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Japan vor einem Neuanfang

Premier Kan stellt sein Kabinett vor. US-Stützpunkt wird verlegt, bleibt aber auf Okinawa

Von Josef Oberländer *

Japans neuer Premierminister Naoto Kan (63) hat am Dienstag sein neues Kabinett vorgestellt. Nachdem der Streit über die Verlegung einer US-Militärbasis seinen Vorgänger Yukio Hatoyama zu Fall gebracht hatte, wollte sich der ehemalige Bürgerrechtler dabei zum weiteren Umgang mit der Truppenpräsenz auf Okinawa lieber nicht äußern. Die von Kantoku Teruya, einem sozialdemokratischen Abgeordneten der Inselgruppe, schriftlich dazu eingereichten Fragen blieben unbeantwortet. In einem Telefonat mit Barack Obama versicherte Kan dem US-Präsidenten allerdings, der Stützpunkt Futenma der US-Marines werde wie geplant innerhalb von Okinawa verlegt. Und auch im mit 883 Billionen Yen (8,1 Billionen Euro) verschuldeten Japan rücken die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in den Vordergrund. Den Bürgern steht neben anderen Sparmaßnahmen wohl eine Erhöhung der Mehrwertsteuer (aktuell fünf Prozent) ins Haus.

Im Vergleich zu Hatoyama genießt Kan immer noch hohes Ansehen in der Bevölkerung. In einer Umfrage der Asahi Shinbun sprachen ihm 59 Prozent ihr Vertrauen aus. Allerdings würden bei den am 11. Juli anstehenden Oberhauswahlen nur 33 Prozent seine Partei wählen -- und das ist schon ein satter Zugewinn, nachdem es zuletzt lediglich 28 Prozent gewesen waren. Durch eine Verlängerung der Sitzungsperiode versucht die Partei Kans, den Wahltermin hinauszuschieben, aber mehr als ein paar Tage Schonfrist sind so nicht zu erreichen.

Anders als seine vier Amtsvorgänger entstammt Kan keiner Politikerdynastie. Sein Vater war ein einfacher Angestellter. Shinzo Abe, Yasuo Fukuda, Taro Aso und Hatoyama sind dagegen entweder Söhne oder Enkel früherer Premierminister. Kan war Teil der Studentenbewegung und unterstützte in den 70er Jahren die Wahlkampagne der Frauenrechtlerin Fusae Ichikawa, die sich 1974 einen Sitz im Oberhaus erkämpfte. Sechs Jahre später zog der leidenschaftliche Mahjong-Spieler selbst für die sozialdemokratische Shaminren ins Unterhaus ein. 1996 wurde er Gesundheitsminister einer Koalitionsregierung unter dem rechtsgerichteten Liberaldemokraten Ryutaro Hashimoto. Während seiner Amtszeit wurde ihm klar, daß die Spitzenbeamten der großen Ministerien die wichtigsten Entscheidungen bereits getroffen hatten, bevor sie sie dem Kabinett vorlegten. Davor sprachen sie sich oft mit Abgeordneten ab, die über eine große Hausmacht verfügten, aber nicht mit den zuständigen Regierungspolitikern, die vor vollendete Tatsachen gestellt wurden. Als sich Bluterkranke durch verunreinigte Blutprodukte mit HIV infizierten, zwang Kan die Gesundheitsverwaltung, alle Unterlagen offenzulegen. Das hatte es so in Japan noch nicht gegeben.

Kan schrieb sich fortan den Kampf gegen die Bürokratie auf die Fahnen. Der Abtritt von Hatoyama, dem kurz darauf der Rücktritt von Parteichef Ichiro Ozawa wegen eines Partei­spendenskandals folgte, bietet den Demokraten nun die Chance für einen Neuanfang. Beide haben Politik in der Clique des ehemaligen liberaldemokratischen Ministerpräsidenten Kakuei Tanaka gelernt, der durch seine Beziehungen zur Unterwelt und den Lockheed-Skandal auch im Westen bekannt wurde, auch wenn Hatoyama zuletzt als Verfechter einer »sauberen« Politik auftrat. Wenn sich Kan in der Partei gegen die Anhänger Ozawas durchsetzen kann, hat Japan wenigstens eine bürgerliche Partei, die das Wörtchen liberal nicht nur im Namen führt. In den wichtigsten Funktionen finden sich nun Verbündete des als ungeduldig geltenden Kan. Den Platz von Mizuho Fukushima, der Vorsitzenden der Sozialdemokraten, als Verbraucherschutzministerin nahm Renho ein, eine Fernsehmoderatorin, die sich gegen die Verschwendung von Steuergeldern eingesetzt hatte. Die Sozialdemokraten hatten die Koalition im Streit um Futenma verlassen.

* Aus: junge Welt, 9. Juni 2010


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