Der Kampf um Artikel 9 der japanischen Verfassung
Von Tadaaki Kawata
Ich möchte den Organisatoren der Konferenz* dafür danken, dass ich Gelegenheit
habe, hier in diesem Workshop zu sprechen. Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen,
über die Japanische Friedensbewegung zu berichten. Wir hatten Besuch von
vielen Friedensfreundinnen und Friedensfreunden aus Deutschland, die die diesjährige
Konferenz in Hiroschima und Nagasaki besucht haben. Euer Engagement für
die atomare Abrüstung ermutigt uns wirklich. Gleichzeitig glaube ich, dass es für
unsere Bewegungen in Japan und Deutschland von großer Bedeutung ist, den Austausch
und die Zusammenarbeit zu fördern, insbesondere im Jahr des 60. Jahrestages
des Kriegsendes. Wir leben in Ländern, die im letzten Krieg Aggressoren waren.
Zwei Länder, die in die internationale Gemeinschaft mit der festen Verpflichtung
zurückgekehrt sind, nie mehr ein Land zu sein, von dem Krieg ausgeht. Ich
glaube, dass die japanische Friedensbewegung zwei Grundlagen hat: Die eine ist
die Anklage, die die Opfer von Massenvernichtungswaffen wie Atombomben gegen
den Krieg erheben, die andere ist die Verantwortung, die sich aus dem japanischen
Militarismus ergibt. An diese beiden Aspekte denke ich, wenn ich Euch über
die japanische Friedenbewegung berichte und mit Euch über die Rolle nachdenke,
die Japan in der heutigen Welt zu übernehmen hat.
Der 2. Weltkrieg und das Nachkriegs-Japan
Nach dem 2. Weltkrieg gab sich Japan auf der Grundlage von ernster Reflektion
über die Aggression, die es über die Länder Asiens gebracht hat, eine Demokratische
Verfassung und machte damit bei der Schaffung einer friedlichen Nation einen
Schritt vorwärts. In der Präambel und im zentralen Artikel 9 der Japanischen
Verfassung heißt es:
„Wir, das japanische Volk, handelnd durch unsere rechtmäßig gewählten Vertreter
im nationalen Parlament, entschlossen für uns und unsere Nachkommen die
Früchte friedlicher Zusammenarbeit mit allen Nationen und das Glück der Freiheit
in unserem ganzen Lande zu sichern und nie wieder durch Handlungen der Regierung
von den Gräueln eines Krieges heimgesucht zu werden, erklären hiermit, dass
die souveräne Macht beim Volke ruht und setzen diese Verfassung fest.“
Art. 9, Abs. 1:
„In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung
gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle
Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung
oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten.“
Art. 9, Abs. 2:
„Um das Ziel des vorhergehenden Absatzes zu erreichen, werden
keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhalten. Ein
Recht des Staates zur Kriegsführung wird nicht anerkannt.“
Das ist der Eid, den das japanische Volk ablegte, nie mehr eine Nation zu sein,
die Krieg führt. Er zeigt auch die japanische Entschlossenheit unter Verzicht auf
Krieg und mit dem Verbot Streitkräfte zu besitzen, führend bei der Schaffung einer
Welt ohne Krieg zu sein. Die Verpflichtung zum Frieden schuf in der Nachkriegszeit
eine Politik, die nach friedlichen Lösungen bei internationalen Konflikten
suchte.
Indes änderten in den 1950er Jahren die USA, welche die Vorherrschaft über Japan
hatten, ihre Politik gegenüber Japan. Dies führte zur Wiederbewaffnung Japans
als „Vorposten gegen den Kommunismus in Asien“. Seither ist Japan eng in die
globalen Strategien der USA eingebunden. Die Frage ist, ob Japan entweder seine
ursprüngliche Nachkriegspolitik aufgibt und den USA in ihrer hegemonialen Politik
folgt oder ob es Initiativen ergreift, die auf den friedlichen Grundsätzen seiner
Verfassung begründet sind.
