"Euro-Europa ist gescheitert"
Über verfehlte Projekte, penetrante Sozialpartnerschaft und einen Neubeginn der italienischen Linken. Ein Gespräch mit Giorgio Cremaschi *
Giorgio Cremaschi (64) war von 2010 bis zu seiner Pensionierung im Sommer 2012 Präsident der italienischen Metallarbeitergewerkschaft FIOM-CGIL. Er ist Kopf des Gewerkschaftslinken-Netzwerkes »Rete 28 Aprile« und Sprecher des vor zwei Jahren gegründeten Schuldenstreichungsbündnisses »No Debito«, des wichtigsten Zusammenschlusses der außerparlamentarischen Linken.
Während der Druck auf die Lohnabhängigen immer weiter wächst, führen die drei großen Gewerkschaftsbünde CGIL, CISL und UIL mit dem Unternehmerverband Confindustria Gespräche über einen neuen Sozialpakt. Was soll das?
Das ist eine Art große Koalition, wie sie sich die Gewerkschaftsbürokratie erträumt. Eine Vorgehensweise, die die Krise dieser Organisationen in Sachen Mitgliederkonsens, Interessenvertretung und Handlungsfähigkeit ans Tageslicht bringt.
Diese Idee eines Sozialpaktes ist das letzte Abfallprodukt der Sozialpartnerschaft, die in den 90er Jahren den Konflikt bremste, als die Arbeiter noch die Kraft besaßen, ihn auszutragen. Genau das hat uns in die Krise geführt. An einem bestimmten Punkt brauchten die Padroni die große Sozialpartnerschaft dann nicht mehr, und die Gewerkschaften fanden sich noch sehr viel mehr an den Rand gedrängt.
Wie kommt man aus dieser Sackgasse heraus?
Sowohl die (früher einmal KP-nahe; jW) CGIL als auch die christliche CISL haben alles auf die Parlamentswahlen gesetzt, um sich so eine neue Rolle zu schaffen, und beide haben verloren. Sowohl diejenigen, die auf das Mitte-Links-Bündnis hofften als auch die Anhänger von Mitte-Rechts.
Auch die FIOM, die den linken Flügel der etablierten Gewerkschaftsbewegung bildet, bewegt sich inzwischen in eine ähnliche Richtung und strebt, zusammen mit dem Rentnerverband SPI-CGIL, eine Mobilisierung an der Seite eines ehemaligen Ministers der nicht sonderlich sozialen Regierung Monti an. Wieso?
Die CGIL ist über zwei gleichermaßen verfehlte Projekte gespalten. Eines ist die angesprochene Initiative der Mehrheit um Generalsekretärin Susanna Camusso und das andere ein neues Labour-Party-Projekt von FIOM-Sekretär Maurizio Landini, den Ex-Minister Fabrizio Barca und dem Ex-Rifondazione-Comunista-Politiker und heutigen Führer der kleinen rot-grünen Wahlallianz SEL, Nichi Vendola. Die Idee ist, in Italien eine sozialdemokratische Partei zu gründen, deren Bezugspunkt die Arbeit ist. Im wesentlichen handelt es sich um einen Versuch, mit dem der Chef der Demokratischen Partei, Pier Luigi Bersani, gescheitert ist. Das hat keine Zukunft.
Ich finde es bedauerlich, daß die FIOM-Führung alles auf diese Karte setzt. Das ist eine Flucht vor der sozialen Realität in diesem Land. Es ist ein Projekt, das Wege beschreitet, die in ganz Europa längst passé sind. Das kann vielleicht dazu dienen, daß die FIOM-Spitze im Palazzo aus einer gewissen Isolation herauskommt. Den sozialen Kampf bringt es aber keinen Millimeter voran. Beide Ideen repräsentieren zwei Versionen derselben Krise der sozialen Organisationen.
Welchen Ausweg sehen Sie?
Ich bin seit langem der Meinung, daß die Gewerkschaftsverbände CGIL, CISL und UIL, so wie sie organisiert sind und geleitet werden, Teil der politischen Krise und nicht ihrer Lösung sind. Die großen Dachverbände sind unfähig, angesichts des stattfindenden sozialen Desasters Kampfbereitschaft zu zeigen, sie klammern sich an alte institutionelle Riten, während sie nur die soziale Wut organisieren müßten. Statt dessen muß endlich Schluß gemacht werden mit Sozialpartnerschaft und konzertierter Aktion. Wir müssen zurückkehren zur ursprünglichen Natur der Gewerkschaft.
Ist das denn bei der weitverbreiteten Resignation der Massen im Moment möglich?
