezogen werden sollte, bestand die sogenannte "Golfinitiative" im Kern darin, Salih einen "geordneten Rückzug" zu ermöglichen, indem ihm und seinem Machtnetzwerk Straffreiheit zugesichert werden sollten. Mittlerweile wird dieses Arrangement, vor allem im Hinblick auf die Auseinandersetzungen in Syrien, auch als "jemenitische Lösung" des Machtwechsels bezeichnet.

Dass Salih nach langem Taktieren letztlich die "Golfinitiative" akzeptierte, dürfte eher mit dem regionalen und internationalen Druck zu tun haben, denn mit einem einsichtigen Nachgeben gegenüber seinen Widersachern im eigenen Land. Dass die "politische Lösung" zustande kam, verdankt sich im Übrigen auf der anderen Seite den Führern der etablierten jemenitischen Oppositionsparteien, die sich seit 2002 in einer Allianz (al-Liqa' al-mushtarak) befinden. Diese beiden Seiten, Salih und seine Regierungspartei Allgemeiner Volkskongress (AVK) und das Parteienbündnis Liqa' unterzeichneten am 23. November in der saudischen Hauptstadt Riad schließlich jene Vereinbarung, die unter dem Label "Golfinitiative" den inhaltlichen und zeitlichen Kompromiss über die Modalitäten eines Machtwechsels im Jemen und die Etappen einer Übergangsperiode zur Neugestaltung der politischen Verhältnisse im Land beinhaltet.

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Im Hinblick auf die Gestaltung der formalen politischen Machtverhältnisse folgten die Entwicklungen der letzten Monate tatsächlich den Vorgaben dieses Kompromisses: Während Salih zunächst für eine Übergangszeit von 90 Tagen „Ehrenpräsident“ blieb, wurden die präsidialen Machtbefugnisse durch den langjährigen Vizepräsidenten Abdrabuh Mansur Hadi wahrgenommen. Letzterer setzte noch Ende November vorzeitige Präsidentschaftswahlen für den 21. Februar 2012 an und beauftragte den Oppositionspolitiker Muhammad Salim Basindwa mit der Bildung einer provisorischen "Regierung der nationalen Eintracht", die zu gleichen Teilen aus Vertretern der Regierungspartei und der Opposition bestehen sollte. Nach tagelangem Tauziehen zwischen beiden Seiten wurde diese Regierung mit 34 Ministern schließlich am 7. Dezember offiziell vorgestellt.

Trotz vorangegangener kontroverser Debatten stimmte das jemenitische Parlament, dessen Zusammensetzung auf die letzte Wahl von 2003 zurückgeht, sodann am 22. Januar 2012 einem Gesetz zu, welches Salih volle Immunität gewährt und seine Getreuen im Staatsapparat, in der Armee und im Sicherheitsapparat vor der Verfolgung durch die Justiz für während der Amtszeit Salihs begangener und politisch motivierter Straftaten schützt. In derselben Parlamentssitzung schlugen die Abgeordneten sowohl der Regierungspartei als auch der Oppositionsparteien Abdrabuh Mansur Hadi als „einzigen Kandidaten“ für die Präsidentschaftswahlen am 21. Februar vor. Als nationaler „Konsenskandidat“ und ohne Gegenkandidat erhielt Hadi bei diesem Wahlgang dann auch dem offiziellen Ergebnis zufolge 99,8 % der abgegebenen Stimmen, bei einer Wahlbeteiligung von etwa 60 %. Bereits am 26. Februar gab Hadi vor dem Parlament seinen Amtseid ab. Am Tag darauf „übergab“ Ali Salih in einer ebenso offiziellen wie in der jemenitischen Gesetzgebung überhaupt nicht vorgesehenen Zeremonie seinem Nachfolger Hadi „die Macht“ in Gestalt einer jemenitischen Nationalflagge... Damit war der erste Teil der in der „Golfinitiative“ vorgesehenen Schritte zum friedlichen Machtwechsel im Land tatsächlich formal abgeschlossen und die zweite Etappe, die eine zweijährige Übergangszeit der politischen Reform mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung, einem Verfassungsreferendum sowie anschließende Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vorsieht, eingeleitet.

