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Israel ist unantastbar

Überfall auf das Hilfsschiff »Mavi Marmara« 2010: Generalbundesanwalt weist Strafanzeige wegen Kriegsverbrechen und Freiheitsberaubung zurück

Von Norman Paech *

Vier Jahre hat die Generalbundesanwaltschaft gebraucht, um die Strafanzeige wegen Kriegsverbrechen und Freiheitsberaubung bei dem Überfall der israelischen Streitkräfte auf die »Mavi Marmara« am 31. Mai 2010 jetzt zurückzuweisen. Die Bundestagsabgeordneten Annette Groth und Inge Höger waren zusammen mit mir an jenem Tag von einer Motorjacht, die von Kreta aus gestartet war, an Bord der »Mavi Marmara« übergewechselt. Die israelische Armee hatte zuvor das Pump- und Steuersystem an unserem Boot in einer unbemerkten Aktion schwer beschädigt, so dass es uns nur mit einer notdürftigen Reparatur in Zypern gelang, die »Free Gaza«-Flottille zu erreichen. Der Überfall erfolgte in der Nacht unserer Ankunft an dem für das Treffen aller Schiffe der Flottille vorgesehenen Ort in internationalen Gewässern. Neun türkische Passagiere wurden getötet, mehrere verletzt. Auch drei israelische Soldaten trugen Verletzungen davon. Die Passagiere wurden gefesselt und alle Schiffe nach Ashdod gebracht. Dort wurden die meisten in ein vorbereitetes Gefängnis überführt. Wir drei Linke-Abgeordneten wurden zum Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv verfrachtet und mit einer El-Al-Maschine nach Berlin ausgeflogen. Unser gesamtes Gepäck, Kameras, Handys, Laptops etc. blieb in Ashdod. Die Zusicherung, es uns später zurückzugeben, wurde nicht erfüllt. Wer sich die Mühe machte, konnte nach Monaten einige unwesentliche Habseligkeiten in Istanbul abholen, wohin die Israelis einen Container mit für sie uninteressanten Gepäckstücken gesandt hatten. Die Durchsuchung der gekaperten Schiffe in Ashdod durch die israelische Armee förderte keine einzige Waffe ans Tageslicht. Alle Passagiere hatten sich an die Vorgabe gehalten, keine Waffen mit an Bord zu nehmen. Die Gegenstände, mit denen sich einige Passagiere gegen den Überfall aus der Luft von Helikoptern aus zur Wehr setzten, waren auf dem Schiff: Messer aus der Kombüse, Deckstühle und aus der Reling gesägte Metallstangen.

Der Generalbundesanwalt sieht in dem ganzen Vorfall »keine zureichenden Anhaltspunkte für die Begehung verfolgbarer Straftaten zum Nachteil deutscher Staatsangehöriger«. Das Vorgehen der israelischen Streitkräfte sei nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch straflos. Dieser großzügige »Freispruch« ist nur möglich, wenn man der Meinung ist, dass ein Schiff, gleichgültig ob ein Handels- oder Kriegsschiff, das eine Blockade, gleichgültig ob sie rechtmäßig ist oder nicht, durchbricht, nicht mehr durch das humanitäre Völkerrecht geschützt wird und angegriffen werden kann. So der Generalbundesanwalt, treu nach dem Grundsatz, »wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um«. Einzige Voraussetzung sei die ausreichend klare Bekanntgabe der Blockade, was die israelische Regierung am 5. Januar 2009 getan habe. Das erinnert an das Kriegsrecht des 19. und frühen 20. Jahrhundert, als der Angriffskrieg noch nicht verboten war und nur der formellen Kriegserklärung bedurfte.

Doch seitdem ist die Entwicklung weiter gegangen, worauf der Report des UN-Menschenrechtsrats von 2012 aufmerksam macht: Eine Blockade ist nur dann rechtmäßig, wenn der betroffenen Bevölkerung kein unverhältnismäßiger Schaden zugefügt wird. Dies sei bei den Menschen in Gaza angesichts ihrer elenden Lage und der humanitären Katastrophe aber überhaupt nicht der Fall. Der Überfall könne deshalb nicht gerechtfertigt werden und müsse als rechtswidrig angesehen werden.

Der Generalbundesanwalt hatte genügend Zeit, sich mit dem sehr detaillierten Report, der auf über 100 Zeugenaussagen basiert, auseinanderzusetzen. Er hat sich jedoch lieber auf den Bericht des ehemaligen kanadischen Ministerpräsidenten Geoffrey Palmer und seines kolumbianischen Kollegen Álvaro Uribe im Auftrag des UN-Generalsekretärs Ban Ki Moon verlassen, die mehr Verständnis für ihren noch amtierenden Kollegen Netanjahu und seine Armee zeigen. Sie stellen zwar eine Vielzahl allgemeiner Erwägungen zur Recht- und Zweckmäßigkeit von Blockaden auf, ohne sie jedoch zu einem Urteil über die Blockade gegen Gaza und die Reaktion auf den Bruch der Blockade durch die »Free Gaza«-Flottille zu verdichten. Sie lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass sie wenig Sympathie für derartige Aktionen haben; sie warnen vor einer Wiederholung; sie seien dem Frieden nicht dienlich.

