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Wahlniederlage für Merkel

Politische Konstellation in Italien kommt Berlins Plänen zur Neuordnung Europas in die Quere. Südeuropäer rebellieren gegen das deutsche Spardiktat

Von Tomasz Konicz *

Der Wahlausgang in Italien läßt die Fliehkräfte innerhalb des »Europäischen Hauses« erneut zur Entfaltung gelangen. Das parlamentarische Patt zwischen der gemäßigten Linken sowie den Rechten und populistischen Kräften in Rom führte zu ersten kurzfristigen Kursstürzen auf den europäischen Aktienmärkten und zu einer Erhöhung der Zinsbelastung der meisten südeuropäischen Krisenstaaten. Mit Empörung und wütenden Angriffen reagierten insbesondere deutsche Massenmedien und Politiker auf das politische Comeback Silvio Berlusconis, sowie den Aufstieg des Populisten Beppe Grillo. Die Spannungen zwischen Rom und Berlin gipfelten in einem diplomatischen Eklat, bei dem der italienische Präsident Giorgio Napolitano ein Treffen mit dem sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück kurzfristig absagte, nachdem dieser Berlusconi und Grillo als »Clowns« bezeichnet hatte.

Die gegenwärtige antiitalienische Stimmungsmache in der deutschen Öffentlichkeit gründet nicht etwa in der Kritik der reaktionären Politik eines Berlusconi – da Berlin mit Rechtsauslegern wie etwa Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban sehr gut zusammenarbeiten kann. Berlusconi und Grillo konnten mit antideutscher und antieuropäischer Rhetorik punkten, wobei sie mit jeweils anderer Schwerpunktsetzung das von Berlin und Brüssel den europäischen Krisenländern verordnete Spardiktat kritisierten, das in Italien von der »Technokratenregierung« des ehemaligen EU-Kommissars Mario Monti umgesetzt wurde. Als »eine Gefahr« bezeichnete etwa die deutsch-italienische Parlamentsabgeordnete Laura Garavini die »antieuropäischen, die antideutschen Äußerungen Berlusconis« gegenüber AFP. Die Deutschen kehrten nun »zurück, nicht mehr mit Kanonen, sondern mit Euro«, hieß es etwa in einem Kommentar der Berlusconi-Zeitung Giornale, die vor einem deutschen »Vierten Reich« warnte.

Die Wiederauferstehung des Politzombies Berlusconi und der kometenhafte Aufstieg Grillos wären aber nicht möglich gewesen, hätte das deutsche Spardiktat in Südeuropa auch nur die bescheidensten ökonomischen Erfolge erzielt. Alle südeuropäischen Krisenstaaten befinden sich in einer ökonomischen Abwärtsspirale, bei der die diversen Kahlschlagsprogramme zu Nachfrage- und Konjunktureinbrüchen führten, die wiederum die Arbeitslosigkeit ansteigen und Steuereinnahmen abschmelzen ließen – was eine Haushaltskonsolidierung vollends unmöglich macht.

Italien befindet sich aufgrund des Merkelschen Spardiktats seit 18 Monaten in einer sich verstärkenden Rezession. Im vierten Quartal 2012 ging das Bruttoinlandsprodukt in der drittgrößten Volkswirtschaft der Euro-Zone um 2,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurück, nach 2,4 Prozent im Vorquartal. Die Arbeitslosenquote stieg im vergangen Dezember mit 11,2 Prozent auf den höchsten Wert seit 2004, wobei sie binnen des vergangenen Jahres um 1,8 Prozent zulegte. Der Abschwung wird von der starken Kontraktion der Industrieproduktion befeuert, die allein im Dezember um sechs Prozent schrumpfte. Der italienische Industrieproduktionsindex ist gegenüber seinem Hoch im August 2007 um 26 Prozent gefallen und befindet sich auf dem Niveau des Jahres 1987. Ein Ende dieser Abwärtsspirale ist nicht im Sicht, da aufgrund der Sparmaßnahmen die Inlandsaufträge der Industrie im Dezember um 24 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zurückgingen. Besonders dramatisch ist die Lage des italienischen Automobilsektors, dessen Produktion 2012 um 18,3 Prozent auf nur noch knapp 400000 PKW zurückging. Der Niedergang der italienischen Autoindustrie wird aber erst aus längerfristiger Perspektive voll erfaßbar: Gegenüber dem Hoch 1989 ging deren Output inzwischen um nahezu 80 Prozent zurück.

