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"Bildung statt Bart"

Ein Gespräch mit der Journalistin Nadia Al-Sakkaf *

In Jemen werden Frauen viele Hindernisse in den Weg gelegt. Der Islam gehört nur dann dazu, wenn er von der Politik instrumentalisiert wird, meint Nadia Al-Sakkaf, eine der wenigen Journalistinnen Jemens. Das Gespräch führte Michaela Krimmer.



Südwind: Gibt es eine öffentliche Debatte über Frauenrechte im Jemen?

Nadia Al-Sakkaf: Auf jeden Fall. Vor kurzem marschierten tausende Mädchen zum Parlament, um gegen die Kinderehen zu protestieren. Das hat die Öffentlichkeit aufgewühlt. Aber die ganze öffentliche Debatte liegt bei Organisationen. „Normale“ BürgerInnen würden sich sonst nicht bewegen, sie würden nichts tun. Das geht oft so weit, dass man sie von einem vereinbarten Ort abholt und dann wieder zurückbringen muss. Es gibt keine Eigeninitiative. Das hängt auch mit dem Qat zusammen, das sechs Stunden am Tag gekaut wird. Das wird auch bei Frauen immer mehr zum Problem. (Anm.: Qat ist eine beliebte Alltagsdroge in Jemen. Die grünen Blätter werden gekaut. Die anfangs stimulierende Wirkung führt bei hohem Konsum zu Müdigkeit.)

Wie verbreitet ist die Ehe mit Minderjährigen?

Die einzigen Zahlen, die ich habe, sind aus einem Oxfam-Bericht aus dem Jahre 2006 und sie beschränken sich auf drei Gebiete in Jemen, in denen Kinderheirat üblich ist. Dort wurden 40 Prozent der Mädchen unter 18 Jahren verheiratet und das Durchschnittsalter war 15. Wir brauchen Gesetze, die eingehalten werden. In der Gesellschaft muss ein Bewusstsein geschaffen werden, dass die Hochzeit mit einem zehnjährigen Mädchen keine gute Sache ist. Aber wenn es kein Gesetz dazu gibt, kann man auch nicht dafür kämpfen. Demnächst entscheidet das Parlament über ein Gesetz, das das Mindestalter für Heiraten auf 17 Jahre festlegt. (Anm.: Das Gesetz wurde mittlerweile verabschiedet. Die Gesellschaft steht dem Gesetz gespalten gegenüber.)

Wie viele Frauen gibt es in der Politik oder in anderen führenden Positionen?

Nicht viele. Im Parlament gibt es eine Frau und sie ist nicht sehr effektiv. Es gibt zwei Ministerinnen. Aber in einer Position zu sein und Macht zu haben, ist nicht dasselbe. Es gibt auch Männer in guten Positionen, die keine Macht haben.

In den Medien arbeiten ein paar Journalistinnen, allerdings nicht in Positionen, in denen Entscheidungen getroffen werden. Außer, es handelt sich um ein Frauenmagazin.

Die Yemen Times ist ein Familienunternehmen. Und nur weil mein Vater es wollte, konnte ich die Herausgeberin der Zeitung werden. Wir publizieren auf Englisch, wir fallen ein wenig aus dem Rahmen und wir haben einen größeren Spielraum. Wir können von manchen Sachen berichten, über die die arabischsprachigen Zeitungen nichts schreiben können.

Wie steht der Islam den Frauenrechten in Jemen gegenüber?

Diese Debatte ist extrem aufgeheizt – und sie wird fast nur von Männern geführt. Das Problem ist, dass die meisten islamisch Gebildeten Männer sind. Sie sehen das Thema nicht nur vom islamischen Standpunkt aus, sondern auch von ihrem männlichen. Sie suchen sich die Stellen im Koran, die ihnen gefallen, die sie auf die jemenitische Gesellschaft übertragen wollen.Es gibt einige Frauen, die selbstständig den Islam studieren. Eigene Organisationen unterstützen diese Frauen. Es gibt ein eigenes Programm für Muftias. Das sind Frauen, die den Koran studieren und ihre Interpretationen des Koran weitergeben. Für die paar Vorkämpferinnen ist der Weg noch immer schwierig, da er stark kontrolliert wird und voll mit Hindernissen ist.

