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Erschütterte Gewissheiten

Japan ist auch ein Jahr nach der Atomkatastrophe von Fukushima noch in seinen Grundfesten getroffen

Von Daniel Kestenholz *

In Japan ist seit dem 11. März 2011 nichts mehr so, wie es war. Der Mythos der Sicherheit der Atomenergie ist nach der Katastrophe von Fukushima auch in Nippon ad acta gelegt. Fukushima ist derweil noch längst nicht Geschichte.

Es wirkt alles erschreckend improvisiert bei Fukushima Daiichi. Wo vor einem Jahr Kernschmelzen in Gang waren, die um ein Haar die Evakuierung von Tokio auslösten, liegen vor den drei am meisten beschädigten Reaktoren noch immer vom Monstertsunami zerknüllte Trucks. Um die Skelette von Gebäuderuinen türmen sich Schuttberge mit ineinander verkeilten Stahlträgern. In weiße Schutzanzüge gekleidete Arbeiter eilen ameisengleich durch die Endzeitlandschaft.

Dass die Ordnung und Sauberkeit gewohnten Japaner noch ein Jahr nach der Stunde Null gerade mal Reaktor 2 in eine Schutzhülle verkleiden konnten, spricht Bände über die Schwierigkeit der Aufgabe, die Folgen der Atomkatastrophe vom 11. März 2011 zu bewältigen. Zehn Meter hohe Tsunamiwellen spülten damals über die Küste herein, versetzten Japan und die Welt in einen Schockzustand. Die Furcht vor einer Nuklearkatastrophe, deren Langzeitfolgen schon in einem Atemzug mit Hiroshima und Nagasaki genannt wurden, war und ist groß.

J-Village dient Arbeitern als Basislager

Inzwischen wird das damals von der Bevölkerung zwangsweise verlassene Umland wieder bis an den Rand der 20-Kilometer-Evakuierungszone besiedelt. Die Sicherungsarbeiten bei Fukushima Daiichi sind so weit fortgeschritten, dass 3000 Arbeiter in Fünftages-Schichten im Einsatz sind. Länger als zwei bis drei Stunden pro Tag darf noch immer nicht gearbeitet werden - immerhin eine deutlich verbesserte Lage im Vergleich zu den Strahlungswerten von 250 Millisievert pro Jahr gleich nach dem Unglück, was Arbeitseinsätze von höchstens zwei Minuten erlaubte.

Als Basislager dient das sogenannte J-Village am Rande des Evakuierungsrings, eine ehemalige Fußballanlage, deren Hallen zu Schlaf- und Wohnräumen umfunktioniert wurden. Die Busfahrt an die Küste führt durch verlassene Dörfer und Felder. Geigerzähler zeigen erhöhte Strahlung an, dann und wann sind herumstreunende Hunde und wilde Kühe zu sehen.

Derzeit herrschen noch winterliche Temperaturen. Keine Bäume blühen, Wiesen und Felder sind braun. Beim AKW fallen dem Besucher gleich die rosafarbenen Gummiplanen auf, die schon den Fußboden des Busses bedeckten. Auch im Kommandozentrum sind Böden und Wände mit dem rosa Material ausgelegt. Um die Vergiftung von Innenräumen durch verseuchte Luft von außen zu verhindern, erklärt ein Verantwortlicher von AKW-Betreiber Tepco. Alles sei nur eine Frage der Zeit, bis das malerische, hügelige Umland wieder bewohnbar sei, hofft Tepco. Doch bis die letzten Spuren des 11. März 2011 verschwunden sind, dürfte die zweite Hälfte des Jahrhunderts angebrochen sein. Wenn überhaupt.

»Die Hauptherausforderung ist, den Kernbrennstoff aus den Reaktoren zu entfernen«, sagt Takeshi Takahashi, Tepcos neuer Manager der Anlagen. »Technisch wird das äußerst schwierig sein, doch Schritt für Schritt schaffen wir das.« Die Kaltabschaltung der drei Reaktoren sei erreicht und der Alarm unlängst, als die Temperatur in einem Reaktor dramatisch anstieg, sei durch ein kaputtes Thermometer verursacht worden, so Takaha- shi.

