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Frieden ja, aber ....

Salam oder Shalom – die Grußformel bleibt beider Seiten Wunsch

Von Marlen Kästner, Jerusalem *

In einem Brief Einsteins von 1929 an den ersten Präsidenten Israels, Chaim Weizmann, heißt es: »Sollten wir nicht in der Lage sein, einen Weg zur aufrichtigen Zusammenarbeit und Einigung mit den Arabern zu finden, dann haben wir in den 2000 Jahren unserer Leidensgeschichte wirklich nichts gelernt und verdienen alles, was auf uns zukommen mag.«

Welche Reaktionen würde dieser Satz wohl in diesen Tagen in Teilen der israelischen Gesellschaft hervorrufen? Mit Sicherheit wäre Einsteins Ansehen gewaltig geschrumpft. Wäre das Wort »Nestbeschmutzer« oder »Verräter« gefallen? Sehr wahrscheinlich auch. Die sogenannten Verräter, das sind in den Augen einiger Israels Linke und die, die mit ihnen sympathisieren. Sie sind zwar weiterhin aktiv, wenn auch nicht mehr wie zu Zeiten, als Yitzhak Rabin Ministerpräsident war, aber die derzeitigen Umstände machen es einem als Linken in Israel nicht gerade leicht.

Wer sich zurzeit öffentlich gegen die Bomben auf Gaza ausspricht, riskiert, von einem Mob Rechtsgesinnter tätlich angegriffen zu werden. So passiert letzten Sonnabend in Tel Aviv, wo die kritischsten Stimmen Israels zu Hause sind. Einer von ihnen ist Gideon Levy, der bekannte linksgerichtete israelische Journalist, der für die Tageszeitung »Haaretz« (Das Land) hauptsächlich über die besetzten palästinensischen Gebiete berichtet. Mit seinem kürzlich erschienenen Artikel »Israel doesn´t want peace« (Israel will keinen Frieden) bleibt Levy seiner Linie treu: scharfe Kritik am Staat Israel und seiner Haltung gegenüber den Palästinensern.

In dem Artikel drückt Levy seine Zweifel an der ehrlichen Absicht Israels aus, das immer wieder beteuert, Frieden zu wollen. Levy zufolge war Israel nie zu einem gerechten Frieden bereit, einem Frieden also, der auch die Bedürfnisse der Palästinenser berücksichtigt. Als Argumente bringt er den unvermindert andauernden Siedlungsbau zur Sprache, wie auch die Grundüberzeugung vieler Israelis, dass dies hier das Land ist, das den Juden gehöre. Die anderen, sprich die Araber, haben sich demzufolge unterzuordnen und sind allenfalls geduldet.

Levys Wort sind hart, und wahrscheinlich kann sie auch nur ein jüdischer Israeli so formulieren, ohne dass ihm Antisemitismus oder Antiisraelismus vorgeworfen werden. Aber vielleicht ist es sinnvoll, angesichts der gegenwärtigen Eskalationen zu fragen, woran es eigentlich liegt, dass im Nahen Osten einfach keine Ruhe einkehren will und ob Levy mit seiner Vermutung so völlig falsch liegt.

Die derzeitige Situation liefert das beste Indiz: Die Gewalt ist in diesem Flecken Land immer unterschwellig da, auch wenn es hier Momente gibt, die es einen immer wieder vergessen lassen. Neu ist eigentlich nur das schockierend rassistische Gedankengut einiger gerade junger Israelis, das in dieser Ausprägung zum ersten Mal klar hervortrat.

Dieser Zu- und Umstand hatte aber auch etwas »Beruhigendes« an sich: Rassismus ist anscheinend nicht mehr nur eine Krankheit von Christen und Muslimen. Böse Zungen behaupten ja, dass die Einstellung eines Teils der israelischen Gesellschaft gegenüber den Arabern das Ergebnis einer Politik sei, die den jüdischen Bürgern alle Freiräume gibt und sie schalten und walten lässt, wie sie wollen, und das vor allem in den besetzten Gebieten.

Dies geschieht vor dem Hintergrund der allgemeinen Auffassung, dass dieses Land hier das Eigentum der Juden ist, während die Araber als ungeliebte Untermieter betrachtet werden, die im Westjordanland, wie auch in Ostjerusalem, in ihren eigenen vier Wänden kaum noch etwas zu sagen haben. Von Gaza ganz zu schweigen.