Heute wächst das Streben nach einer Welt ohne Krieg. In Anti-Kriegs-
Kampagnen fordern die Menschen „No War“ und „Verteidigt die UNO“. Aber
nicht nur die Menschen, auch viele Regierungen setzen sich für eine Welt ein, die
auf der Charta der Vereinten Nationen begründet ist. Militärbündnisse sind in der
heutigen sich ändernden Welt nicht mehr von Bedeutung.
US-Basen in Japan und die Militärallianz
Die heutige japanische Politik steht in völligen Gegensatz zu dieser Entwicklung.
Die US Militärbasen in Japan zeigen beispielhaft, dass Japan noch immer von den
USA beherrscht wird und den USA untergeordnet ist. Auch 60 Jahre nach dem
Ende des 2. Weltkriegs gibt es noch über alle Teile Japans verteilt, einschließlich
Okinawa und der Hauptstadt Tokio, 135 US Militärbasen mit 54.000 Soldaten.
Diese Militärbasen bringen der Bevölkerung ernsthafte Probleme wie die Zerstörung
der Umwelt, Lärm, Flugzeugabstürze und Kriminalität.
Darüber hinaus können die japanischen Behörden weder die Aktivitäten der
USA beschränken noch Kriminelle gefangen nehmen, denn das US Militärpersonal
ist nicht den Gesetzen des Landes unterworfen. Das ist eine völlig unnormale Situation
für eine unabhängige Nation.
Gleichzeitig sind Expeditionscorps, die ihr Einsatzgebiet in anderen Länder haben,
in Japan stationiert, wie z.B. ein Marinecorps und Einsatztruppen auf Flugzeugträgern;
so etwas gibt es in anderen Ländern, die mit den USA verbündet sind,
nicht. Dadurch wird Japan zu einer starken Festung der US-Aggression und Einmischung.
Heute versucht die US-Administration, die japanisch-amerikanische Allianz in
eine aggressivere weltweite Militärallianz auszuweiten, unter der Japan gezwungen
ist, zusammen mit den USA einen Angriffskrieg wie gegen den Irak zu führen. Im
letzten Oktober wurde von beiden Regierungen ein Dokument mit dem Titel „Die
Allianz zwischen den USA und Japan: Transformation und Neuordnung für die Zukunft“ herausgegeben. Sein Inhalt ist äußerst besorgniserregend, enthält es doch
folgende Verpflichtungen:
- die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie mit dem Ziel, gemeinsame
Militäraktionen in jedem Teil der Welt durchzuführen,
- die Vereinbarungen für gemeinsame Operation beider Streitkräfte (so genannte
Selbstverteidigungskräfte),
- die Ausweitung der Aufgaben von US Militärbasen in Japan und auf Kosten
von Japan; die finanziellen Lasten tragen die Menschen in Japan.
Die Neuordnung und Erweiterung der US Militärbasen in Japan ist Ursache für
großen Zorn und Besorgnis der Gemeinden wie der Anwohner, in denen sich diese
Militärbasen befinden. Eine breite Zusammenarbeit gegen die Neuordnung wächst
ungeachtet der verschiedenen politischen Auffassungen.
In Okinawa, wo 75 % der US Militärbasen konzentriert sind, besteht ein konsequenter
und andauernder Kampf gegen den Plan, einen neuen US Marinestützpunkt
vor der Küste von Henoko zu errichten, wo gefährdete Arten wie die Seekuh Dugong
leben.
In Tokio sind die Menschen gegen die Errichtung eines neuen gemeinsamen japanischen
und US-amerikanischen Hauptquartiers für die Luftwaffenstürzpunkte.
Am 5. November fand eine große Aktion zur Umrundung der Basis statt.
In Kanagawa, in der Nähe von Tokio, wächst eine große Opposition gegen die
Verlagerung des Hauptquartiers der US-Armee in Zama und die Stationierung von
atombetriebenen Flugzeugträgern in Yokosuka Bay. Eine große Demonstration mit
mehr als 10.000 Teilnehmern fand am 26. November statt.