Durchaus. Es stimmt nicht, daß man die Werktätigen nicht organisieren kann. Da muß man sich nur die Straßenbahnfahrer in Bologna anschauen oder eine sehr kleine Basisgewerkschaft wie den SI Cobas, der einen kleinen, aber letztlich effektiven Streik der sklavenähnlich Beschäftigten in der Logistikbranche der Region Emilia Romagna durchgeführt hat. Es geht um die Wiederaufnahme des Konfliktes mit Hilfe eines ökonomischen und sozialen Programms, das den Bruch anstrebt.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist die Debatte zwischen den beiden Seelen der CGIL – der neokorporativen und der neolabouristischen – eine Debatte zwischen zwei Seiten, die nicht auf der Höhe der gravierenden Krise sind, die wir durchleben.
Ausgangspunkt der von Merkel&Co. betriebenen Politik ist der Erhalt der Euro-Zone und ihr Fitmachen als Global Player auf den internationalen Märkten. Wie sehen Sie die Euro-Krise?
Die Schaffung des Euro ist von Anfang an mit einem neoliberalen Ansatz betrieben worden. Vom Maastrichter Vertrag bis zum Fiskalpakt haben alle Abkommen, die die Gemeinschaftswährung begleiteten, den Regierungen immer brutalere Verpflichtungen im Namen jener Politik auferlegt, die wir heute Austerity nennen. Solange die Weltwirtschaft wuchs, bremste diese Politik zwar die Entwicklung, blockierte sie aber nicht. Mit der Krise zwangen jene Verträge die jeweiligen Kabinette aber dazu, das genaue Gegenteil dessen zu tun, was notwendig gewesen wäre. Deshalb ist die Krise zu einer tiefgreifenden Rezession geworden. Das Europa des Euro ist politisch, sozial und kulturell gescheitert. Je eher man das zur Kenntnis nimmt, desto eher findet man den Weg zur Überwindung dieses Scheiterns.
Also Schluß mit der Währungsunion und Rückkehr zu den nationalen Währungen?
Die Beseitigung des Gemeinschaftsgeldes ist nicht die erste Maßnahme. Da bin ich anderer Ansicht als Beppe Grillo. Man sollte nicht bei der Währung anfangen, sondern bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik und den Institutionen, auf die sie sich stützt. Was demontiert werden muß, ist das Europa der neoliberalen Verträge und Auflagen. Wir brauchen in Italien und in Europa eine Zentralbank, die Geld druckt und öffentlich ist und nicht in der Hand der internationalen Finanz. Die Schuldengrenze ist nicht mehr akzeptabel. Es bedarf großer öffentlicher Investitionen in die Bildung und den Sozialstaat. Verstaatlichungen müssen wieder ein notwendiges Instrument der Wirtschaftspolitik sein und kein Tabu. Die Entwertung der Arbeit zum Zwecke der Exportförderung, die der gemeinsamen Währung zugrunde liegt, muß aufhören. Ebenso muß die Austeritätspolitik umgekehrt werden, und dazu ist eine demokratische Konsultation der Bevölkerung nötig. Europäische Verträge und Auflagen sind Referenden zu unterziehen. Die Frage der Währung stellt sich erst danach, wenn die neoliberale Politik gekippt ist. Dann wird man die geeignete Lösung finden, um Demokratie und soziale Gleichheit in Italien und Europa wieder voranzubringen.
Dazu bedarf es politischer Akteure. Die beiden kommunistischen Parteien PRC und PdCI haben mit ihrer diverse linksliberale Kräfte umfassenden Bündnisliste Rivoluzione Civile bei den Wahlen nur zwei Prozent der Stimmen bekommen und erneut den Einzug ins Parlament verpaßt. Rifondazione Comunista schlägt nun in einem Offenen Brief die Bildung eines »gemeinsamen linken Subjekts« vor. Was halten Sie als ehemaliges Rifondazione-Mitglied davon?
Es ist richtig, daran zu arbeiten. Das muß allerdings bei der Feststellung des Scheiterns der politischen Strategie ihrer Leitungsgruppe in den letzten zehn Jahren beginnen. Ich denke, daß es in Italien Bedarf an einer antagonistischen Linken gibt, das heißt einer, die den herrschenden Verhältnissen unversöhnlich gegenübersteht. So eine Linke kann jedoch nicht innerhalb einer geschlagenen Partei entstehen. Der PRC muß den Mut haben, sich in Frage zu stellen.
Interview: Raoul Rigault
* Aus: junge Welt, Dienstag, 7. Mai 2013
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