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"Wie im Zweiten Weltkrieg"

Nach der Katastrophe von Fukushima werden Menschen der Region von der japanischen Regierung alleingelassen. Ein Gespräch mit Seiichi Nakate *


Seiichi Nakate ist ein Atomkritiker aus Fukushima und Mitbegründer des »Fukushima-Netzwerks zum Schutz der Kinder vor Radioaktivität«.

Sie wohnen in Fukushima. Wie haben Sie im März den Reaktorunfall erlebt?

Ich arbeite dort seit 30 Jahren in einer Einrichtung für behinderte Menschen und bin seit 25 Jahren in einer Anti­atominitiative aktiv. Als es zu dem AKW-Unfall kam, habe ich meine Familie sofort nach Westen geschickt. Ich hatte schnell das Gefühl, daß sowohl die Regierung als auch die Betreiberfirma Tepco den Unfall kleinreden und damit die Menschen in Gefahr bringen. Über das Internet war es möglich, in diesem Zusammenhang einiges zu recherchieren.

Am 11. März war das Erdbeben, das in den AKW-Blöcken die Kernschmelze verursacht hat. Am 19. März habe ich zusammen mit anderen Aktivisten begonnen, Forderungen aufzustellen. Wir verlangten von der Regierung, in der Region Fukushima an 1600 Stellen, besonders in Schulen und Kindergärten, die Radioaktivität in der Luft zu messen. Die Regierung hat dann Messungen durchgeführt, aber weder die Bevölkerung aktiv über die Ergebnisse informiert (sie haben sie nur kommentarlos auf einer Webseite des Erziehungsministeriums veröffentlicht) noch eine generelle Einschätzung der Lage um Fukushima abgegeben.

Sie haben dann die Messungen selbst ausgewertet?

Ja, unsere Aktionsgruppe hat ausgerechnet, daß an sechsundsiebzig Prozent der Schulen eine Verstrahlung von 0,6 Mikrosievert pro Stunde vorherrschend ist. Der Normalwert würde hier 0,05 Mikrosievert in der Stunde betragen. Bei einem Wert von 0,4 Mikrosievert pro Stunde, beziehungsweise 0,6 Mikrosievert mußten Kinder und Erwachsene aus Tschernobyl wegziehen! Wir haben daraufhin allen Gemeinden der Region vorgeschlagen, zuerst die Kinder zu evakuieren und den kontaminierten Boden reinigen zu lassen. Dann haben wir die Webseite »Fukuro no kai« ins Internet gestellt. Daraufhin haben wir viele Reaktionen bekommen. Am 1. Mai haben wir das »Fukushima-Netzwerk zum Schutz der Kinder vor Radioaktivität« ins Leben gerufen.

Welche Sofortmaßnahmen hat die Regierung in der Krisenregion ergriffen?

Sie hat sich darauf beschränkt, die Einwohner der Region in einem Radius von 20 Kilometern um das Reaktorgelände evakuieren lassen. Vielleicht ist es bei der Bevölkerungsdichte Japans auch gar nicht möglich, in einem größeren Umkreis Evakuierungsmaßnahmen durchzuführen, aber was die Regierung auf alle Fälle sträflicherweise versäumt hat, war, die Bevölkerung über die katastrophalen Strahlenwerte in der Region zu unterrichten, obwohl diese vorlagen. In Tsushima zum Beispiel, einer Kleinstadt 30 Kilometer nördlich vom AKW, haben Beamte am 13.März 333 Millisievert pro Stunde gemessen und keine Warnung ausgesprochen, obwohl die Bürger neben ihnen standen!

Hinzu kam, daß Shunichi Yamashita, der Vizepräsident der Medizinischen Universität Fukushima, am 19.März erklärte, es sei alles bestens, und es bestünde keine Gefahr für die Kinder. Er hat dies allen Ernstes damit begründet, daß nur Menschen, die unglücklich sind und zu wenig lachen, von Radioaktivität betroffen seien, und daß selbst Strahlendosen von 100 Mikrosievert pro Stunde hinnehmbar wären.

Erst einen Monat später, am 22. Mai, hat dann die Regierung mit der planmäßigen Evakuierung des 20 Kilometer-Gürtels begonnen. Ab Mitte März kam es bereits aufgrund von Regen und Schnee zu höheren Strahlenwerten im Umland, aber die Maßnahmen der Regierung bestanden einzig darin, die Grenzwerte höher zu setzen. Der Bevölkerung wurde einfach geraten, so weit als möglich in ihren Wohnungen zu bleiben, beziehungsweise den Kindern für draußen Atemschutzmasken und langärmlige Kleidung überzustreifen. Statt dessen müßte die Regierung den Leuten von Fukushima in aller Deutlichkeit sagen, daß in bestimmten Regionen ein menschliches Leben nicht mehr möglich ist.