Der japanisch-amerikanische Sicherheitsvertrag sollte außer Kraft gesetzt werden
und die US Streitkräfte und ihre Militärbasen sollten abgezogen werden. Danach
sollte ein japanisch-amerikanischer Freundschaftsvertrag auf gleicher Augenhöhe
geschlossen werden. Japan muss sich aus der Militärallianz zurückziehen und
den Weg der Blockfreiheit und Neutralität beschreiten.
Wir arbeiten mit allen Kräften daran, um eine Stimmung in der Öffentlichkeit zu
schaffen, die dies ermöglicht.
Die japanische Verfassung
Die Politik einer Stärkung der japanisch-amerikanischen Allianz steht mehr und
mehr im Widerspruch zur japanischen Verfassung, insbesondere zu Artikel 9. Bisher
hat die regierende LDP diese Politik durch eine die Verfassung verfälschende
Interpretation gerechtfertigt, aber die Wirklichkeit überschreitet diese Grenzen bei
weitem. Die US Administration hat die japanische Regierung unter Druck gesetzt
und gefordert, eine Verfassungsänderung durchzuführen, die die Änderung des
Artikels 9 einschließt. Es ist kein Zufall, dass die LDP den Entwurf einer revidierten
Verfassung genau zum dem Zeitpunkt herausbrachte, zu dem auch das oben
erwähnte gemeinsame japanische-amerikanische Dokument erschien. Der Entwurf
der LDP streicht die Verpflichtung den Besitz von bewaffneten Streitkräften zu
verbieten. Er beseitigt das Verbot der Gewaltanwendung durch die japanischen
Streitkräfte und ermöglicht Japan den uneingeschränkten Einsatz in militärischen
Aktionen mit den USA.
Aber es ist nicht so einfach für die japanische Regierung und die USA, diese
Verfassungsänderung durchzuführen, weil in der Öffentlichkeit ein starker Widerstand
gegen die Verfassungsänderung wächst. Jede Meinungsumfrage zeigt, dass
mehr als 60 % der Bevölkerung einer Änderung des Artikels 9 nicht zustimmen,
während die Mehrheit eine grundsätzliche Überprüfung der gewärtigen Verfassung
unterstützt. Mehr als 80 % der Parlamentsmitglieder sind für eine Verfassungsänderung,
aber die Öffentliche Meinung blockiert einen einfachen Weg. Die „Artikel
9 Vereinigung“ (http://www.9-jo.jp/en/index_en.html), die von bekannten Persönlichkeiten
ins Leben gerufen wurde, darunter dem Nobelpreisträger Kenzoburo
Ohe, entwickelt sich überall in Japan schwunghaft. Mehr als 3.600 örtliche Gruppen
haben sich inzwischen gebildet. Selbstverständlich sind auch viele andere Organisationen,
darunter die Gewerkschaften, sehr aktiv in dieser Kampagne.
Das Problem des Yasukuni Schrein – eine Frage der Geschichte
Die Besuche von Premierminister Koizumi am Yasukuni Schrein sind für die Nationen
Asiens, die unter der japanischen Aggression gelitten haben, Grund zur Besorgnis.
Der Yasukuni Schrein ist nicht nur ein religiöser Ort, sondern auch eine
Einrichtung, die Kriegsverbrecher des 2. Weltkriegs verehrt und eine besondere
Sicht auf den japanischen Aggressionskriegs verbreitet, indem behauptet wird, der
Krieg sei ein „Verteidigungskrieg“ oder ein „Befreiungskrieg für die Völker Asiens“
gewesen. Die LDP hat nie eine klare, kritische Position zum japanischen
Aggressionskrieg bezogen. Gleichwohl sind die heutigen Probleme ernster denn je,
seit die LDP versucht, den „guten Namen“ des Angriffskriegs öffentlich wieder
herzustellen.