Offensichtlich befindet sich Italien am Beginn einer ähnlichen Talfahrt, wie sie schon die anderen südeuropäischen Krisenländer voll erfaßt hat. Aus denen werden nahezu im Wochenrhythmus ähnliche Desasterzahlen gemeldet: Im sparwütigen Portugal ist etwa die Staatsverschuldung inzwischen auf einen neuen historischen Höchstwert von 115,1 Prozent des BIP geklettert, während die Arbeitslosenquote mit 16,9 Prozent ebenfalls einen neuen historischen Rekord einstellte. Griechenland – dessen BIP im Krisenverlauf bereits um 23,4 Prozent kontrahierte – meldete jüngst eine neue Rekordarbeitslosenquote von 27 Prozent. Neue Verschuldungsrekorde werden auch aus Spanien gemeldet, wo trotz eines drakonischen Sparprogramms die Staatsschuld auf den höchsten Wert seit 1910 anschwoll – auf 84 Prozent des BIP.

Angesichts dieser Einbrüche bleibt den Südeuropäern schlicht keine andere Wahl, als unter Hinnahme aller drakonischen Konsequenzen gegen dieses deutsche Spardiktat zu rebellieren. Im gegenwärtigen »deutschen Europa« bleibt dessen Peripherie nur die Perspektive des sozioökonomischen Zusammenbruchs. Italien ist aber wirtschaftlich zu bedeutend, um ähnlich von Berlin plattgemacht werden zu können wie Griechenland. Deswegen deute der Wahlausgang dort auf eine »sich abzeichnende Herausforderung der deutschen Führung« in Europa, bemerkte etwa der Nachrichtendienst Stratfor in einer Analyse. Dies ist auch der wahre Grund der deutschen Empörung über die Wahlergebnisse in Italien. Berlin wird sich mittelfristig zwischen einem Zusammenbruch der Eurozone oder einer Lockerung seines Spardiktats entscheiden müssen.

* Aus: junge Welt, Montag, 4. März 2013


"Unregierbarkeit ist kein großes Problem mehr"

Nach Wahl in Italien: Keine Koalition in Sicht. Ein Gespräch mit Sergio Cararo **

Sergio Cararo ist führendes Mitglied des Rete dei Comunisti (Netzwerk der Kommunisten), das in der außerparlamentarischen Linken Italiens eine bedeutende Rolle spielt.

Die italienischen Parlamentswahlen von Ende Februar waren für viele Beobachter ein »Erdbeben«. Was ist für Sie das wichtigste Ergebnis?

Ohne Frage die Unregierbarkeit, die dieses Wahlergebnis hervorruft, und die Bestätigung, daß ein großer Teil der italienischen Gesellschaft, wenn auch auf unterschiedliche Art, den Vertretern der Troika-Politik von EU-Kommission, IWF und Europäischer Zentralbank die Zustimmung entzogen hat. Das betrifft vor allem die Koalition aus Regierungschef Mario Monti und der Demokratischen Partei. Auf sozialer Ebene bestätigt es die ungleiche Entwicklung und die Zersetzung Italiens: Unklare Klassen­identitäten und sehr fragmentierte Interessenlagen. Anders als in den 90er Jahren produziert die Krise der Mittelschichten keinen Konsens mehr.

Die Protestpartei Movimento 5 Stelle, die »Fünf-Sterne-Bewegung«, feierte mit gut 25 Prozent einen beachtlichen Erfolg. Wie ist diese »Partei« des Komikers Beppe Grillo einzuschätzen?

