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Japan: Warum die Atomlobby den Premier Naoto Kan zu Fall brachte

Von Josef Oberländer *

Japans Atomlobby hat nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima versucht, die Schuld für die chaotischen Rettungsarbeiten dem damaligen Premierminister Naoto Kan zuzuschieben. Ein jetzt veröffentlichter Bericht einer unabhängigen Kommission zeigt, wie es der Branche gelang, den zum Atomausstieg bereiten Kan zu Fall zu bringen. Die Rebuild Japan Initiative Foundation (RJIF) befragte im Verlauf ihrer sechsmonatigen Untersuchungen mehr als 300 an den Rettungsarbeiten Beteiligte. Nur die Betreibergesellschaft Tepco verweigerte die Mitarbeit. Dabei stellte sich heraus, daß der Atomkonzern die Schrottreaktoren einfach aufgeben und ihr Personal komplett abziehen wollte. Erst nachdem ein erboster Kan am Morgen des 15. März in die Firmenzentrale marschierte, bemühte sich das Unternehmen, die Anlage wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Dennoch wurde Kan immer wieder für Versäumnisse und Fehler verantwortlich gemacht, allerdings vor allem von ausgewiesenen Atombefürwortern. Nach wie vor umstritten ist, ob der ehemalige Bürgerrechtler für oder gegen die Kühlung der Reaktoren mit Seewasser war. Tepco war auf jeden Fall dagegen – schließlich hätten sie danach nicht wieder hochgefahren werden können. Bei dem Stromversorger ging man ganz selbstverständlich davon aus, daß Fukushima Dai-1 früher oder später wieder ans Netz gebracht würde. Die Kommunikation zwischen Tepco-Zentrale und Management vor Ort funktionierte jedoch genausowenig wie die zwischen Zentralregierung und Provinzbürokratie. Yoshida Masao, der Leiter von Fukushima Dai-1, weigerte sich anfangs nicht nur, die Anlage zu räumen, er setzte schließlich auch gegen alle Anordnungen aus der Firmenzentrale Seewasser zur Kühlung ein.

Im Tokioter Regierungsviertel Kasumigaseki, wo man sich nach Kräften bemühte, die Gefahren herunterzuspielen, wurde derweil eine Evakuierung der Hauptstadt durchgespielt. Man befürchtete eine »teuflische Kettenreaktion«, in deren Verlauf weitere Atomanlagen durchbrennen, wie das RJIF-Team aus Anwälten, Journalisten und Professoren herausfand. Nicht ohne Grund: Drei der vier Reaktoren im benachbarten Atomkomplex Fukushima Dai-2 befanden sich ebenfalls kurz vor der Kernschmelze, räumte Masuda Naohiro ein, der seit dem Erdbeben für den Betrieb dort verantwortlich ist. Es habe sehr lange gedauert, die Anlage wieder zu stabilisieren. Fukushima Dai-2 ist nur zwölf Kilometer von der havarierten Anlage entfernt. Dort wurde weit mehr Radioaktivität freigesetzt als bisher bekannt. Die Menge an radioaktivem Cäsium, das vor allem über dem Meer niederging, wird auf mindestens ein Fünftel der bei der Atomkatastrophe von Tschernobyl in die Atmosphäre gelangten Menge geschätzt. Um zu verhindern, daß die radioaktiven Stoffe wieder vom Meeresboden aufgewühlt werden, will die japanische Regierung nun vor Fukushima Unmengen von Beton ins Meer kippen. Das erinnert an die Versuche, die heißgelaufenen Reaktoren mit Wasserwerfern zu kühlen. Erst fünf Tage nach der Katastrophe konnte geklärt werden, ob die im Abklingbecken von Reaktor 4 gelagerten abgebrannten Brennelemente noch mit Kühlwasser bedeckt waren. Daß es zu einer Explosion kommen könnte, bei der das radioaktive Material von mehr als 10000 Brennstäben freigesetzt wird, war bis dahin die Hauptsorge der Regierung gewesen. Ein Gutachten sollte die Auswirkungen eines dramatischen Anstiegs des radioaktiven Fallouts im Umkreis von 250 Kilometern untersuchen.

Die Bevölkerung wird bis heute über die Situation im dunkeln gelassen. Erdbebenforscher warnen, daß die Region schon bald erneut von einem schweren Erdbeben heimgesucht werden könnte. Tepco ist es nicht gelungen, die Reaktoren sicher herunterzufahren. Und schon im kommenden Monat sind die Lagerkapazitäten für radioaktiv verseuchtes Wasser erschöpft.

* Aus: junge Welt, 8. März 2012


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