Die derzeitigen Gewaltexzesse zeigen, dass der Kampf um dieses Land auf beiden Seiten weitergeführt wird und dass Teile der Palästinenser anscheinend nicht mehr nur auf die friedliche Verhandlungstaktik Mahmud Abbas´ setzen. Seit dem Ende der zweiten Intifada gab es in Israel keine Anschläge mehr, die von Tätern aus dem besetzten Westjordanland begangen wurden. Zyniker würden jetzt wohl die Mauer als Begründung ins Spiel bringen, obwohl bekannt ist, dass die Anschläge aufgehört hatten, noch bevor die Mauer wirklich stand.

Richtig ist, dass die Mehrzahl der Palästinenser auf die friedlichen Bemühungen ihrer Autonomiebehörde gesetzt hatte. Die ist im Laufe der Zeit nacheinander allen Bedingungen Israels nachgekommen: Die Gewalt wurde eingestellt, Israel wurde als Staat anerkannt, wenn auch nicht von allen als jüdischer Staat, und man hat mit der Einbeziehung der Hamas auch die früheren Bedenken Israels aus dem Weg geräumt, dass die Palästinenser mit zwei Stimmen sprechen würden. Alles wurde erfüllt.

Und was hat der israelische Staat seinerseits getan? Großzügiger und fortdauernder Ausbau der Siedlungen, Landkonfiszierungen, gleichbleibend schlechte Lebensverhältnisse für die Palästinenser, die im Westjordanland ständig unter einem Militärregime leben müssen. Sieht so Entgegenkommen, geschweige denn Friedenspolitik aus?

Das verständliche Bedürfnis der jüdischen Israelis nach Sicherheit hat sich in ein Dasein verklärt, in dem viele sich auf ihre eigenen Bedürfnisse konzentrieren und vergessen haben, dass dieses Leben, in dieser Weise, nur auf Kosten derer möglich ist, die 60 Kilometer östlich vom weißen Sandstrand in Tel Aviv und 70 Kilometer südlich davon ein Leben fristen, das menschenunwürdig ist. Jeder, der in unannehmbaren Verhältnissen lebt, sei es aus Gründen der Unterdrückung, Diskriminierung, Armut oder sonstiger Motive, wird immer aufbegehren. Das kann so schwer nicht zu verstehen sein. Es bleibt die Frage, ob die andere Seite ernsthaft etwas gegen diese Bedrohung tut, die sich in den frustrierten Köpfen ansammelt und in Gewalt ausdrückt.

Oder harrt sie nur aus, vergrößert derweil ihren Einflussraum und schlägt militärisch zurück, wenn die Situation mal wieder umkippt wie derzeit? Bedeuten die Worte von Premierminister Benjamin Netanjahu »Wir müssen wieder Ruhe herstellen«, dass an einer wirklichen Lösung gearbeitet oder auch nur darüber nachgedacht wird?

Letzteres trifft es wohl: keine Bewegung hin zu unbequemen und schmerzhaften Entscheidungen. Von Verantwortung für das israelische Volk ist die Rede. Aber zeugt es von Verantwortung, seinen Mitbürgern zu suggerieren, dass das Siedeln auf einem besetzten Gebiet keinerlei Probleme in sich birgt, weil Gott es so will? Hat sich der lang andauernde Traum von einer jüdischen Heimstätte nach so vielen Jahrzehnten unglaublichen Leidens auf beiden Seiten als durchweg richtig und gut herausgestellt, oder bedarf es einer Kurskorrektur, die von vielen wahrscheinlich mit dem Verrat an der zionistischen Idee gleichgesetzt würde? Kann man auf ewig verdrängen, dass keine faire Lösung für große Teile der anderen Bevölkerungsgruppe gefunden wurde? Ist das der Weg zum Frieden?

Die Palästinenser haben weiß Gott sehr viele Fehler gemacht, und Hamas zeigt in diesen Tagen wieder deutlich, dass man nicht immer aus Fehlern lernt oder kein Interesse am Lernen hat. Aber nur an diese Fehler erinnert sich die andere Seite und geht dabei – elegant – über die eigenen hinweg. Die eigene Verantwortung wurde vor Jahren auf unbestimmte Zeit in einer Kiste verstaut, die seither nur wenige wieder geöffnet haben.

