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Japaner zweifeln an der Atomenergie

Die Fukushima-Katastrophe führt zum Umdenken, aber der Mut zum Ausstieg fehlt noch

Von Susanne Steffen, Tokio *

Lange haben Regierung und Stromkonzerne in Japan Kritiker der Atomenergie mit Subventionen gekauft und ihre Bedenken vom Tisch gewischt. Seit dem GAU in Fukushima ist das Vertrauen der Japaner zerstört. Doch viele haben auch Angst vor einer Zukunft ohne Atomstrom.

Japan ist nach Frankreich und den USA der drittgrößte Atomstromproduzent der Welt. Bis vor wenigen Wochen setzte die Regierung noch voll auf den Ausbau der Atomkraft. Bis 2030 sollte ihr Anteil an der Stromproduktion von derzeit 30 auf 50 Prozent gesteigert werden. 14 neue Reaktoren hätten dafür gebaut werden müssen. Doch seit immer mehr Details über das Ausmaß der Katastrophe von Fukushima und die Schlamperei, die dazu geführt hat, bekannt werden, bröckelt im ressourcenarmen Japan das Vertrauen in die Atomkraft. Zwar will Ministerpräsident Naoto Kan noch nicht den Ausstieg verkünden, doch legte er die Ausbaupläne auf Eis und kündigte an, Japan werde die erneuerbaren Energien stärker nutzen. Binnen zehn bis 20 Jahren soll der Anteil von Windparks, Solarkraftwerken und Co. von knapp neun auf 20 Prozent ausgebaut werden.

Anti-AKW-Organisationen bekommen Zulauf

Bislang schien es gegen die zivile Nutzung der Atomenergie in Japan keine Opposition zu geben. Doch das Vertrauen bröckelt. »Man hat uns immer einzureden versucht, Japans Wirtschaft würde ohne billigen Atomstrom zugrunde gehen. Jetzt wissen die Bürger, dass alles noch viel schlimmer wird, wenn man sich blind auf die Atomkraft verlässt«, sagt Masako Sawai vom Citizens' Nuclear Information Center (CNIC), mit gut 2000 Mitgliedern einer der größten Anti-AKW-Organisationen des Landes. Seit dem Fukushima-Unfall können sich Sawai und ihre Kollegen vor Anrufen besorgter Bürger kaum retten. Noch nie hat ihre Organisation in so kurzer Zeit so viele Neumitglieder gefunden, berichtet die 57-jährige Ex-Gewerkschafterin. Doch im Vergleich zu den Massendemonstrationen in Deutschland gibt es in Japan nur kleine Versammlungen. Das hat laut Sawai viele Gründe: Japaner seien nicht an Demonstrationen als Mittel der freien Meinungsäußerung gewöhnt. Und ein Großteil der Bevölkerung sei schlecht über die Gefahren der Atomenergie aufgeklärt.

Jahrzehntelang schwärmten Regierung und Atomlobby, wie sicher AKW seien – auch in dem extrem erdbebengefährdeten Land. Warnungen von Erdbebenexperten und Bürgerinitiativen vor Naturkatastrophen, denen die Meiler womöglich nicht standhalten könnten, wurden vom Tisch gewischt. »Die Sicherheitsprüfungen waren vorsätzlicher Betrug«, glaubt Sawai. Verwerfungen seien in Gutachten nicht erwähnt oder für inaktiv erklärt worden. Dass in der Region Tohoku Kraftwerke wie das in Fukushima nur für sechs Meter hohe Tsunamis ausgelegt waren, obwohl dort regelmäßig Wellen mit über zehn Metern Höhe aufschlagen, zeige, dass die Atomaufsicht Teil der Atomlobby sei. Selbst die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) kritisierte kürzlich die mangelnde Unabhängigkeit und die unklare Definition der Aufgabengebiete der Aufsichtsbehörde.

Wo in den vergangenen Jahrzehnten AKW gebaut wurden, wurden die zum Teil heftigen Proteste der lokalen Bevölkerung mit sehr großzügigen Subventionen im Keim erstickt. »Die Atomlobby hat diese verarmten Gemeinden von sich abhängig gemacht«, schimpft Sawai. Mit dem Geld seien die Städte über die Runden gekommen, aber einen echten Aufschwung mit neuen Industrien habe es nicht gegeben. »Die meisten arbeiten heute im AKW. Da ist Widerstand unmöglich«, sagt Sawai.

Eine kleine Gruppe Atomkraftgegner ist dennoch übrig geblieben. Aus Angst, die Stromkonzerne könnten quasi mit behördlichem Segen auch größere Atomunfälle vertuschen, hat Sawais Organisation zusammen mit Hunderten von Freiwilligen ein landesweites Netz zur Strahlenmessung aufgebaut. Jetzt versorgt das Team verunsicherte Tokioter, die den amtlichen Messwerten nicht mehr trauen, mit täglichen Strahleninformationen.

Die Unsicherheit in der Bevölkerung ist groß. 80 Prozent der Japaner vertrauen laut einer aktuellen Umfrage den offiziellen Verlautbarungen über den Unfall in Fukushima nicht mehr und halten die Maßnahmen des Betreibers Tepco für unzureichend. Trotzdem hat gut die Hälfte der Japaner auch Angst vor einem Atomausstieg. 41 Prozent wollten entweder die Zahl der Reaktoren reduzieren oder ganz aussteigen. Vor vier Jahren waren es knapp 30 Prozent.

Furcht vor verstrahlten Agrarprodukten

Drei Monate nach dem Atomunfall spüren die Verbraucher in der am dichtesten besiedelten Region des Landes die Folgen am eigenen Leib. Noch kurz nach dem Unfall zeigte sich ganz Japan solidarisch mit den Bauern aus Fukushima und kaufte Gemüse aus der Region, das die Regierung für sicher befunden hatte. Doch da Grenzwerte willkürlich angehoben wurden und mehr landwirtschaftliche Produkte auch in weiter entfernten Gebieten erhöhte Strahlenwerte aufweisen, weicht die Solidarität allmählich der Angst. »So langsam wird der Atomausstieg ein Thema, über das man redet«, meint CNIC-Aktivistin Sawai.

Das Standardargument der AKW-Lobby, dass Japan ohne Atomstrom den Energiehunger seiner Wirtschaft nicht stillen kann, könnte schon bald widerlegt werden. 60 Prozent aller Meiler sind derzeit aus unterschiedlichen Gründen nicht am Netz. Zum Teil werden die Ausfälle durch konventionelle Kraftwerke, die wieder hochgefahren wurden, kompensiert. Und die Japaner sparen Strom: 15 Prozent sollen sie in diesem Sommer weniger verbrauchen, damit es keine Ausfälle gibt. Seither boomt der Verkauf stromsparender Elektrogeräte, Unternehmen und Behörden führen ihre eigene Sommerzeit ein und Berufspendler ertragen die Fahrt in schwach oder gar nicht klimatisierten Zügen ohne Gejammer. Bislang hat der Plan funktioniert. Seit Anfang April hat es keine Stromabschaltungen mehr gegeben.

Erste Präfekturgouverneure verabschieden sich innerlich von der Atomkraft. Erst vor wenigen Wochen ließ Premier Kan das AKW Hamaoka, das wegen seiner Erdbebenanfälligkeit als das gefährlichste des Landes gilt, vorübergehend abschalten, bis der Betreiber zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen trifft. Kurz darauf verkündete der Gouverneur der Präfektur Shizuoka, er werde künftig lieber in große Solarkraftwerke investieren.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Juni 2011


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