100 000 Menschen flohen nach dem 11. März in Panik, ließen ihre Häuser und alles Hab und Gut zurück. Vereinzelt wurde geplündert, Haustiere und Vieh starben, doch man hatte viel größere Sorgen. Japans neue »Hibakusha« (Überlebende) fürchteten eine ähnliche Diskriminierung wie einst die Opfer von Hiroshima und Nagasaki.

Keiner der Fukushima-Flüchtlinge weiß, ob er je wieder nach Hause darf, während die Häuser verwahrlosen und Unkraut unerbittlich die einst schmucken Gärten auffrisst. Nur eine Handvoll Unbeirrbarer verweigerte damals den Räumungsbefehl und blieb zurück bei ihren Höfen. Sie leben ohne fließend Wasser und Strom, doch »nur über meine Leiche« ziehe er weg, sagte unlängst ein Farmer, der weiterhin, in absoluter Einsamkeit, Hof und Kühe pflegt.

»Wir versuchen, dass die Menschen so bald wie möglich nach Hause zurückkönnen«, sagt Tepco-Manager Takahashi, der bei einem Besuch von Journalisten Ende Januar auffallend bleich wirkte. Fragen zu seiner Gesundheit und den dunklen Augenringen wich er aus. Takahashi hatte im Dezember die Nachfolge von Masao Yoshida übernommen. Der ging in Frühpension zur Krebsbehandlung. Takahashis Hauptproblem: Wohin mit den radioaktiv verseuchten Materialien? Die Kühlung der Anlagen verseucht jeden Tag weitere 600 Kubikmeter Kühlwasser, die bis zur Entsorgung gelagert gehören. Auf dem Gelände, wo früher Bäume standen, werden immer neue Wassertanks gebaut.

Tepco speichert gegenwärtig rund 125 000 Tonnen hoch radioaktives Wasser und will die Kapazität auf 205 000 Tonnen erhöhen, das Volumen von mehr als 80 olympischen Schwimmbecken. Dabei wird längst nicht alles Kühlwasser abgefangen. Vieles versickert ins bereits verseuchte Grundwasser, anderes findet den Weg in den Pazifik, wo verseuchter Meeresboden mit Beton versiegelt wird. In den kalten Wintermonaten müssen die Auffanganlagen überdies geheizt werden, damit gefrorenes Wasser nicht die Schläuche, Tanks und Röhren sprengt.

Endloser Kampf gegen Lecks und Risse

Die Speicherung des Wassers bleibt ein Problem, bis die Brennstäbe entfernt sind. Behörden zufolge wird es fast bis 2020 dauern, bis alle Lecks und Risse um die Reaktoren versiegelt sind. Und weitere 25 Jahre, bis die Brennstäbe abtransportiert sind. Ein US-Klärsystem entfernt Öl, Cäsium und Salz aus dem Kühlwasser, ein französisches System ist nicht in Betrieb und ein drittes, japanisches, beschäftigt 160 Arbeiter, die rund um die Uhr das vier Kilometer lange Pumpsystem überwachen. Dabei kann nur das kaum salzhaltige Wasser dekontaminiert werden, das Maschinen nicht beschädigt. Tepco hat Notpumpen und -generatoren installiert auf einem Hügel, damit sie »eher« trocken bleiben, sollte eine neue Tsunamiwelle anrollen. Auch eine zweite Rohrleitung steht als Reserve für die Hauptleitung bereit.

Führende Ingenieure sind in Fukushima Daiichi im Einsatz, und doch wirkt alles noch ein Jahr nach dem Schreckenstag unorganisiert und chaotisch. Die Anlagen muten weiterhin wie das Schlachtfeld an, das der Monstertsunami zurückließ. »Hier ist noch überhaupt nichts sicher«, sagt ein 50-jähriger Arbeiter, der für 8000 Yen am Tag, knapp 100 Dollar, einen brandgefährlichen Job ausführt. Er braucht den Job. Und weiß, hier gibt es noch 40 Jahre lang garantiert Arbeit. Eine Seltenheit im rezessionsgeplagten Japan.