Man wußte aus Umfragen, daß Grillos Gruppierung stark zulegen würde, aber das Resultat liegt wirklich über allen Erwartungen. M5S hat einen Teil der Nichtwähler wieder an die Urnen gebracht, obwohl die Wahlbeteiligung insgesamt weiter zurückgegangen ist. Er hat die tief sitzende Wut eines beachtlichen Teils der Gesellschaft aufgegriffen und dabei mehr Anhänger der Linken als der Rechten angezogen. Es wäre aber gewagt zu glauben, daß es sich um eine dauerhafte Erscheinung handelt. Auf parlamentarischer Ebene wird diese Bewegung Transformationen durchmachen. Das kann in eine fortschrittliche, aber auch in eine populistische und reaktionäre Richtung gehen. M5S macht einige Vorschläge, die man durchaus teilen kann, wie die Einführung eines Mindesteinkommens für Erwerbslose und prekär Beschäftigte, den Rückzug der Truppen aus Afghanistan sowie das Nein zu Militärausgaben und zur Hochgeschwindigkeitszugtrasse Turin–Lyon. Was die Probleme der Arbeitenden anbelangt, will sie aber deren Interessen mit denen der Kapitalisten versöhnen. Wir wissen alle, daß das falsch und unmöglich ist.

Pierluigi Bersanis Mitte-Links-Bündnis hat die Wahl zur Abgeordnetenkammer knapper als erwartet gewonnen. Warum?

Die soziale Basis der Demokratischen Partei bröckelt. Ihr sind vor allem die Stammwähler von vor 20 Jahren geblieben: Abhängig Beschäftigte, bestimmte Mittelschichtler, Teile der Unternehmer, Bewohner der Ballungsräume und der mittelitalienischen Regionen. Die Unterstützung, die sie bis zuletzt der Monti-Regierung und ihren unpopulären Maßnahmen gewährte, hat sie viele Stimmen gekostet.

Berlusconi hat aufgeholt. Wie kam es zur »Wiederauferstehung« der Rechten?

Es gibt in Italien weiterhin einen politischen und sozialen Block rund um seine Demagogie. Es handelt sich um Bevölkerungsgruppen, die Angst vor den finanziellen, industriellen und politischen Zentralisationsprozessen auf EU-Ebene haben. Es sind die rückständigsten Sektoren des Kapitalismus und des Mittelstandes.

Alle reden von Unregierbarkeit. Womit ist zu rechnen?

Die Szenarien sind kompliziert. Die Demokratische Partei ist gespalten. Einige wollen erneut eine Große Koalition mit Berlusconi eingehen, wie es die Mächtigen in der EU fordern. Andere wollen eine Regierung, die irgendwie zu einer Übereinkunft mit Grillos Bewegung findet. Beides ist schwer zu verwirklichen. Unregierbarkeit ist aber kein großes Problem mehr. Belgien war 535 Tage ohne Regierung; und es ist nichts besonderes passiert. Die Apparate der Europäischen Union haben heute eine sehr starke Kontrolle über Regierungsentscheidungen der Mitgliedsstaaten.

Das von den beiden Kommunistischen Parteien Rifondazione und PdCI zusammen mit linksliberalen Kräften getragene Projekt »Rivoluzione Civile« ist gescheitert; auch das Ergebnis von Nichi Vendolas rot-grüner Allianz SEL fiel mager aus…

Mit diesem Ergebnis ist eine Geschichte der Linken unseres Landes zu Ende gegangen, inklusive die der Erben kommunistischer Parteien, die dem parlamentarischen Weg alles andere unterordneten. Aus unserer Sicht muß man an einem Bruch mit dem bestehenden Rahmen arbeiten – angefangen beim Austritt aus der Euro-Zone und der Europäischen Union gemeinsam mit Griechenland, Spanien und Portugal.

Interview: Raoul Rigault

** Aus: junge Welt, Montag, 4. März 2013


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