Warum verharmlost die Regierung die Katastrophe?

Weil sie eine Massenpanik befürchtet.

Die Informationspolitik ist ein Desaster.

Ja. Die Regierung hat die Bevölkerung nicht darüber informiert, daß es nicht nur eine Verstrahlung von außen, durch die Haut, sondern auch von innen durch die Aufnahme radioaktiver Substanzen in den Körper durch Atmen, Trinken und Essen gibt. Hier wurden ebenfalls ganz einfach die Grenzwerte für das Essen erhöht. Bei Jod beispielsweise im Gemüse von fünf auf 2000 Becquerel. Ebenfalls wurde beim Boden für den Reisanbau der Grenzwert auf 5000 Becquerel pro Kilo festgesetzt, weil man darauf spekuliert, daß der darauf angebaute Reis nur 500 Becquerel pro Kilo aufnehmen würde. Dies ist aber sehr fraglich. Der Grenzwert von Luftstrahlung für Grundschüler wurde von ein Millisievert im Jahr auf 20 Millisievert angehoben

Letzteres ist in Deutschland die gesetzlich erlaubte Strahlendosis für AKW-Mitarbeiter. Für Kinder ist das sehr gefährlich, weil sie sich in der Wachstumsphase befinden. Für sie gilt hierzulande nach wie vor ein Millisievert.

Der Grund für die Erhöhungen der Grenzwerte in Japan ist schlicht und einfach der, daß die Regierung nicht gewillt ist, weitergehende Sicherheitsmaßnahmen für die Bevölkerung zu treffen.

Und wie geht es den Reaktoren?

Laut Regierung und Tepco wurde die erste Phase der Reparaturen, die Kühlung des Reaktors, fast abgeschlossen. Jetzt will man die Reduzierung der Radioaktivität erreichen, doch wie verstrahlt die Reaktoren sind, weiß man nicht, da man dort nicht hineinschauen kann. Und kein Mensch vermag sich auszumalen, was passiert, wenn es zu heftigen Nachbeben kommt. Der vierte Reaktor steht ja immer noch schief. Tepco behauptet, daß die Reparaturen bis nächstes Jahr abgeschlossen sind. Aber ich glaube, daß sie viel länger dauern werden.

Und die Bevölkerung läßt sich das alles gefallen?

Nein, sie ist sehr verunsichert. Vor dem Reaktorunfall gab es in der Region im Umkreis von zehn Kilometern allenfalls einmal im Jahr eine Katastrophenübung. Es herrschte die Mentalität vor, daß einen die AKW vor Ort nichts angehen. Nach der Katastrophe wurde den verharmlosenden Verlautbarungen der Regierung überwiegend Glauben geschenkt. Die wenigen, die sich etwas mehr zusammenreimen konnten, haben die Region sofort verlassen und sind damit auf viel Unverständnis bei ihren Familien, Freunden und Kollegen gestoßen. Dann haben aber die Mütter angefangen, sich zu beunruhigen, da sie aufgrund der mangelhaften Informationspolitik nicht wußten, wie sie sich konkret um ihre Kinder kümmern sollten. Mit der Zeit sind es dann immer mehr Leute geworden. Die Menschen von Fukushima sind normalerweise sehr umgänglich, aber jetzt sind sie sauer, weil sie zunehmend das Gefühl haben, von der Regierung alleingelassen zu werden. Allerdings ist die restliche japanische Gesellschaft noch weitgehend paralysiert.

Die Situation ähnelt der im Zweiten Weltkrieg, als die Regierung sich am Ende auch weigerte, die Bevölkerung über die wahren Zustände zu informieren. Die Pressekonferenzen von Tepco wurden beispielsweise mitten in der Nacht abgehalten, damit sie so wenig Zuschauer wie möglich verfolgen konnten. Ein Journalist hat mir erzählt, daß er keine Chance gehabt habe, die Wahrheit zu schreiben, denn sobald er etwas Ehrliches geschrieben hatte, wurde es von seinem Chef nicht veröffentlicht. Bislang konnte die Regierung den Informationsfluß über das Internet nicht unter Kontrolle bringen, aber hier sind Gesetzesänderungen geplant: Man möchte zum Beispiel die Möglichkeit juristisch legitimieren, Einträge aus dem Internet oder von Facebook- und Twitter zu löschen.

Interview: Reinhard Jellen

* Aus: junge Welt, 8. September 2011


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