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Japans Bauern vor dem Bankrott

Immer mehr Lebensmittel in Japan radioaktiv verstrahlt / Bauern fordern Entschädigung von Reaktorbetreiber Tepco

Von Susanne Steffen *

Erst das Gemüse, dann das Fleisch, bald der Reis: Immer mehr Lebensmittel in Japan sind radioaktiv verstrahlt. Die Verbraucher haben kein Vertrauen mehr in die Lebensmittelkontrolle und weichen auf Importe aus. Den Bauern droht der Bankrott.

An das Reisstroh hatte niemand gedacht. Monatelang wurden Schlachtrinder in ganz Japan mit Reisstroh aus Fukushima und Umgebung gefüttert, das in den Tagen nach der Reaktorkatastrophe im Freien gelagert worden war. Weder die Tepco, der Betreiber des harvarierten Atomkraftwerks, noch die Regierung hatten die Bauern vor der Strahlengefahr gewarnt. Es gab weder Fütterungsverbote noch Anweisungen, das Stroh nicht im Freien zu lagern.

Dieses Versäumnis löste jetzt einen der größten Lebensmittelskandale des Landes aus. Erst als zufällig bei der Kontrolle einer Fleischprobe sehr stark erhöhte Strahlung gemessen wurde, kamen die staatlichen Kontrolleure auf die Idee, das Stroh auf Radioaktivität zu testen. Sie maßen Strahlenwerte, die zigtausendfach über den zulässigen Grenzwerten lagen. Doch da war es bereits zu spät. Mehrere Tausend verseuchte Rinder waren schon geschlachtet und zum Teil sogar verzehrt. Wie in jedem Jahr hatten Fukushimas Bauern ihr Stroh auch in andere Landesteile verkauft, wo es an die edelsten Markenrinder verfüttert wurde. Zwar sind längst nicht alle Kobe-, Matsuzaka- und anderen Rinder verstrahlt, doch der Rindfleischpreis rutscht von Rekordtief zu Rekordtief. Jetzt versucht die Regierung zu retten, was noch zu retten ist. In den vier am schlimmsten betroffenen Präfekturen sind mittlerweile alle Rinderexporte verboten. Selbst die mehr als 700 Kilometer von den harvarierten Reaktoren entfernt liegende Präfektur Shimane will jedes einzelne Rind vor der Ausfuhr auf Radioaktivität testen, nachdem bekannt wurde, dass auch dortige Rinder mit verstrahltem Reisstroh gefüttert worden waren. Immer mehr Rinderzüchter stehen vor dem Bankrott.

Kontrollen ohne Vertrauen

Trotz der Versicherungen der Regierung, alle im Handel erhältlichen Lebensmittel seien sicher, wächst die Angst der Verbraucher vor radioaktiv verseuchter Nahrung. Das Vertrauen der Verbraucher in das staatliche Kontrollsystem ist dahin. Es werde zu wenig und zu unsystematisch gemessen, kritisieren auch Experten. Außerhalb der Evakuierungszone gibt es selbst in den am schlimmsten verseuchten Gebieten kein allgemeines Auslieferungsverbot für landwirtschaftliche Produkte. Sobald in einer Stichprobe erhöhte Strahlenwerte gemessen werden, dürfen alle Bauern der betreffenden Gemeinde dieses Produkt vorerst nicht mehr ausführen. Alle anderen Produkte aus dem gleichen Gebiet dürfen solange weiter exportiert werden, bis auch dort zu hohe Werte gemessen werden. Die Regierung warnte immer wieder vor den immensen wirtschaftlichen Schäden, die angeblich unbegründete Ängste über verseuchte Lebensmittel in der Region anrichten können. Doch die Gruppe der Misstrauischen, die jede Importware einem heimischen Produkt vorzieht, wird täglich größer.

Nur bei Reis sind die allermeisten Japaner nicht bereit, auf Importware umzustellen. Denn Reis ist nicht nur das Hauptnahrungsmittel in Japan, sondern für viele Japaner auch ein wichtiges Kulturgut, ein Symbol für die nationale Identität. In den nächsten Tagen und Wochen beginnt die Reisernte. Nicht zuletzt weil verseuchtes Reisstroh die Ursache für den Rindfleischskandal war, sind die Verbraucher zutiefst verunsichert. Mindestens 14 Präfekturen wollen ihre Reisernte in einem zweistufigen Verfahren auf Radioaktivität testen. Doch vor allem Mütter mit kleinen Kindern lassen sich von solchen Ankündigungen nicht mehr beruhigen. Während in normalen Sommern Reis aus der Vorjahresernte selbst bei Schleuderpreisen ein Ladenhüter bleibt, reißen sich nun die Kunden um die letzte garantiert saubere Ernte. »Wir bekommen ständig Anfragen, dass wir eine ganze Jahresration Reis aus der Ernte von 2010 für einen Kunden einlagern sollen«, erzählt ein Reishändler im japanischen Privatfernsehen. Er rät den Kunden ab – zu groß sei die Gefahr, dass Maden den Reis ungenießbar machten. Dennoch stieg der Preis der Vorjahresernte bei einigen Reissorten um gut 50 Prozent im Vergleich zu dem Preis, den sie vor dem verheerenden Erdbeben am 11. März erzielt hatten. In der mehr als 300 Kilometer südlich der Krisenreaktoren gelegenen Präfektur Shizuoka, die im Frühjahr wegen hoher Strahlenwerte in grünem Tee in die Schlagzeilen geraten war, wurden gerade die ersten Testergebnisse für die neue Ernte veröffentlicht. Im dortigen Reis wurde weder radioaktives Jod noch Cäsium nachgewiesen. Doch einige der wichtigsten Reisanbaugebiete des Landes liegen im von der Reaktorkatastrophe besonders stark betroffenen Nordosten des Landes. Sollten die dortigen Reisbauern ihre Ernte nicht ausliefern können, droht eine neue Bankrottwelle.

Tepco soll zahlen

»Entschädigung für unsere Verluste!«, skandierten in dieser Woche 350 wütende Bauern vor der Tokioter Zentrale des AKW-Betreibers Tepco. Dass der Staat ihre ungenießbaren Produkte aufkaufen will, reicht ihnen nicht. Sie wollen eine Entschädigung des AKW-Betreibers für den möglicherweise dauerhaften Verlust des guten Rufes. Doch offenbar will sich der Stromgigant nicht für jeden Skandal im Gefolge der Reaktorkatastrophe die Alleinschuld geben lassen. Zwar stellte sich tatsächlich ein Konzernvertreter den Demonstranten, nahm formvollendet die Liste der Forderungen entgegen und entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten, die sein Unternehmen den Bauern bereitet. Er stellte auch eine faire Entschädigung in Aussicht. Doch hinter den Kulissen, wenn die Kameras abgeschaltet sind, klingen die smarten Tepco-Manager offenbar ganz anders. Auf konkrete Anfragen hätten in der Krisenregion stationierte Tepco-Vertreter geantwortet, die Bauern seien selbst schuld, wenn sie verstrahltes Reisstroh verfütterten, erklärte die Bauernvereinigung, die die Demonstration organisiert hatte. Mittlerweile entschuldigte sich die Tepco für das unsensible Verhalten ihrer Manager. Doch so einfach lässt sich die Lebensmittelkrise nicht entschärfen.

* Aus: Neues Deutschland, 8. August 2011


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