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"Wir wollen Brot und eine Zukunft!"

Vor allem die jemenitische Jugend ist unzufrieden, hat aber keine klaren politischen Vorstellungen


In Jemens Hauptstadt Sanaa hatten oppositionelle Gruppen für gestern zu einem »Tag des Zorns« aufgerufen. Mohammed Abdul Nabi Baza aus Sanaa ist Reiseveranstalter. Der 51-Jährige, der Handel und Wirtschaft studiert hat, war unter den Demonstranten. Mit ihm sprach für Neues Deutschland (ND) Martin Lejeune.

ND: Sie sind gerade im Zentrum von Sanaa unterwegs und haben den »Tag des Zorns«, wie ihn die Opposition ankündigte, erlebt. Was ist heute passiert in Sanaa?

Baza: Es kam ja schon letzte Woche immer wieder zu vereinzelten Demonstrationen. Gestern sagte der seit 33 Jahren regierende Präsident Ali Abdullah Saleh, dass die für den 27. April geplante Wahl verschoben werde, bis Regierung und Opposition zu einer Vereinbarung kommen. Die Demonstration wurde zwar schon letzte Woche geplant, hat aber mit diesem Zugeständnis Salehs zusätzlichen Aufwind bekommen.

Heute gab es ab 9 Uhr sechs Stunden lang Proteste in bisher nie gekanntem Ausmaß. Ich schätze, dass insgesamt 30 000 Menschen im Zentrum unterwegs waren.

Was forderten die Demonstranten?

Die Bevölkerung protestiert gegen Korruption und Arbeitslosigkeit. Sie fordert eine Verbesserung der Lebensbedingungen, die Schaffung von Arbeitsplätzen und einen ernsthaften Kampf gegen die unglaublich stark verbreitete Korruption.

Geht es der Bevölkerung Jemens so schlecht?

Das Bruttoinlandsprodukt beträgt jährlich nur 2500 Dollar pro Kopf, das des Nachbarlands Saudi-Arabien zum Beispiel 60 000 Dollar. Wir haben die schwächste Wirtschaftsleistung in der arabischen Welt, verfügen über fast keine Rohstoffvorkommen und haben niemals irgendeine Phase der Industrialisierung durchlaufen. Unsere einzigen nennenswerten Exporte sind Früchte wie Mangos und Papaya. Die Arbeitslosigkeit beträgt offiziell 15 Prozent, ist aber in Wirklichkeit weitaus höher.

Die Menschen, ob in der Stadt oder auf dem Land, fühlen sich noch immer archaischen Traditionen verpflichtet. So leben drei Generationen einer Großfamilie unter einem Dach. Das muss andererseits so sein, weil die Großfamilie das soziale Netz der Menschen ist und die Aufgabe hat, vor völliger Verarmung zu schützen.

Wie denkt die Bevölkerung über Präsident Saleh?

Die meisten Menschen denken, dass er einige Sachen ganz gut gemeistert hat, zum Beispiel die Vereinigung 1990 zwischen dem sozialistischen Süden und dem kapitalistischen Norden. Saleh gilt als guter Führer. Trotzdem sind viele Leute nicht zufrieden, weil sie hungern, weil sie keine Perspektive haben.

Ist auch die Nähe Salehs zu den USA auch ein Thema bei den Demonstrationen ?

Saleh ist ein Faktor im Anti-Terror-Kampf der USA. Die Terrorbekämpfung, die Kollaboration zwischen Jemen und den USA spielte aber keine Rolle. Außenpolitik ist den Menschen im Moment nicht wichtig, sie wollen Reformen, Brot und eine Zukunft.

Weshalb genießt Saleh noch Ansehen in Teilen der Bevölkerung? Ist das nur der Propaganda geschuldet?

Nein, es gibt Projekte, durch die sich Saleh Ansehen verschafft hat, etwa der Bau neuer Asphaltstraßen in den Hochebenen, Telefonleitungen in Dörfern, der Bau von Schulen, von Brunnen in der Wüste – das macht ihn beliebt. Auch wenn das Geld zum Teil aus den USA kommt.

Wo sehen Sie Entwicklungspotenzial für Jemen?

Jemen ist eigentlich ein touristisches Land. Wenn es ruhig wäre, könnte der Tourismus prosperieren und eine Einkommensquelle auch für die einfache Bevölkerung sein, Arbeitsplätze in der Hotelleriebranche schaffen und in anderen Zweigen, die vom Tourismus direkt oder indirekt profitieren. Derzeit bekommen Ausländer aber kein Visum für Jemen. Es ist zu gefährlich geworden.

Inwieweit beflügeln die Ereignisse in Tunesien und Ägypten die Proteste?

Jemen ist nicht vergleichbar mit diesen Ländern. Die Opposition bei uns ist nicht so ausgeprägt, die Menschen sind weniger gebildet. Es fehlt uns an allem, aber vor allem an einem Führer und an einem Programm. Die Masse der Bevölkerung weiß nicht, ob sie für oder gegen die Forderungen der Demonstranten sein soll. Das zeigt auch dieses Beispiel: Es gab heute zwei Demonstrationen: die der Regierungsgegner mit vielleicht 10 000 Teilnehmern und die der Regierungsbefürworter, das waren vielleicht 20 000 Menschen.

Kam es zu Ausschreitungen?

Nein, die Opposition blieb im Westen der Stadt, die Regierungstreuen waren im Osten. Dazwischen lagen zwei Kilometer Luftlinie. So konnte es auch nicht zu Ausschreitungen und Prügelszenen kommen wie auf dem Tahrir-Platz in Kairo.

Wie geht es Ihrer Meinung nach weiter?

Nach Salehs Rede am Mittwoch glaube ich, dass es einen Dialog zwischen Opposition und Regierung geben wird. Die Opposition stellt gerade eine Delegation aus Vertretern verschiedener Lager zusammen, die sich ab Sonnabend mit Regierungsvertretern trifft.

Welche Kräfte gibt es überhaupt in der Opposition?

Nasseristen, Islamisten, Liberale, Sozialisten, Unabhängige und eine Menge Leute, die kein Parteibuch haben.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Februar 2011


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