Die regional vorgeschlagene und international unterstützte Kompromisslösung in Gestalt der „Golfinitiative“ wurde gleichwohl von großen Teilen der Protestbewegung über Monate hinweg abgelehnt, und auch nach ihrer Unterzeichnung und dem Beginn ihrer Umsetzung gab es in Sanaa und anderen Städten eine Reihe von Protestaktionen gegen diese Art des „Übergangs“. Ein Höhepunkt war der Fußmarsch, den mehrere Tausend Ende Dezember in Taiz, einer Hochburg der „revolutionären“ Proteste, in das 270 km entfernte Sanaa begannen, um ihre Ablehnung der für Salih vorgesehenen Immunität zu bekunden und die Strafverfolgung für all jene zu fordern, die für die blutige Repression der friedlichen Demonstrationen seit Januar 2011 Verantwortung tragen. Als der Demonstrationszug am 25. 12. die Hauptstadt erreichte, eröffneten Sicherheitskräfte das Feuer und töteten mehr als ein Dutzend Protestierende. Auch in den darauf folgenden Wochen gab es, trotz aller Aufrufe zur „Beruhigung“ seitens der Regierung und des amtierenden Präsidenten, weitere Proteste und auch weitere Tote und Verletzte.

Alt und alt-neu

Zugleich verdichtete sich unter der „Revolutionsjugend“ und zahlreichen Aktivisten das mangelnde Vertrauen in eine gemeinsame Regierung von Vertretern des alten Regimes und der etablierten Oppositionsparteien zu der zunehmend verbreiteten Befürchtung, das alte undemokratische, von Stammes- und Parteiloyalitäten beherrschte Regime würde nun auch ohne Salih mehr oder minder reproduziert und die weiter reichenden Ziele der „Revolution“, symbolisiert in der Losung von einem „neuen Jemen“ oder einem „modernen Jemen“, bereits in der Übergangsperiode geopfert. In der Sicht jener, die daher die „Revolution“ im Zustand einer „Stagnation“ oder gar eines „Scheitern“ sahen, war insbesondere die Präsidentschaftswahl eine „Farce“, mit der die demokratischen Hoffnungen der Protestbewegung letztlich zu Grabe getragen wurden. Hinzu kam im Weiteren die Tatsache, dass die im Rahmen der „Golfinitiative“ vorgesehene Restrukturierung der Armee und der Sicherheitsapparate auch nach der Wahl kaum in Gang kam und namentlich die Söhne und Verwandten von Ex-Präsident Salih bisher weiter auf ihren Kommandoposten in diesen Bereichen blieben.

Die neue Regierung, namentlich der Premierminister Basindwa, aber auch führende Politiker der ehemaligen Oppositionsparteien haben in den vergangenen Monaten zwar unablässig ihren Willen zur Reform des politischen Systems im Sinne der Forderungen der „Revolution“ betont und insbesondere die Präsidentschaftswahl als „Wendepunkt“ für den Aufbau eines modernen zivilen Staates hingestellt. Was die tatsächlichen politischen Machtverhältnisse angeht, so ist das Land indes von einer tiefgreifenden oder gar radikalen Umgestaltung der staatlichen Strukturen und politischen Kräfteverhältnisse noch weit entfernt. Niemand konnte das deutlicher zeigen als Ex-Präsident Salih selbst, der entgegen mancher Erwartung oder Hoffnung nicht nur im Land geblieben ist, sondern nunmehr in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Allgemeinen Volkskongresses erneut Einfluss auf die politischen Entscheidungen der Übergangsperiode nehmen will. Wenige Tage nach der Machtübergabe an den neuen Präsidenten Hadi, der im Übrigen auch immer noch Generalsekretär des AVK ist, begann Salih offen die Regierung als „schwach“ und „gescheitert“ zu kritisieren. Als Premier Basindwa am 18. März das Regime Salihs für das Massaker am „Freitag der Würde“ im Jahr zuvor verantwortlich machte, drohte Salih offenbar mit dem „Rückzug“ der AVK-Minister aus der Regierung der nationalen „Eintracht“. Dieser Streit wurde hinter den Kulissen anscheinend durch ein Machtwort des neuen Präsidenten vorerst beendet, gleichwohl kann er als Hinweis auf die Labilität der politischen Konstellation gelten, wie sie durch die Kompromisslösung der „Golfinitiative“ entstanden ist. Hinzu kommt, dass das komplexe Geflecht aus politischen, tribalen und persönlichen Beziehungen und Interessen nebst ihrer wirtschaftlichen Implikationen, welches in den Jahrzehnten des Salih-Regimes gewachsen ist und immer wieder zu wechselnden Koalitionen und Konflikten zwischen verschiedenen Machtzentren – namentlich im Staatsapparat, in der Armee und den Sicherheitskräften – geführt hat, bislang kaum angetastet worden ist. Zugleich hat die Perspektive einer kommenden politischen Neuordnung auch die Konkurrenz zwischen den bisher im Liqa’ verbündeten Oppositionsparteien, insbesondere der islamistischen Islah-Partei und der Sozialistischen Partei, wieder verstärkt und ihrerseits die Anfälligkeit der „nationalen Eintracht“ für Divergenzen und Konflikte im Hinblick auf zentrale Probleme des Landes erhöht.

