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Geld heilt keine Seelen

Fukushima und die Folgen *


»Die Geschichte der Flüchtlinge von Fukushima«. So lautet der Untertitel des erregenden japanischen Dokumentarfilms »Nuclear Nation« von Atsushi Funahashi. Er läuft im Berlinale-Forum. Der 1974 geborene Regisseur gehört zu den japanischen Filmemachern, die nach dem Tsunami und der Kernschmelze in Fukushima vor einem Jahr in die Gegend fuhren, um die Folgen zu dokumentieren.
Das folgende Interview erschien im "neuen deutschland" (nd).



nd: In europäischen Zeitungen erscheinen seit einiger Zeit wieder Artikel mit dem Tenor, Japan habe die schlimmste Zeit nach Fukushima überstanden und sei als Wirtschaftsmacht zurück. Wie sieht es vor Ort tatsächlich aus?

Atsushi Funahashi: Eine nukleare Katastrophe ist nie einfach so »vorüber«. Unsere Regierung hat uns das aber weiszumachen versucht: dass die nukleare Kernschmelze beendet und die Kühlungssysteme der Reaktoren in Fukushima wieder stabil seien.

Experten sagen etwas anderes?

Ja. Viele der Menschen aus Futaba, die ich in der Oberschule filmte, in der sie nach ihrer Evakuierung lebten - sie sind immer noch dort. In den Schulen und in diversen anderen Flüchtlingslagern. Und in der Anlage von Fukushima sind Arbeiter nach wie vor 24 Stunden am Tag damit beschäftigt, eine erneute Katastrophe zu verhindern. Wenn der Premierminister sich vor die Mikrofone stellt und sagt: Es ist alles wieder in Ordnung!, jetzt können wir wieder zum Alltag übergehen! - dann hört sich das an, als ob er jeden Kontakt zur Wirklichkeit verloren habe. Es steht in krassem Kontrast zu dem, was ich von Menschen aus Fukushima und Umgebung höre. Die sprechen, ganz im Gegenteil zur offiziellen Verlautbarung, von einem sehr kritischen Zustand und von weiterhin sehr hohen Temperaturen in den Kühlwasserbehältern.

Was kann schlimmstenfalls passieren?

Ein stärkeres Nachbeben würde die Behälter gefährden. Und es gibt noch immer, regelmäßig sogar, Nachbeben. Anfang des Jahres erreichten sie 5,2 auf der Richterskala. Weder die Regierung noch der Betreiber der Anlage sagen uns die Wahrheit. Als am 12. März vergangenen Jahres die Wasserstoffexplosion im ersten Reaktor von Fukushima geschah, hatte das zuständige Ministerium alle Daten, um akkurat jene Richtung vorherzusagen, in die der Wind die radioaktive Belastung treiben würde: nämlich nach Nordwesten. Diese Daten lagen vor, aber die Evakuierung der Menschen aus Futaba fand trotzdem genau in diese nordwestliche Richtung statt.

Weil man eine Panik vermeiden wollte?

Ja, so hieß es später, und man wolle alle Daten noch einmal überprüfen. Die Wahrheit ist die: Die japanische Gesellschaft ist nicht besonders gut im Umgang mit Katastrophen. Ich hoffe auf die deutsche Regierung, sie möge Druck auf unsere Regierung ausüben. Das deutsche Beispiel ist wichtig. Deutschland hat die richtige Wahl getroffen: sich von der Atomkraft zu verabschieden. Bei uns gibt es im übrigen nicht diese Tradition der demokratischen Gegenwehr, sich also öffentlich stark zu machen, sich zu äußern, vor allem, wenn es gegen die offiziell verordnete Meinung geht.

Ihr Film aber zeigt die Desillusionierung der Leute, die wachsende Kritik an bislang akzeptierten Autoritäten. Viele erkennen, dass man wohl selbst etwas tun muss, wenn man »von oben« alleingelassen wird.