Was hindert Frauen daran, den öffentlichen Diskurs mitzubestimmen?

Das erste Hindernis ist der Mangel an Wissen und Bildung. Um debattieren zu können, braucht man eine gewisse Bildung – und das müssen die Frauen beweisen. Manche Männer lassen sich einfach einen Bart wachsen und sind schon eine religiöse Autorität. Aber eine Frau kann sich keinen Bart wachsen lassen. Sie muss viel eifriger lernen.

Nach der Hürde der Bildung kommt die der Öffentlichkeit. Viele religiöse Frauen haben Angst, in der Öffentlichkeit zu stehen. Sie sind komplett verhüllt und haben zittrige Stimmen. Sie müssen dabei unterstützt werden, ihre Stimmen zu erheben.

Die dritte Hürde ist politisch: Der Islam wird politisch missbraucht. Ein Beispiel: Al-Zindani ist einer der Führer der Salafiten (Anm: konservative Strömung des sunnitischen Islams) in Jemen. Er wurde in Afghanistan mit Bin Laden ausgebildet und steht auf der US-Terrorliste. Im Jemen ist er sehr beliebt, sehr mächtig und hat eine eigene Universität, die Imam-Universität. Saudi-Arabien bezahlt ihn dafür, den salafitischen Glauben voranzutreiben. Manchmal sieht man Al-Zindani öffentlich mit dem jemenitischen Präsidenten Salih, obwohl dieser ein liberaler Mensch ist. Einen Tag später hört man den Präsidenten etwas komplett anderes sagen als zuvor mit Al-Zindani. Die Politik ist wie ein Kartenspiel. Einmal verwendet man die Islam-Karte, dann eine andere. Je nachdem, was man gerade braucht.

Ich glaube nicht, dass eine Islamisierung im Jemen stattfindet, dass wir radikaler werden, dass es immer mehr Bärte und immer mehr Schleier gibt. Vor zehn Jahren war Jemen viel konservativer. Ich sehe mehr Offenheit heute. Es hängt von der politischen Führung ab, wohin sie den Islam bewegt und wofür sie ihn missbraucht.

Gibt es Institutionen, an die sich Frauen wenden können?

In Jemen wendet man sich nicht an die Polizei, da die alles nur noch schlimmer macht. Bei einem Autounfall versuchst du, so schnell wie möglich alles selbst zu regeln, damit die Polizei ja nichts mitbekommt. Für Frauen ist das noch schlimmer, da sie kaum an die Öffentlichkeit gehen. Wurde eine Frau attackiert oder vergewaltigt, geht sie zur Polizei und wird erst einmal ignoriert. Oder man beschuldigt sie, dass sie es selbst verursacht und gewollt hat.

Eine Geschichte dazu: Eine 40-jährige Frau aus einer sehr armen Gegend ließ ihre Epilepsie immer in einer bestimmten Klink behandeln. Eines Tages war diese geschlossen und sie ging zu einer anderen. Für die Behandlung muss sie ca. 30 Minuten still liegen und an einem Tropf hängen. Einer der Medizinstudenten dort hat die Situation ausgenützt und sie vergewaltigt. Als sie wieder zu Bewusstsein kommt, geht sie zur Polizei und macht eine Anzeige. Sie ist eine arme und ungepflegte Frau und die erste Reaktion der Polizisten ist: „Warum sollte irgendjemand dich wollen?“ Niemand wollte glauben, dass ein nobler Medizinstudent eine arme, dreckige Frau haben will. Aber sie hat gekämpft. Es gibt ein paar gute Anwälte, die für eine Veränderung im Land kämpfen und sie gratis unterstützt haben. Sie hat den Fall gewonnen.