Dass die „revolutionäre“ Protestbewegung gegenwärtig kaum noch als eigenständiger und halbwegs homogener Akteur auftritt, hat überwiegend damit zu tun, dass im Verlauf der Massenproteste im vergangenen Jahr zunehmend Mitglieder und Anhänger der etablierten Oppositionsparteien, allen voran Islah und Sozialisten, aber auch zahlreiche ehemalige Mitglieder des AVK die Mobilisierung der Massen und die Organisation der Demonstrationen dominierten. Solange die Hauptforderung der Bewegung darin bestand, Salih und seine „Clique“ von der Macht im Staat zu verdrängen, vermochte das gemeinsame Ziel ein höchst heterogenes politisches Spektrum von unabhängigen, der Zivilgesellschaft entstammenden Aktivisten und den Anhängern sehr unterschiedlicher politischer Kräfte vereinen und zeitweise das zwischen dieses Kräften seit langem bestehende Verhältnis von Misstrauen, Konkurrenz und Gegnerschaft in den Hintergrund treten lassen. Während die Ablehnung einer Immunität für Salih in der „Golfinitiative“ auch noch von der Basis der etablierten Oppositionsparteien geteilt und artikuliert wurde, ergab sich spätestens in der Haltung zur Präsidentschaftswahl im Februar eine deutliche Kluft zwischen den parteiunabhängigen Akteuren und jenen, die sich in Loyalitäts- bzw. Abhängigkeitsbeziehungen zu ihren jeweiligen Parteien befinden.

Die Demonstrationen am 18. März diesen Jahres verweisen dennoch darauf, dass zentrale Forderungen der Protestbewegung nach wie vor dazu angetan sind, eine große Zahl von Menschen zu mobilisieren und zumindest im öffentlichen Bewusstsein den Gegensatz zwischen „revolutionärem“ Anspruch und politischer Realität präsent zu halten. Zu den signifikanten Entwicklungen in dieser Hinsicht gehören auch die seit Dezember vor allem in den größeren Städten laufenden Aktionen, unter der Losung einer „Revolution der Institutionen“ auf lokaler Ebene durch Korruption und Willkür diskreditierte Vertreter des alten Regimes in den verschiedensten Einrichtungen von ihren Posten zu verdrängen sowie Ungerechtigkeiten und Missstände aller Art anzuprangern. Wenn über ein Jahr nach Beginn der Proteste im Land dennoch nicht nur die „revolutionäre“ Euphorie, sondern auch das Ausmaß der Mobilisierung deutlich abgenommen haben, so hängt dies nicht nur mit den politischen Entwicklungen auf der staatlichen Ebene und der Heterogenität der oppositionellen Akteure zusammen. Für große Teile der Bevölkerung kommt vielmehr eine Dimension zum Tragen, auf die in besonders alarmierender Weise Mitte März ein Bericht des UN-Welternährungsprogramms aufmerksam gemacht hat, wonach mittlerweile geschätzt ein Fünftel der Jemeniten an Hunger und Nahrungsmangel leiden und dringend Nahrungsmittelhilfe benötigen. Die desolate wirtschaftliche und soziale Situation des Jemens hat sich infolge der anhaltenden Protestaktionen und gewaltsamen Auseinandersetzungen der vergangenen Monate in vielen Teilen des Landes weiter in dramatischer Weise zugespitzt.