Es ist wohl unbestritten, dass die absolute Mehrheit auf beiden Seiten Frieden will, aber ist die israelische Regierung wirklich zu schmerzlichen Zugeständnissen bereit? Ist es die Mehrzahl der Israelis? Oder ist der jetzige Zustand doch die bessere Lösung: überwiegend »ruhige« Verhältnisse – jedenfalls wenn man nicht im Süden des Landes wohnt – und alle paar Jahre eine größere militärische Aktion, um diese Ruhe für die israelischen Bürger wieder herzustellen? Was ist mit dem Anspruch, dass ausschließlich Juden hier in Israel leben sollten? Ist das vereinbar mit den Grundsätzen eines Staates, der sich als demokratisch versteht?

Fragen über Fragen. Und am Ende bleibt die Hoffnung, dass sich auch dieses Mal die Gemüter beruhigen und wieder eine Art teils freundliches, teils angespanntes Nebeneinander einkehrt. Und was dann? Ein nächster Gewaltausbruch in ein paar Monaten oder Jahren. Es sei denn, es kommt doch noch zu Friedensgesprächen. Es sei denn, man will den Frieden, den gerechten Frieden.

* Marlen Kästner (Jahrgang 1983) ist Völkerrechtlerin und lebt seit Anfang 2011 in Jerusalem. Sie hat sowohl für die Vereinten Nationen in Ostjerusalem wie auch für die Al-Quds-Universität und eine Frauenrechtsorganisation im Westjordanland gearbeitet.

Aus: neues deutschland, Samstag, 19. Juli 2014


Ihr wollt Beweise? Hier sind sie! **

Wo Peter Beinart jetzt wohl ist? Der amerikanisch-jüdische Professor für Journalismus zählt wohl neben Gideon Levy zu den kritischsten Stimmen in Israel. Vielleicht sitzt er gerade wieder an seinem Schreibtisch und verfasst Artikel wie diesen: »Bekämpft Netanjahu nur die Hamas oder auch die Zwei-Staaten-Lösung?«, erschienen am Mittwoch in »Haaretz«. Was sich für viele wohl nach einer verblendeten Wahrnehmung des derzeitigen Konfliktes in Gaza anhört, hat durchaus seine Berechtigung. Die Hamas schießt Raketen auf Israel, und Israel hat natürlich als Staat das Recht, sich dagegen zu wehren. Über das Wie gibt es geteilte Meinungen.

Aber ging die Gewalt dieses Mal wirklich von der Hamas aus? Blicken wir ein paar Wochen zurück: Es wurde gerade bekannt gegeben, dass drei israelische Jugendliche auf ihrem Heimweg entführt wurden. Noch bevor der israelischen Bevölkerung Details mitgeteilt wurden, war für Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eines ganz klar: Dahinter steckt die Hamas. Die Hamas selbst hat sich bis heute allerdings nicht zu der Tat bekannt – etwas für sie sehr Untypisches, wenn sie doch dahintersteckte.

Im Gegenteil: Führende Hamas-Mitglieder hatten immer wieder bestritten, etwas mit der Entführung zu tun zu haben. Trotzdem wurden über 400 Palästinenser auf Verdacht, mit der Hamas gemeinsame Sache zu machen, festgenommen. Dass Einzeltäter, die der Hamas sehr nahe stehen und auf eigene Rechnung gehandelt haben, dahinterstecken könnten – eine Theorie, die von vielen Palästinensern unterstützt wird –, wurde von der israelischen Regierung kategorisch ausgeschlossen. Auch Beweise oder etwaige Täter ist Netanjahu bis heute schuldig geblieben. Es war nur zu hören: »Die Hamas hat unsere Kinder entführt, und wir werden sie zurückholen. Die Hamas wird dafür bezahlen!« Kollektive Vergeltung und Bestrafung? Für jemanden, der sich länger in dieser Region aufhält, ist das leider, wie für Israelis und Palästinenser auch, zur Gewohnheit geworden.

Aber die Frage bleibt doch: Ging es neben der Suche nach den verschwundenen Jugendlichen vielleicht auch darum, der Welt zu zeigen: »Seht her, mit dieser Einheitsregierung kann man nicht verhandeln! Das sind Terroristen, und wenn uns die Welt nicht glaubt, werden wir den Beweis liefern, dass man ihnen nicht trauen kann!«

Ich sitze an meinem Schreibtisch in Ramallah, blicke aus dem Fenster und denke über Beinarts Worte nach. Ja, er könnte recht haben. M. K.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 19. Juli 2014


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