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Tote Seelen

Japans Premier Naoto Kan verzichtet auf Besuch am Yasukuni-Schrein. Gedenkstätte für Kriegstote ist Wallfahrtsort für Rechtsextremisten

Von Josef Oberländer *

Erstmals seit 1980 – solange reichen die Aufzeichnungen zurück – hat in diesem Jahr kein Mitglied der japanischen Regierung zum Jahrestag der Kapitulation den Yasukuni-Schrein im Tokioter Stadtteil Chiyoda besucht, um die Seelen der Gefallenen zu ehren. Innen- wie außenpolitisch ist das eine kleine Sensation, denn der japanische Premier Naoto Kan hat damit ein sattsam bekanntes Ritual unterbrochen. Ob Kan tatsächlich eine neue Ära in den Beziehungen zu den Opfern der japanischen Aggression einleiten wird, darf jedoch getrost bezweifelt werden. Zuletzt entschuldigte er sich bereits tränenreich bei Südkorea für die Greuel der japanischen Kolonialherrschaft, ließ dabei aber die Opfer im Norden der koreanischen Halbinsel außen vor. Sein Vorgänger Tomiichi Murayama hatte 1995 mehr dazu zu sagen, es verpuffte allerdings ebenso wirkungslos.

Kans politische Gegner, der ehemalige Ministerpräsident Shinzo Abe, Shinjiro Koizumi, der aufsteigende Stern der Liberaldemokraten, und LDP-Generalsekretär Tadamori Oshima ließen es sich am Wochenende nicht nehmen, den Schrein zu besuchen. Unter den dort Verehrten befindet sich eine ganze Reihe verurteilter Kriegsverbrecher. Der Bekannteste ist Hideki Tojo, der Japan 1941 mit dem Angriff auf Pearl Harbor in den Krieg gegen die USA geführt hatte. Daß es gleich nebenan auch einen säkularen Ort gibt, der den Kriegstoten gewidmet ist, weiß kaum jemand. Die im März 1958 eingeweihte Gedenkstätte liegt direkt neben dem Schrein, unweit des Kaiserpalasts in Chidorigafuchi. Sie orientiert sich an westlichen Grabmälern für die unbekannten Soldaten, wurde allerdings von der japanischen Öffentlichkeit nicht angenommen. Denn die Ehrung der Toten am Yasukuni bedeutet vor allem, daß sie nicht umsonst gestorben sein sollen, sondern für etwas Größeres: die heilige japanische Nation. Das erklärt die Empörung, die in Ostasien regelmäßig auf die Yasukuni-Besuche führender japanischer Politiker folgte.

In Japan ist die Welt der Geister mit der Welt der Lebenden eng verknüpft. Die Sorge um die Seelen der Verstorbenen steht im Zentrum der japanischen Religiosität. Der Umgang mit Kriegstoten wurde zu einem Meisterstück beim Aufbau der japanischen Nation im 19. Jahrhundert. Am 28. Juni 1869 wurden in einer ersten Zeremonie die Seelen der 3588 seit 1853 »für die Nation« Gefallenen in den Tokioter Schrein »gerufen«. Sie hatten als kaiserliche Truppen gegen den damaligen Militärherrscher (Shogun) Tokugawa Yoshinobu gekämpft. Der Zeremonie folgten fünftägige Festlichkeiten, zu denen auch Sumo-Kämpfe und Feuerwerke zählten. Die Macht der kaiserlichen Regierung war danach gefestigt, aber es kam immer wieder zu militärischen Auseinandersetzungen mit den Verfechtern der alten Strukturen. Die Toten dieser Kämpfe machte die Monarchie zu Nationalhelden der neu geschaffenen »Kaiserlichen Armee«. Gewöhnliche Soldaten konnten unabhängig von ihrem militärischen Rang zu »Kriegsgottheiten« ernannt werden, die der mittlerweile zum »Gottkaiser« gekürte Tenno persönlich durch Rituale ehrte. Das versüßte nicht zuletzt die 1872 eingeführte allgemeine Wehrpflicht, sondern auch die Angriffskriege gegen China (1894–1895) und Rußland (1904–1905). Deren steigende Opferzahlen brachten eine große Zahl von Kriegsgottheiten mit sich.

Für Rechtsradikale aus aller Welt ist der Yasukuni-Schrein bis heute ein Wallfahrtsort. Am Wochenende besuchten der französische Front-National-Gründer Jean-Marie Le Pen, Adam Walker von der British National Party und andere Führungsfiguren des internationalen Rechtsextremismus den Schrein.

* Aus: junge Welt, 18. August 2010


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