Konflikte und Probleme

In diesem Zusammenhang spielen auch die zwei bewaffneten Konflikte eine zentrale Rolle, welche während der monatelangen Proteste gegen das Salih-Regime zeitweise etwas aus dem Blick geraten sind, die aber gerade in den letzten sechs Monaten wieder an Schärfe zugenommen haben: zum einen der Konflikt mit der zaiditischen Huthi-Bewegung im Norden (insbesondere im Gouvernorat Sa’ada), in den Teile der Armee, tribale Verbände und salafistische Kräfte involviert sind; zum anderen die mit großer Waffengewalt geführte Auseinandersetzung mit den insbesondere im Süden des Landes (vor allem im Gouvernorat Abyan) agierenden und expandierenden Gruppierungen, die im Namen von al-Qa’ida auftreten oder mit ihr in Verbindung stehen sollen. Die Kämpfe zwischen Armeeeinheiten und al-Qa’ida (bzw. einer Ansar ash-shari’a genannten Gruppe) haben gerade in den Wochen nach der Präsidentschaftswahl ein bisher nicht erreichtes Ausmaß an Opfern und Zerstörung nach sich gezogen. Während im Ausland, freilich vor allem in den USA, aber auch in Saudi-Arabien, die Expansion von al-Qa’ida im Fokus aller Besorgnis über die Entwicklung Jemens steht, hat die Eskalation dieses Konflikts im Land selbst wieder allerlei Spekulationen und Kontroversen über dessen politische Hintergründe bzw. über eventuell Strippen ziehende Hintermänner im politischen und militärischen Establishment genährt. Die Kämpfe in beiden Konfliktgebieten, in besonders starkem Maße allerdings in Abyan, haben in den letzten Monaten zehntausende Menschen zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht, die zudem – vor allem in der südlichen Hafenstadt Aden – zu jener großen Zahl von Flüchtlingen kommen, die in der jüngerenVergangenheit bereits aus Somalia in den Jemen geflohen sind.

Ein weiteres zentrales Problem der jemenitischen Gegenwart und Zukunft ist ebenfalls durch die „revolutionären“ Geschehnisse im Verlaufe des vergangenen Jahres zeitweilig in den Hintergrund gedrängt worden, um jedoch spätestens mit der Präsidentschaftswahl wieder zu einem drängenden politischen Thema zu werden: der Umgang mit dem „Problem des Südens“ und die zukünftige staatliche Verfasstheit Jemens. Die staatliche Einheit des ehemaligen Nordens mit dem Süden, 1990 im Einvernehmen der damaligen politischen Führungen beider Länder beschlossen und 1994 in einem „Bürgerkrieg“ durch das Salih-Regime blutig zementiert, wurde seit 2007 zunehmend wieder durch die „Bewegung des Südens“ kritisiert bzw. in Frage gestellt. Wenn auch bis in die Gegenwart unter keiner einheitlichen Führung und in keiner gemeinsamen Organisation, ohne Konsens über die anzustrebende Lösung des „Südproblems“ und auch ideologisch heterogen, hat die „Bewegung des Südens“ (al-harâk al-janûbî, lokal kurz „al-Hirâk“) als politische Protestbewegung in den Regionen der ehemaligen Volksdemokratischen Republik Jemen in den vergangenen Jahren trotz (und auch aufgrund) der staatlichen Repression stetig an Zulauf gewonnen und die durch den Vereinigungsprozess entstandenen Probleme erneut auf die politische Tagesordnung bringen können. Obwohl auch zwischen einzelnen Regionen im Süden deutliche Unterschiede unverkennbar sind und die Repräsentativität einzelner Strömungen in der Bewegung unklar bleibt, hatte offensichtlich am Vorabend der „Revolution des 11. Februar“ die Forderung nach einer Loslösung des Südens und nach einer Wiederherstellung seiner staatlichen Unabhängigkeit eindeutig an Popularität gewonnen. Bei den – zumeist friedlichen – Protestaktionen der Bewegung dominierten jedenfalls 2010 die Fahnen des ehemaligen Südens und die Forderungen nach einer „Befreiung von der Besetzung durch den Norden“ das Bild, wenn auch von einzelnen Hirâk-Führern weiterhin die Option eines künftigen föderalen Einheitsstaates von Norden und Süden vertreten wurde.

