Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Vorbild Japan

Wirtschaftliche Stagnation und massive Überschuldung nach Bankenrettung halten das Land seit zwanzig Jahren in Dauerkrise. Menetekel für Europa?

Von Rainer Rupp *

Die Notenpresse gilt überforderten Politikern und Kapitalmagnaten als probates Mittel gegen die Krise. Und so drucken die Zentralbanken der großen Industrieländer seit einiger Zeit wieder exzessiv Geld. Nur die Europäische Zentralbank (EZB) hält sich derzeit etwas zurück. Dafür überschwemmt die US-Notenbank Fed die Finanzmärkte jeden Monat mit zusätzlichen 85 Milliarden Dollar, um die reale Wirtschaft endlich anzukurbeln. Bisher vergeblich. Berichten zufolge bereitet auch die britische Notenbank unter ihrem neuen Chef in diesem Jahr eine Liquiditätsflut im Volumen von 300 Milliarden Pfund vor. Und in Japan hat die neue Regierung des reaktionären Alt-Neu-Premiers Shinzo Abe mit einem kalten Finanz-Staatsstreich die Notenbank des Landes unter ihre Kontrolle gebracht und sie zum vermehrten Gelderzeugen gezwungen. Ziel ist es, eine jährliche Inflationsrate von zwei Prozent zu »produzieren«. Vermeintlich gezielte Geldentwertung gilt in Tokio als das Heilmittel gegen die japanische Krankheit. Deren Symptome: Eine seit über 20 Jahren dahinsiechende Wirtschaft und aufgehäufte Staatsschulden, die derzeit bei unhaltbaren 225 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP) liegt. Kurz – die Schulden sollen weginflationiert, die Wirtschaft angekurbelt werden.

Mit einer jährlichen Inflationsrate von »nur« zwei Prozent würde durch Zinseszins der heutige Geldwert der japanischen Staatsschuld in 32 Jahren halbiert – vorwiegend auf Kosten der Sparguthaben kleiner Leute. Diese Strategie birgt wegen signifikant höherer Zinszahlungen erhebliche Gefahren für die Regierung: Derzeit wirft ein japanischer Schatzbrief mit zehnjähriger Laufzeit nur 0,74 Prozent »Rendite« ab. Kommen zwei Prozent Inflation hinzu, müssen daraus mindestens 2,74 Prozent Zinsen werden, wenn die neuen Schuldverschreibungen verkaufsfähig werden sollen. Etwa 200 Prozent der japanischen Staatsverbindlichkeiten haben eine Laufzeit von weniger als zehn Jahren. Was bedeutet, im Laufe der kommenden Jahre muß die Regierung auf einen immer größeren Teil ihres Schuldenstocks mindestens 2,74 Prozent Zinsen zahlen, bis nach Ablauf von zehn Jahren für 200 Prozent der alten Schulden gilt. Nicht mitgezählt dabei sind die bis dahin neu aufgenommenen Kredite.

Beim aktuellen Renditeversprechen auf Staatsschuldpapiere (0,74 Prozent) muß Tokio knapp drei Prozent des BIP für Zinsen aufbringen. Für jeden Prozentpunkt, um den diese Zinsen, bzw. die Inflation steigen, sind zusätzliche zwei Prozent des BIP fällig, um den alljährlichen Schuldendienst zu leisten. Bei dem nun zu erwartenden Mindestzinssatz von 2,74 Prozent im Jahr 2023 müßte Japans Regierung also sieben Prozent des BIP hinblättern, und womöglich noch viel mehr: Nämlich dann, wenn es nicht gelingt, den losgelassenen Tiger mit Namen »Inflation« zu reiten und auf dem Zwei-Prozent-Pfad zu halten.

Die hohe Verschuldungsquote Tokios ist vor über 20 Jahren durch die »Rettung« der großen Banken des Landes entstanden. Damals war im Reich der aufgehenden Sonne eine wahrhaft gigantische Immobilienblase geplatzt und hatte die damals mit Abstand zweitstärkste Wirtschaftsmacht der Welt in eine tiefe Krise gestürzt. Welche Ausmaße die Spekulation angenommen hatte, verdeutlichen zwei Beispiele: 1990 wurden die Häuser und Grundstücke, die in jenem Quadratkilometer um den Tokioter Kaiserpalast stehen, zu einem höheren Wert als alle New Yorker Immobilien zusammen gehandelt. Die unbeweglichen Vermögenswerte des Großraums Tokio verbuchten japanische Banken damals mit einer höheren Summe als der gesamte Grund und Boden mitsamt Gebäuden in den USA wert war.

Die Banken hatten diesen Wahnsinn finanziert, sich selbst beteiligt und waren am Ende hoffnungslos überschuldet. Doch statt sie in diesem Zustand zu beerdigen, wurden sie auf Staatskosten reanimiert. Damals wie heute waren und sind Finanzkapital und politische Eliten eng verflochten. Trotz »Rettung« ist es bis heute nicht gelungen, alle »Leichen« aus den Kellern der Geldhäuser zu entsorgen. Daher ist der japanische Finanzsektor von einem Motor zum Mühlstein am Hals der Wirtschaft geworden. Das Resultat: Seit 20 Jahren wird das Abgleiten in die Depression durch immer neue Geldspritzen verhindert bzw. verschoben.

Seit langem sprechen Kritiker von Japans »verlorenen Jahrzehnten«. Die auffälligen Parallelen zu der Entwicklung in Europa und den USA seit Beginn der aktuellen Krise sind nicht zufällig. Auch hier wurde viel von der notwendigen Bereinigung der Finanzbranche gesprochen. Statt dessen wird versucht, die Probleme der maroden Privatgeldhäuser zu immer höheren Kosten für die Gesellschaft notdürftig zu versorgen. Man will Zeit gewinnen, hofft, worauf auch immer – bis die nächste Notoperation fällig wird. Japan hat das seit fast einem Vierteljahrhundert vorgelebt, und Kenner der Materie befürchten, daß auch den meisten europäischen Ländern eine Entwicklung wie in Nippon bevorsteht.

* Aus: junge Welt, Samstag, 23. Februar 2013


Zurück zur Japan-Seite

Zurück zur Homepage