* Aus: neues deutschland, 10. März 2012


Ein Jahr nach Fukushima bleibt viel zu tun

Von Jochen Stay **

Vor gut einem Jahr sorgten 54 Atomkraftwerke in Japan für etwa 30 Prozent der Stromversorgung. Heute sind davon nur noch zwei am Netz und auch diese beiden werden in den nächsten Wochen heruntergefahren. Damit ist in Japan quasi der Sofortausstieg gelungen. Die Wirtschaft ist unter der Vierfachbelastung Erdbeben, Tsunami, Fukushima und Atomausstieg nicht zusammengebrochen. Ganz im Gegenteil: Mit viel Kreativität zeigen die Japanerinnen und Japaner, wie sich Energie einsparen lässt und das Leben in einer Industriegesellschaft trotzdem weiter funktioniert.

Und in Deutschland? Auch hierzulande wurden Konsequenzen aus der Reaktorkatastrophe in Fukushima gezogen - wenn auch nicht ganz freiwillig, konnte doch erst der Protest Hunderttausender die Kanzlerin dazu zwingen, acht Atomkraftwerke abzuschalten.

Doch der Atomausstieg bleibt halbherzig. Neun gefährliche Reaktoren laufen weiter, die meisten davon bis zum Jahr 2022. Die Urananreicherungsanlage im westfälischen Gronau beliefert weiterhin jedes zehnte Atomkraftwerk weltweit mit Brennstoff. Die von Merkel groß angekündigte »Neubewertung der Risiken« endete so schnell, wie sie angefangen hatte. Dabei drängen in den weiter laufenden AKW die Probleme: Sie sind nicht ausreichend gegen Erdbeben, Hochwasser, Flugzeugabstürze oder Probleme mit der Notkühlung ausgelegt.

Obwohl die Reaktorsicherheitskommission des Bundes nach Fukushima keinem AKW in Deutschland gute Noten ausstellen konnte, ist bisher nirgendwo etwas unternommen worden, um die Sicherheit zu verbessern. Die Öffentlichkeit wird damit beruhigt, dass der Atomausstieg ja beschlossen sei. Doch bis Ende 2015 passiert da nichts mehr. Dann soll im bayerischen Grafenrheinfeld ein Meiler vom Netz gehen. Die meisten Stilllegungen sind erst in zehn Jahren geplant. Bis dahin wird es noch drei Bundestagswahlen geben. Das Atomgesetz kann von einer einfachen parlamentarischen Mehrheit geändert werden.

Die großen Stromkonzerne haben als Betreiber der AKW weiter ein erhebliches wirtschaftliches Interesse daran, die Reaktoren möglichst lange laufen zu lassen. Also hat sich ihr betretenes Schweigen nach dem 11. März 2011 längst wieder gewandelt in lautes Klagen über jedes Jahr weniger Laufzeit. Und ihre Freunde in Medien und Politik spielen mit: Die einen erzählen Schauermärchen von steigenden Strompreisen, Blackout-Gefahr und Atomstromimporten - nichts davon stimmt. Die anderen haben in Sachen Energiewende mit Kürzungen bei der Förderung von Wärmedämmung, der Effizienzforschung und beim Ausbau der Solarenergie schon wieder den Rückwärtsgang eingelegt.

Völlig ungelöst ist weiter die Frage, was eigentlich mit dem Atommüll passieren soll, der tagtäglich in den noch laufenden Reaktoren entsteht. Seit November verhandelt eine Bund-Länder-Runde zu diesem Thema und selbst die SPD-Bundestagsfraktion befürchtet, dass am Ende ein Gorleben-Durchsetzungsgesetz dabei herauskommt. Vom maroden Salzstock im Wendland wollen Umweltminister Röttgen und die MinisterpräsidentInnen der Länder einfach nicht lassen. Ein Desaster!

Für die Anti-AKW-Bewegung bleibt jedenfalls noch viel zu tun. Deshalb wird am morgigen ersten Jahrestag von Fukushima an sechs Atomstandorten in Deutschland demonstriert. ** Der 46-jährige Umwelt- und Friedensaktivist Jochen Stay ist Sprecher der Anti-Atom-Organisation »ausgestrahlt«.

Aus: neues deutschland, 10. März 2012 (Gastkommentar)


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