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"Politik ohne Arroganz"

Künftiger Premier Hatoyama nach Wahlsieg in Japan vor großen Herausforderungen *

Nach ihrem historischen Wahlsieg in Japan hat die Demokratische Partei des künftigen Ministerpräsidenten Yukio Hatoyama mit der Regierungsbildung begonnen. Der 62jährige versprach dem von der schwersten Rezession seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gebeutelten Land am Montag eine »Politik ohne Arroganz«. Hatoyama will sein Kabinett in rund zwei Wochen vorstellen, wenn ihn das Parlament formell als Regierungschef bestätigt hat.

Die Demokratische Partei (DPJ), die bei der Parlamentswahl am Sonntag deutlich mehr als die Hälfte der Sitze errang, kam am Montag zu Beratungen über die Besetzung des künftigen Kabinetts zusammen. In die neue Regierung sollen als Zeichen der Offenheit auch zwei kleinere Parteien eingebunden werden, darunter möglicherweise die Sozialdemokraten.

Seine Partei werde den Japanern ihre Politik nicht »aufdrücken«, sagte Hatoyama dem Rundfunksender NHK. Die DPJ wolle mit »Geduld« an der Umsetzung ihrer Ziele arbeiten und dabei immer das Verständnis der Bürger suchen. Wesentliche Herausforderungen seiner Amtszeit sind der Kampf gegen die Talfahrt der japanischen Wirtschaft und die Überalterung der Gesellschaft. Die Partei will angeblich das soziale Netz ausbauen. Sie tritt unter anderem für finanzielle Hilfen für Familien und das Recht auf weitgehend kostenfreie Bildung ein.

Nach offiziellen Ergebnissen eroberte die DPJ 308 der 480 Sitze im Unterhaus. Die seit mehr als 50 Jahren fast ununterbrochen regierenden Liberaldemokraten (LDP) von Regierungschef Taro Aso wurden hingegen von den Wählern abgestraft. Sie verloren 181 Mandate und kommen nun auf 119 Sitze. Den Angaben zufolge sind künftig so viele Frauen im Parlament wie nie zuvor: Insgesamt wird es 54 weibliche Abgeordnete geben, in der vorherigen Legislaturperiode waren es 43.

Das Weiße Haus erklärte nach dem Wahlsieg Hatoyamas, daß Obama auf eine »starke Allianz« mit Tokio hoffe.

* Aus: junge Welt, 1. September 2009


Beginn einer neuen Ära in Japan

Erstmals seit Kriegsende hat eine Partei die absolute Mehrheit

Von Susanne Steffen, Tokio **

Einen Tag nach dem historischen Wahlsieg der Demokratischen Partei hat DPJ-Chef Yukio Hatoyama als künftiger Ministerpräsident Japans Sondierungsgespräche über eine Koalition mit den bisherigen Oppositionspartnern, der Sozialdemokratischen Partei und der Neuen Volkspartei, aufgenommen. Hatoyama soll in zwei Wochen vom Parlament als neuer Ministerpräsident bestätigt werden.

Das Ergebnis kommt einer Revolution gleich: Bei der Parlamentswahl am Sonntag hat Japans größte Oppositionspartei DPJ einen überwältigenden Sieg errungen. Die Demokraten gewannen 308 der 480 Sitze, die LDP kam nur noch auf 119. Mehrere ehemalige Minister, Premierminister und hohe Parteifunktionäre verloren ihre Wahlkreise zum Teil an Politikneulinge der Opposition. Premier Taro Aso hatte noch am Wahlabend seinen Rücktritt als LDP-Vorsitzender angekündigt, um die Verantwortung für die schlimmste Niederlage in der Geschichte der Partei zu übernehmen. Er wolle sich um die Erneuerung der Liberaldemokraten und ihre Rückkehr an die Macht bemühen. Die Wahlbeteiligung lag mit etwa 69 Prozent trotz regnerischen Wetters wegen eines herannahenden Taifuns knapp über jener beim Votum vor vier Jahren.

Angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, in der die Arbeitslosigkeit mit fast sechs Prozent einen neuen Landesrekord erreicht hat, verlor die Bevölkerung offenbar das Vertrauen in die LDP, die einst für die Erfolge des japanischen Wirtschaftswunders gefeiert wurde. Jahrzehntelange Vetternwirtschaft und Skandale wie die mehr als 50 Millionen Renteneinzahlungen, die ihren Besitzern nicht mehr zugeordnet werden können, haben die Partei nach Ansicht von Beobachtern in Misskredit gebracht. Hinzu kommen peinliche Auftritte von LDP-Spitzen. Selbst im Wahlkampf musste sich Premier Aso mehrfach für verbale Ausrutscher entschuldigen.