Das beste Beispiel ist der Bürgermeister von Futaba, der einfach selbst beschließt, seine Gemeinde zu evakuieren, obwohl die Regierung in Tokio und auch die Präfektur Fukushima immer noch sagen, die radioaktive Belastung vor Ort werde nicht zu unmittelbaren Schäden führen. Was heißt das schon: unmittelbare Schäden? Wenn man erst 20 Jahre später erkrankt, sind längst nicht mehr die Politiker aus der Unglückszeit am Ruder. Die »Neuen« macht dann keiner mehr verantwortlich. Zudem gibt es Dinge, für die kann kein Geld entschädigen. Der Verlust von Heimat, von Häusern, der Gemeinschaft.

Der Bürgermeister bemüht sich, die Gemeinde so lang wie möglich in Gang zu halten.

Eine Zeit lang gab es da noch so etwas wie ein Gemeindeleben. Aber nach und nach sind die ersten weggezogen. Von der Gemeinschaft dieser gewachsenen Kleinstadt ist nichts mehr übrig. Die Stadt, die einst im Schatten des Atomreaktors prosperierte, ist für immer Geschichte.

Futaba liegt am Ground Zero von Fukushima.

Dorthin wird so schnell niemand zurückkehren. Zur Zeit laufen Verhandlungen, das Land der Gemeinde aufzukaufen, um die Bewohner auf Dauer zu entschädigen. Ende Januar wurde der erste Fall entschieden - freilich nur für die Hälfte jener Summe, die die Geschädigten für ihr Grundstück und abgerissene Haus veranschlagt hatten.

Die Fälle werden einzeln entschieden? Es kann Jahre dauern.

Ja, danach sieht es aus. Für diesen einen Fall hat man elf Monate gebraucht, bis TEPCO, der Betreiber des Reaktors, sich zur Zahlung wenigstens der halben Forderungssumme bereitfand. Für die Entwurzelung zahlt niemand.

Glauben Sie, dass es strukturelle Veränderungen in der japanischen Gesellschaft geben wird, hin zu mehr Eigenverantwortung der Leute?

Das hoffe ich. Die Ausbeutung der ländlichen Bevölkerung durch städtische Lobbys und das Kapital muss endlich aufhören. Sobald eine Stadt mal Standort eines Reaktors war, musste sie auch den zweiten und den dritten Standort genehmigen - weil die Fördergelder, die mit der Erstansiedlung des Reaktors einhergingen, nach 15 Jahren versiegen. In die erste Genehmigung wird man reingeredet, dann gewöhnt man sich an das Geld, das den Bau von Sportanlagen und Gemeindezentren ermöglicht, und schon ist man gefangen. Es wird Zeit, dass solche Abhängigkeiten endlich aufhören. Selbst Hiroshima hat ein Atomkraftwerk - können Sie sich das vorstellen?!

Wieso gibt es das?

Das war das Resultat einer besonders subtilen Propagandakampagne: Hiroshima hatte das Schlimmste erlebt, nun sollte es auch in den Genuss der »guten« Seiten von Atomkraft kommen. Heute werden Unterschriften gesammelt für ein Referendum gegen die Atomkraft. Es wäre das erste von dieser Bedeutung in der Geschichte des Landes.

Interview: Caroline M. Buck

* Aus: neues deutschland, 16. Februar 2012


Monate auf Matten

"Nuclear Nation" erzählt, wie es in Fukushima weiterging

Von Grit Lemke **


Nachdem man die Hoffnung schon aufgegeben hatte, daß auf dieser Berlinale noch intelligentes politisches Kino zu sehen sein würde, taucht ganz am Ende doch noch jemand auf, der den Unterschied zwischen Dokumentation und Dokumentarfilm, also zwischen Journalismus und Kunst begriffen hat. Für »Nuclear Nation« ist der japanische Filmemacher bei den Einwohnern der Provinz Fukushima geblieben, als der Troß der Medienleute seine Schreckensbilder im Kasten hatte und längst weitergezogen war. Genau hier beginnen Geschichten. Um sie erzählen zu können, braucht es etwas, das unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen kaum ein Filmemacher mehr hat: Zeit. Woche um Woche verbrachte Funahashi in einer zum Flüchtlingslager umfunktionierten Tokioter Schule und begriff, daß sein Film vom Warten handeln mußte. Denn das ist es, was den Alltag der Menschen von Futaba jetzt ausmacht.

