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Wunschkandidat des Kapitals

Japan hat den sechsten Premier innerhalb von fünf Jahren: Exfinanzminister Yoshihiko Noda

Von Josef Oberländer *

Die Kurse japanischer Staatsanleihen stiegen, nachdem sich Finanzminister Yoshihiko Noda (54) gegen alle innerparteiliche Konkurrenz durchgesetzt hatte. Mit 215 zu 177 Stimmen gewann er am Montag die Stichwahl gegen Handelsminister Banri Kaieda, der als Favorit gehandelt worden war. Anfangs hatten fünf Kandidaten zur Wahl gestanden. Daß er sich für Ausgabendisziplin und Steuererhöhungen statt neue Schulden ausgesprochen hatte, brachte ihm die Unterstützung des Finanzkapitals ein. Zum Durchbruch verhalf ihm die Unterstützung der Anhänger des ehemaligen Außenministers Seiji Maehara, der ebenfalls kandidert hatte. Als neuer DPJ-Vorsitzender ist Noda Nachfolger des glücklosen Naoto Kan als Ministerpräsident. Kan war am Freitag wie erwartet zurückgetreten. Seine Pläne für einen schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie waren in der Öffentlichkeit zwar gut angekommen, aber angesichts des Staatsversagens bei der Bewältigung der Atomkatastophe in Fukushima wurde seine Regierung Meinungsumfragen zufolge nur noch von rund 15 Prozent der Menschen unterstützt.

Noda wird der sechste Staatschef in fünf Jahren. Niemand glaubt, daß er sich lange halten kann, dazu sind seine innerparteiliche Machtbasis zu klein und die Probleme des Landes zu groß. Die graue Eminenz der DPJ, Ozawa Ichiro, und der frühere Ministerpräsident Yukio Hatoyama hatten seinen Rivalen Kaieda unterstützt.

Er werde keine Neuwahlen ausrufen, kündigte Noda an, weil sonst ein »politisches Vakuum« entstehen könnte. Zuerst muß der dritte Nachtragshaushalt für das laufende Fiskaljahr beschlossen werden, um den Wiederaufbau nach dem verheerenden Erdbeben vom 11. März zu beschleunigen. Bei den geplanten Steuererhöhungen geht es nicht etwa um eine Finanzmarkt- oder Reichensteuer, sondern um die Mehrwertsteuer. Die liegt aktuell bei fünf Prozent. Von einer niedrigen Mehrwertsteuer profitieren vor allem ärmere Bevölkerungsschichten, die einen Großteil ihres Einkommens für Güter des täglichen Bedarfs ausgeben – nicht nur in Japan. Wird sie angehoben, kann Geld von Haushalten abgeschöpft werden, die sonst keine Steuern zahlen müßten, etwa von Rentnern und Arbeitslosen.

Noda stammt aus Funabashi in der Provinz Chiba, einer Schlafstadt bei Tokio. Sein Vater war Angehöriger der ersten Luftlandebrigade, die dort im Stützpunkt Narashino stationiert ist. Noda absolvierte ein Politikstudium an der Privatuniversität Waseda, ging dann auf das Matsushita Institute of Government and Management, eine vom Panasonic-Gründer Konosuke Matsu­shita ins Leben gerufene Elitezuchtanstalt, und zog 1987 als Abgeordneter ins Provinzparlament von Chiba ein. Nach dem Wahlsieg der DPJ im September 2009 wurde er zuerst stellvertretender, dann Finanzminister.

In Fukushima soll am Donnerstag der Schulbetrieb wieder aufgenommen werden, auch wenn Umweltschutzgruppen wie Greenpeace dagegen Sturm laufen. Die Regierung hatte nach dem Atomunfall zunächst die Grenzwerte für Kinder heraufgesetzt, was für große Empörung sorgte. Am Freitag wurden sie gesenkt. Was die neuen Werte zu bedeuten haben, weiß kein Mensch.

Scheibchenweise und zeitverzögert werden Informationen über das Ausmaß der Katastrophe an die Öffentlichkeit gegeben. Zuletzt hatten der Atombranche nahestehende Wissenschaftler das bei der Reaktorkatastrophe nach draußen gelangte Cäsium auf 15000 Tera-Bequerel geschätzt, das 168fache der beim Atombombenabwurf auf Hiroschima freigesetzten Menge. Weite Gebiete werden auf Jahrzehnte, wenn nicht für immer unbewohnbar sein.

* Aus: junge Welt, 30. August 2011


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