Das Problem des Yasukuni Schreins hat der japanischen Diplomatie einen ernsthaften
Stillstand eingebracht, insbesondere in den Beziehungen zu China und Korea.
Koizumis Besuche am Yasukuni Schrein sind eine Herausforderung der bestehenden
Weltordnung, die die Bestimmung hatte, Aggressionskriege, wie sie von
Japan, Deutschland und Italien geführt wurden, nicht zu wiederholen. Die Besuche
am Yasukuni Schrein bringen die Ablehnung wesentlicher Grundlagen der Nachkriegspolitik
zum Ausdruck. Das ist der Grund, weshalb sie weltweit kritisiert
werden.
Die japanische Friedensbewegung hält an der Verantwortung für den Krieg fest
und verlangt von der japanischen Regierung eine eindeutige Stellungnahme zu dem
Problem. So organisiert unsere Bewegung z.B. auf lokaler Ebene jeden Sommer
Ausstellungen über den japanischen Angriffskrieg und führt verschiedene Aktionen
durch, um gegen den Besuch am Yasukuni-Schrein zu protestieren. Der Grund
dafür, dass wir eine so klare Position zu den Fragen des letzten Krieges haben,
besteht darin, dass wir dem Geist und der Tradition der Antimilitaristen folgen, die
trotz harter Unterdrückung gegen den japanischen Militarismus kämpften.
Die heutige Rolle Japans
Heute kommen in Asien erneut Strömungen auf, die sich für den Frieden einsetzen.
Die herrschenden Kräfte in Ostasien machen Fortschritte darin, die Anwendung
von Gewalt und die Drohung, sie anzuwenden, nicht zuzulassen, sondern Konflikte
friedlich zu lösen. Das regionale Forum der ASEAN fungiert als runder Tisch, der
unter Teilnahme von Nordkorea, Indien und Pakistan gemeinsam mit Japan und
den USA Sicherheitsfragen berät. Die Sechsergespräche über das nordkoreanische
Atomwaffenprogramm sind auch auf dem Weg. Alles das sind Bemühungen, die
im Einklang mit den friedlichen Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen
stehen. Japan hat die Aufgabe, die Militärbündnisse zu kündigen und eine aktive
Rolle bei der friedlichen Lösung von internationalen Konflikten zu übernehmen.
Für Japan ist es außerdem von großer Bedeutung, eine führende Rolle bei Initiativen
zur atomaren Abrüstung zu übernehmen.
Zusammenfassung
Wir haben eine umfangreiche internationale Zusammenarbeit mit Friedenbewegungen
insbesondere in Fragen fremder Militärstützpunkte und in Fragen der Abschaffung
von Atomwaffen. Wir führen jedes Jahr eine japanische Friedenskonferenz
durch, an der Friedensaktivisten, die aktiv gegen Militärstützpunkte arbeiten,
teilnehmen. Im Jahr 2000 hat auch ein Vertreter des Deutschen Friedensrates daran
teilgenommen. An der Weltkonferenz gegen Atom- und Wasserstoffbomben nehmen
auch Regierungsvertreter teil; dadurch ist diese Konferenz zu einem Forum
der internationalen Zusammenarbeit für die atomare Abrüstung geworden. Durch
diese Aktivitäten bemühen wir uns, internationale Kampagnen für eine friedliche
und gerechte Weltordnung auf der Grundlage der UNO-Charta voranzubringen. Ich
hoffe, dass die Beziehung zwischen den Friedensbewegungen in Japan und
Deutschland in Zukunft gemeinsame Ziele entwickelt.
* Tadaaki Kawata sprach auf dem Friedenspolitischen Ratschlag im Dezember 2005 in der Universität Kassel.
Die Rede ist dokumentiert in:
Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski (Hrsg.): Neue Kriege in Sicht. Menschenrechte - Konfliktherde - Interessen.
Jenior-Verlag: Kassel 2006, Kasseler Schriften zur Friedenspolitik Bd. 13 (ISBN 3-934377-95-5), S. 312-316
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