Die einst arme Stadt hatte in der Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung und Prosperität vor Jahrzehnten die Atomkraft freudig begrüßt, wovon heute noch Aufsteller mit Losungen künden. Sie sind auf groteske Weise fast das einzige, was von der Kleinstadt mit einst 6500 Einwohnern, auf deren Stadtgebiet Teile der Atomanlage stehen, außer Trümmern übrig geblieben ist. 1500 Einwohner fanden sich aus einer Existenz als Kleinbauern, Händler oder Atomarbeiter ins Nichts katapultiert. Fortan sitzen sie auf Matten in ehemaligen Unterrichtsräumen und warten. Auf die nächste Essensausgabe, den nächsten Auftritt einer Militärband mit lustigen Schlagern im Innenhof, die nächste Verlautbarung der Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik. Die aber haben die Menschen von Futaba auf ihren Isomatten längst vergessen.

Zeit ist eines der wichtigsten Elemente des Films, und eine der größten künstlerischen Herausforderungen ist es, ihr Nicht-Vergehen zu visualisieren, ohne daß das Kunstwerk so öde wird wie die Realität, die es zum Gegenstand hat. Funahashi gelingt dies vor allem durch ein kluges Verhältnis von Stillstand und Bewegung in der Montage. Einer seiner Protagonisten ist ein Bürgermeister, dessen Wirkungsgebiet von einer Stadt auf eine Schule zusammengeschrumpft ist und dessen Versuche, bei der Politik (die nach dem Grußwort immer schon verschwunden ist) Gehör zu finden, so rührend wie sinnlos sind. Zunehmend absurd erscheinen alle Handlungen. Wenn die Bürger in weißen Schutzanzügen für zwei Stunden in ihre Stadt zurückdürfen, ist das wie in einem Stück von Ionescu. Da gehört auch der Bauer hin, der sich weigerte, seine Tiere zu töten und nun allein mit ihnen ausharrt. Die Kühe, erleichtert von der Last der Nutztierhaltung und quasi aus dem kapitalistischen Verwertungssystem ausgestiegen, streifen frei und als neue Herren durch das verseuchte Gebiet, in dem es keine Menschen mehr gibt, während ihre Artgenossen verhungert, verdurstet und mumifiziert in den Nachbarställen liegen.

Bilder wie diese erheben den Film zu einer gespenstischen Metapher auf das Ende einer Hybris, die Wachstum heißt, denn es geht natürlich um mehr als nur Atomkraft. Dies begreifen auch die Bürger von Futaba im Verlauf der Monate, in denen der Film ihren Prozeß vom zen-buddhistischen Sich-Fügen bis zu reiner, für einen Japaner fast undenkbarer Wut anschaulich verfolgt. Auf die materielle Zerstörung aller Güter und die Verseuchung des Bodens und der Luft folgt die moralische Zersetzung: Ein Bauer, der seine Scholle nicht mehr bestellen kann, wird zum alten und kranken Mann. In der klaustrophobischen Enge der Schule werden Kinder zur nervenden Störung, Familien zerbrechen. Am Ende scheint nichts mehr übrig. Nur die Hoffnung der Bürger von Futaba, die zum eigentlich Gespenstischen wird. Während ihre Region nunmehr offiziell zur Lagerzone für kontaminierte Abfälle erklärt wurde, sitzen 500 von ihnen noch heute auf ihren Matten im Klassenraum. Und warten.

»Nuclear Nation«, Regie: Funahashi Atsushi, Japan 2012, 145 min, Berlinale

** Aus: junge Welt, 18. Februar 2012


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