Die jemenitische Frauenunion hat diesen Anwalt vermittelt. Das ist eine Nichtregierungsorganisation, die sich für Frauenrechte einsetzt. Sie vermitteln Jus-Absolventen an Anwaltskanzleien. Sie bekommen dort Praxis und müssen gleichzeitig Fälle von mittellosen Frauen vertreten. Es gibt viele solcher Initiativen. Und Schritt für Schritt wird die lebendige Zivilgesellschaft etwas verändern. Jemenitische Frauen sind stark unterdrückt worden. Veränderung kann nur durch die Frauen selbst kommen und indem man sie dabei unterstützt.

Wie beeinflusst die konservative Gesellschaft Ihre Arbeit? Können Sie so agieren wie Ihre männlichen Kollegen?

Es gibt zwei Arten von Frauen im Jemen. Solche wie mich, die einfach da draußen ihre Arbeit machen. Die andere Art von Frauen steht noch vor den Hindernissen. Für sie wird es immer schwieriger. Immer mehr Türen werden geschlossen. Durchbricht man die Hindernisse, dann steht einem die Welt offen. Das hängt auch mit internationaler Unterstützung zusammen. Wer nach Jemen kommt, kontaktiert mich, interviewt mich, erwähnt mich. Das stärkt meine Position immer mehr.

Die jemenitische Gesellschaft ist männlich dominiert, aber es gibt auch eine Kultur von männlicher Höflichkeit gegenüber Frauen. Wenn du in einen vollen Bus kommst, werden gleich zwei Männer aufstehen und dir den Sitz anbieten. Einer für den Sitz und der andere, damit der Sitz neben dir frei bleibt.

Genauso bei einer Pressekonferenz. Die männlichen Kollegen müssen sich ihren Platz mit den Ellenbogen erkämpfen. Die Kollegin wird wahrscheinlich ein wenig abseits stehen, aber wenn sie ihre Hand nur ein wenig hebt, um eine Frage zu stellen, wird sie sofort an der Reihe sein.

Wenn du bei einem Minister anrufst, wirst du als Frau sofort einen Termin bekommen. Oft ist es für Frauen leichter, an Informationen zu kommen. Frauen können die Männersphären aufsuchen, aber umgekehrt wird es einem Mann nie gestattet sein, in die Frauensphäre einzudringen.

Das Hindernis ist dann eher der Chefredakteur. Die Frau schreibt eine tolle Analyse über die Wirtschaft und er wird es belächeln und sie für eine Geschichte über Kinder einsetzen.

Werden solche Frauen von den Islamisten bedroht?

Nicht, solange sie ihnen nicht auf die Zehen treten. Aber wenn Sie sich mit einem „ihrer“ Themen beschäftigen, wird es schwierig. Zum Beispiel: Kinderheirat. Die Islamisten wollen weiterhin 15-jährige Mädchen heiraten dürfen. Wenn sich eine Frau dagegen stellt, attackieren sie sie vielleicht nicht direkt, aber sie werden darüber reden, wie amoralisch unsere Gesellschaft geworden ist, wie alles den Bach runtergeht, dass Frauen schamlos werden, auf der Straße anzutreffen sind, ihren Körper zeigen. Doch Männer können Frauen nicht einfach so konfrontieren. Deswegen werden weibliche Islamistinnen auf den Plan gerufen, damit diese die anderen Frauen attackieren.

* Nadia Al-Sakkaf ist die einzige Zeitungsherausgeberin und eine der wenigen Journalistinnen Jemens. Die Österreichischen Stiftung für Weltbevölkerung und internationale Zusammenarbeit lud sie nach Wien ein.


* Dieser Beitrag erschien in: Südwind-Magazin, Heft 6 (Juni) 2010

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