Die Generalbundesanwaltschaft konnte auch keines der von der Menschenrechtskommission festgestellten Kriegsverbrechen erkennen: »Gezielte Tötung, Folter und unmenschliche Behandlung, gezielte Zufügung großer Leiden oder ernstliche Verletzung von Körper und Gesundheit« - alles Verstöße gegen Artikel 147 der Vierten Genfer Konvention. Die Kommission hat ebenfalls zahlreiche Verletzungen des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte festgestellt, die alle auch strafrechtlich relevant wären.

Zum Glück waren nur Abgeordnete der Linkspartei und nicht zufällig der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU mit dem deutschen Außenminister unter den Passagieren. Das hätte die Rechtsfindung zweifellos erschwert.

Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch von 2002 bedroht z.B. in Paragraph 11, Absatz 1, Nummer 1 mit einer Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren, »wer ... mit militärischen Mitteln einen Angriff gegen die Zivilbevölkerung als solche oder gegen einzelne Zivilpersonen richtet, die an den Feindseligkeiten nicht unmittelbar teilnehmen«. Ein naheliegender Tatbestand bei einem Angriff auf unbewaffnete Schiffe in internationalen Gewässern, den die Bundesanwaltschaft jedoch vergessen hat, zu prüfen. Die gleiche Strafe droht Artikel 10, Absatz 1, Nummer 1 demjenigen an, der einen Angriff gegen humanitäre oder friedenserhaltene Missionen führt. Da aber die israelische Regierung nicht die Zustimmung zu den Hilfslieferungen der Flottille gegeben habe, meint die Bundesanwaltschaft, dass diese Vorschrift nicht in Betracht komme. Auch den Tatbestand der entwürdigenden und erniedrigenden Behandlung (Paragraph 8, Absatz 1, Nummer 9 Völkerstrafgesetzbuch) durch die Fesselung und stundenlange Fixierung an Deck sah die Bundesanwaltschaft nicht als gegeben an. Zum Glück waren nur Abgeordnete der Linkspartei und nicht zufällig der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU mit dem deutschen Außenminister unter den Passagieren. Das hätte die Rechtsfindung zweifellos erschwert.

Paragraph 8, Absatz 3, Nummer 1 droht für die rechtswidrige Gefangennahme oder ungerechtfertigte Verzögerung der Heimschaffung eine Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren an. Doch wenn man, wie die Bundesanwaltschaft, die Schiffe der Flottille nicht mehr als schutzwürdig »unter dem Blickwinkel des humanitären Völkerrechts« und als »zulässige militärische Ziele« betrachtet, muss die Gefangennahme auch erlaubt sein. Als »militärisches Ziel« wird die Flottille damit juristisch an die Seite des israelischen Gegners Hamas gestellt und zur Partei des Konflikts gemacht. Das reicht allerdings der Bundesanwaltschaft wiederum nicht aus, den Schutz des Paragraphen 9, Absatz 1, Völkerstrafgesetzbuch vor Plünderung, Aneignung und Beschlagnahme fremden Eigentums den um ihr gesamtes Hab und Gut gebrachten Passagieren zuzuerkennen. Dieser Schutz kommt nur den Parteien des Konflikts zu - und soweit möchte die Bundesanwaltschaft die Parteilichkeit der Flottille nicht verstanden wissen, um daraus noch einen Schutz folgern zu müssen.

Doch stand der Bundesanwaltschaft noch das allgemeine Strafrecht mit seinen Tatbeständen der Körperverletzung (Paragraph 223), Freiheitsberaubung und Nötigung (Paragraphen 239 und 240) sowie des Diebstahls/Unterschlagung (Paragraphen 242 und 246) und Raub (Paragraphen 249 und 250) zur Verfügung. Denn generell können Staatsorgane und staatliche Funktionsträger (z.B. Beamte und Soldaten) keine Immunität für Kriegsverbrechen vor ausländischen Gerichten beanspruchen. Doch wenn die Bundesanwaltschaft keine Kriegsverbrechen zu erkennen vermag, bleibt auch diese Waffe stumpf. Die acht Seiten der Einstellungsverfügung, juristisch nachlässig und einseitig verfasst, spiegeln allein das Bemühen wider, aus diesem Verfahren ohne weitere Beteiligung herauszukommen. Keine eigenen Recherchen, keine Rückfragen bei den Betroffenen, allein auf den Palmer-Bericht gestützt - ein lausiger Abgang.

Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht. Von 2005 bis 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 2. Dezember 2014


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