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Kein Flüchtling auf Lampedusa

Über 1000 Migranten mit Schiffen und über Luftbrücke von italienischer Mittelmeerinsel evakuiert. Sie sollen nach Tunesien abgeschoben werden

Von Micaela Taroni, Rom *

Monatelang galt Lampedusa als Europas »Alcatraz«. Die kleine Mittelmeerinsel zwischen Tunesien und Sizilien, auf der kaum 5000 Menschen leben, war monatelang der karge südlichste Vorposten Europas, auf dem Tausende Flüchtlinge aus Nordafrika den Zugang nach Europa suchten. Noch vergangene Woche waren über 300 tunesische Migranten auf der Insel eingetroffen. Das einzige Auffanglager der Insel, eingerichet für maximal 800 Personen, war oft mit bis zu 1500 Insassen chronisch überlastet.

Seit Freitag ist es wieder still auf der Insel, die wegen der massiven Flüchtlingswelle monatelang im Zentrum der Weltpolitik stand. Kein einziger Migrant befindet sich mehr auf Lampedusa. Über 1300 Tunesier, die nach gefährlichen Seefahrten Lampedusa erreicht und sich bis vergangene Woche noch auf der 20 Quadratkilometer großen Felsinsel aufgehalten hatten, wurden nach Sizilien und aufs italienische Festland evakuiert, um so rasch wie möglich in ihre Heimat abgeschoben zu werden, wie ein bilaterales Antimigrationsabkommen zwischen Rom und Tunis vorsieht. Mit zwei Schiffen und mehreren Maschinen der italienischen Luftwaffe verließen die Tunesier Lampedusa, nachdem das Auffanglager der Insel vergangene Woche in Brand gesetzt worden und es zu einer blutigen Migrantenrevolte gekommen war.

»Die Situation auf Lampedusa ist unter Kontrolle«, versicherte der Polizeichef der sizilianischen Stadt Agrigent, Giuseppe Bisogno, der nach den Krawallen auf die Insel entsandt wurde. Die Polizei verhaftete vier Tunesier, die für den Brand im Auffanglager der Insel verantwortlich gemacht werden. Festgenommen wurden außerdem weitere drei Personen wegen des Vorwurfs des Menschenhandels.

Die Flammen im Auffanglager der Insel, in dem zu diesem Zeitpunkt cirka 1300 Tunesier untergebracht waren, entwickelten sich in der Küche und im Lagerraum, in dem die Lebensmittel aufbewahrt wurden. Rund 800 Tunesier nutzten die chaotischen Zustände, um aus dem Auffanglager zu flüchten. Etwa 400 von ihnen wurden unweit des Hafens festgenommen.

Ein Großteil des Lagers wurde von den Flammen zerstört. Der Brand sei »die Folge der durch das lange Festhalten der Migranten ausgelösten wachsenden Spannungen« unter den Flüchtlingen, sagte eine Sprecherin der italienischen UNHCR-Vertretung. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR habe die italienischen Behörden mehrmals auf das Problem der Überbelegung angesprochen und verlangt, daß die Insassen in Unterkünften im Rest des Landes untergebracht würden.

Am Tag nach dem Brand brach eine Revolte aus. Hunderte tunesische Migranten protestierten unweit des Hafens gegen die Abschiebung, dabei kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Einige aufgebrachte Einwohner der Insel bewarfen die Migranten mit Steinen. Weitere Zusammenstöße erfolgten in der Nähe des Lagers. »Wir sind wie im Krieg, der Staat hat uns allein gelassen, und die Bürger wollen sich selbst verteidigen«, klagte Lampedusas Bürgermeister Dino De Rubeis, der sich in seinem Büro verschanzt hatte, während vor dem Rathaus Dutzende Einwohner der Insel gegen die Präsenz der tunesischen Flüchtlinge demonstrierten. Daraufhin versprach die italienische Regierung, innerhalb von 48 Stunden alle Migranten aus Lampedusa zu entfernen. Oppositionschef Pierluigi Bersani verurteilte die chaotischen Zustände auf Lampedusa. »Die Regierung hätte verhindern müssen, daß die Lage sich derart zuspitzt«. Bersanis Demokratische Partei (PD) fordert das Wahlrecht von Migranten in Italien.

* Aus: junge Welt, 26. September 2011


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