Von der „Revolution“ eher überrascht und daher zunächst zögerlich, beteiligten sich die meisten Organisationen und Strömungen des Hirâk dann aber überwiegend an den Protesten der „revolutionären“ Bewegung und deren Organisationsforen. Auch hier bot die Hauptforderung, der Sturz des Salih-Regimes, die Grundlage für einen temporären Konsens und die vorübergehende Zurückstellung der spezifischen Forderungen des Südens. Eine Zeit lang verschwanden sogar die Fahnen des ehemaligen Südjemens bei den Demonstrationen. Im Laufe des Jahres 2011 gewannen jedoch auch die Dissonanzen und Divergenzen wieder das Verhältnis zwischen der Protestbewegung im Norden und dem Hirâk im Süden zu bestimmen. Zum einen ging es dabei um die in den Diskussionsforen der Protestbewegung entwickelten Vorstellungen um die politischen Prioritäten nach dem Sturz Salihs, wo sich kein Konsens über den künftigen Stellenwert der „Südfrage“ ergab. Zum anderen machten die Verfechter einer Loslösung des Südens, vor allem unter den Hirâk-Führern im Exil, geltend, dass die „Revolution“ eine Sache des Nordens sei und ein Sturz des Salih-Regimes allenfalls die Chance böte, mit einer neuen Regierung im Norden die Modalitäten der staatlichen Trennung zu verhandeln. Ende 2011 dominierten bei zahlreichen Demonstrationen in den Städten des Südens, allen voran Aden und Mukalla, jedenfalls schon wieder die Fahnen des Südens. Zur ersten offenen Auseinandersetzung mit der neuen Übergangsmacht in Sanaa kam es dann im Kontext der Präsidentschaftswahl: Die wichtigsten Organisationen des Hirâk riefen zum Wahlboykott auf, um dem Wahlgang den Charakter eines „Referendums“ gegen die staatliche Einheit zu geben. Die Wahlbeteiligung im Süden war daraufhin deutlich geringer als im Landesdurchschnitt; die an der neuen Regierung beteiligten Parteien beschuldigten Kräfte des Hirâk, den Boykott in einigen Regionen teilweise mit Waffengewalt erzwungen zu haben.

Nach über zwanzig Jahren der staatlichen Einheit ist die „Südfrage“ indes in zahlreichen, nicht zuletzt demografischen Details ein derart komplexes Problem, dass selbst energische Vertreter des „Selbstbestimmungsrechts“ des Südens die Option einer baldigen, übergangslosen Loslösung nicht ernsthaft ins Auge fassen können. Während daher neben der Option einer zukünftig dauerhaften föderalen Struktur des jemenitischen Staates auch jene einer mehrjährigen föderalen Übergangszeit, an deren Ende ein Referendum über die zukünftige Verfasstheit des Staates steht, in der Diskussion bleibt, gibt es insbesondere im Norden nach wie vor ausgesprochene Gegner jeglicher die staatliche Einheit schwächender oder in Frage stellender Optionen. In ihrer Sicht böte im Gegenteil ein starker Zentralstaat auch die Möglichkeit, die Ansprüche des Südens künftig angemessen zu berücksichtigen. Hinzu kommen bei den Anhängern der Einheit – wie im Übrigen auch bei regionalen und internationalen Akteuren – Befürchtungen, eine Grundsatzdebatte über die Neugestaltung der Einheit bzw. der staatlichen Verfasstheit des Landes könne weitere Ambitionen auf Autonomie oder gar territoriale Loslösung stärken, vor allem im Hadramaut (das größte Gouvernorat im Süden mit den größten Erdölvorkommen des Landes) und im nördlichen Sa’ada.

Im Prinzip sollen alle zentralen politischen Probleme und Streitfragen, einschließlich der Probleme des Südens und der Huthi-Bewegung im Norden, innerhalb der nunmehr eingeleiteten zweiten Etappe des „Übergangs“ in einem umfassenden nationalen Dialog debattiert und gelöst werden. So sieht es die „Golfinitiative“ vor, und so hat es auch die Übergangsregierung in ihrem Programm angekündigt. Der Dialog soll bereits im April beginnen, ohne dass bisher konkrete Modalitäten der Organisation festgelegt wurden. Ausgeschlossen werden soll – außer al-Qa’ida – keine politische Kraft des Landes. Ob tatsächlich alle Kräfte daran teilnehmen werden, ist fraglich. Teile des Hirâk beharren auf gesonderten bilateralen Verhandlungen zwischen Vertretern des Nordens und des Südens; manche der „revolutionären“ Aktivisten machen sich keine Hoffnung mehr auf eine radikale Veränderung des politischen Systems angesichts der alt-neuen Machtverhältnisse; nicht wenige halten einen ernsthaften nationalen Dialog aller mit allen angesichts der andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen in mehreren Teilen des Landes für derzeit unmöglich. Über ein Jahr nach Beginn der großen Protestbewegung erscheint im Jemen bisher keine politische Krise wirklich gelöst. So viel die „Revolution“ auch in Gang gebracht haben mag, sie befindet sich heute bestenfalls im Wartestand. Internationale Hilfsorganisationen sehen im Moment viele Jemenitinnen und Jemeniten am Rande einer humanitären Katastrophe.

* Lutz Rogler, Islamwissenschaftler, inamo-Redaktion.


Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 69/Frühjahr 2012, 18. Jahrg., Seiten 27-30

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