DPJ-Spitzenkandidat Yukio Hatoyama versprach den Wählern Wandel nach US-amerikanischem Vorbild. Vor allem dem Klüngel zwischen Politikern, Bürokraten und Lobbyisten hat der 62-Jährige den Kampf angesagt. Ein starkes Kabinett soll seine Vision von einer sozial gerechteren Gesellschaft durchsetzen. Statt der öffentlichen Investitionen, mit denen die LDP die Krise überwinden wollte, verspricht die DPJ eine Stärkung des Gesundheitssystems, mehr Unterstützung für Familien mit Kindern und Subventionen für Bauern. Steuererhöhungen zur Finanzierung seiner Pläne schloss Hatoyama aus. Kritiker glauben allerdings nicht an die Finanzierbarkeit der Wahlversprechen - zumal Japan bereits heute mit einer Staatsverschuldung von fast 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts die am höchsten verschuldete Industrienation ist. Die DPJ ist jedoch überzeugt, die Finanzierung hauptsächlich durch Streichung nutzloser öffentlicher Investitionen sicherstellen zu können.

Die Unzufriedenheit des Wahlvolks mit der LDP-Regierung jedenfalls schien größer zu sein als die Sorge vor unrealistischen Visionen. »Vielleicht wird auch die DPJ unsere Probleme nicht lösen können, aber es ist an der Zeit, dass wir endlich eine richtige Demokratie mit unterschiedlichen Regierungsparteien werden. Der DPJ-Sieg ist eine Revolution«, freute sich etwa ein Familienvater, als die ersten Hochrechnungen bekannt wurden. Ein Revolutionär ist Hatoyama aber trotz seines kühnen Wahlprogramms nicht. Bis 1993 war er selbst LDP-Mitglied. Wie Noch-Premier Aso stammt auch er aus einer Politikerdynastie, die Familie hat den Reifenhersteller Bridgestone gegründet.

Hatoyama will sein Kabinett in rund zwei Wochen vorstellen, wenn ihn das Parlament formell als Regierungschef bestätigt hat. Es wird erwartet, dass er dann seine ersten Schritte auf internationalem Parkett im September zum Beginn des neuen Sitzungsjahres der UN-Vollversammlung und auf dem G-20-Gipfel in Pittsburgh machen wird. Das Weiße Haus erklärte nach dem Wahlsieg Hatoyamas, dass USA-Präsident Barack Obama auf eine »starke Allianz« mit Tokio hoffe.

** Aus: Neues Deutschland, 1. September 2009


Notwendiger Abwasch

Von Olaf Standke ***

Glaubt man seiner Ehefrau, ist Yukio Hatoyama daheim ein Softi, der Tierfilme und Shrimps-Chips liebt. Als designierter neuer Ministerpräsident Japans allerdings erwarten den 62-Jährigen harte Zeiten. So grandios der Wahlsieg der bisher oppositionellen Demokraten, so gewaltig die Herausforderungen, vor denen sie stehen. Allein die jüngsten Wirtschaftszahlen verdeutlichen die Misere: 3,6 Millionen Arbeitslose sind Landesrekord, so wie der Rückgang des Verbraucherpreisindex um 2,2 Prozent. Eine Deflation lässt die Unternehmensgewinne schrumpfen, Produktions- und Stellenabbau sind die Folge. Japans Familien gaben im Juli zwei Prozent weniger aus als im Vorjahr. Die schwerste Rezession seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist endgültig beim Wähler angekommen, dazu gebar der Sumpf aus politischer Verantwortungslosigkeit und bürokratischer Unfähigkeit einen Rentenskandal, der Millionen in der überalterten japanischen Gesellschaft trifft.

Kein Wunder, dass eine große Mehrheit im Lande von Machtarroganz und Klientelfilz der über 50-jährigen liberaldemokratischen Alleinherrschaft die Nase voll hat. Hatoyama dagegen präsentiert sich als Anwalt der kleinen Leute und will das soziale Netz ausbauen, verspricht mehr Kindergeld, das Recht auf weitgehend kostenfreie Bildung, Mindestlohn für Bauern und Mindestrente. Wie das bei einer Staatsverschuldung von fast 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - der höchsten aller Industriestaaten - bezahlt werden soll, bleibt da die spannende Frage. Der neue Premier jedenfalls will sich nicht schonen. Zu Hause übernimmt er schließlich auch freiwillig den Abwasch, wie man erfahren konnte.

*** Aus: Neues Deutschland, 1. September 2009 (Kommentar)


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