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Teufelskreis nahöstlicher Vergeltung

Nach dem Auffinden der Leichen von drei Jugendlichen erwägt Israel die Ausweitung der Militäraktionen

Von Oliver Eberhardt *

Die drei im Westjordanland vermissten israelischen Jugendlichen sind tot aufgefunden worden. Nun streitet Israels Regierung um das Ausmaß einer Militärreaktion.

Allerorten wurde in der Nacht zum Dienstag getagt, stundenlang. In Gaza beriet die örtliche politische Führung der Hamas über das weitere Vorgehen. In Ramallah plante die palästinensische Einheitsregierung ihre Strategie. Und in Jerusalem stritt das israelische Kabinett über Art und Ausmaß eines Militäreinsatzes.

Stunden zuvor hatte man bekannt gegeben, dass die drei Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 19 Jahren, die seit der Nacht vom 12. auf den 13. Juni im Westjordanland vermisst worden waren, tot aufgefunden wurden. Ein Suchtrupp habe sie auf einem Feld außerhalb der zu den palästinensischen Autonomiegebieten gehörenden Ortschaft Chalchul nordwestlich von Hebron gefunden, mit Schussverletzungen, unter einem Steinhaufen begraben. Was sich zugetragen hat, liegt nach wie vor im Dunkeln; der Informationsfluss wird über Nachrichtensperren und die Militärzensur genau kontrolliert.

Und so gibt es bis heute auch keine belastbaren Belege für die Aussage des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanjahu, es handele sich bei der Tat um eine von langer Hand vorbereitete Operation der Hamas. Netanjahu macht schon seit Wochen keinen Hehl daraus, dass es bei dem Militäreinsatz im Westjordanland vor allem darum ging, die Hamas und bewaffnete Gruppen zu schwächen.

Nun stehen alle Beteiligten vor einiger schwierigen Situation: Durch die PR-Kampagne der vergangenen Wochen reagierte Israels Öffentlichkeit hoch emotional auf die Todesnachricht, während in der palästinensischen Öffentlichkeit im Laufe des Militäreinsatzes die Wut stieg, die Wut auch auf die palästinensische Einheitsregierung unter Führung von Präsident Mahmud Abbas, dessen Sicherheitskräfte Informationen lieferten, die zur Gefangennahme von mittlerweile rund 400 Palästinensern führten. Die Hamas droht deshalb mit dem Ende der Einheitsregierung, auf die man sich erst vor Kurzem nach langen Verhandlungen geeinigt hatte. Abbas müsse die Sicherheitskooperation mit Israel sofort beenden.

Und darüber hinaus: Israels Rechte sieht nun ihre Zeit gekommen, und fordert, gleich den Gaza-Streifen, aus dem sich Israels Militär 2005 zurückgezogen hatte, wieder zu besetzen. Israels Premier steht damit unter massivem Druck. Das Militär drängt zur Zurückhaltung, betont immer wieder, im Westjordanland seien ohnehin nur noch Spurenelemente der Hamas und der Kampfgruppen aus ihrem Umfeld zu finden. Zudem müsse man sich Gedanken machen, wer den Gaza-Streifen wie unter Kontrolle bringen solle, wolle man die Hamas wirklich zerstören. Die Autonomiebehörde jedenfalls habe dort allein, ohne Unterstützung durch die etablierten politischen Kräfte vor Ort keine Chance, mahnten Generalstabschef Benny Gantz und der Direktor des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth in der nächtlichen Kabinettssitzung.

Noch in der Nacht bombardierte die Luftwaffe erneut Ziele im Gaza-Streifen; bis Dienstagmittag waren es mindestens 35. Zerstört werden sollte auch das Haus der Familie eines ehemaligen palästinensischen Häftlings, der einen Polizeioffizier getötet hatte, nachdem er 2011 im Zuge eines Gefangenenaustausches freigekommen war. Israels Oberster Gerichtshof ordnete an, damit zu warten, bis eine gerichtliche Entscheidung gefällt wurde. Später gab er sein Plazet zu dieser Destruktion. Die Häuser der beiden Palästinenser, die von Israels Regierung für den Tod der drei Jugendlichen verantwortlich gemacht werden, wurden indes in den frühen Morgenstunden bei einer Razzia durch das israelische Militär weitgehend zerstört: Die Soldaten hatten, »aus Sicherheitsgründen«, die Eingangstüren gesprengt.

Auch die Siedlerbewegung reagierte umgehend. Am Dienstag wurde in der Nähe des Fundorts der Leichen ein Siedlungsaußenposten errichtet – nach Lesart der Siedler in Erinnerung an die Jugendlichen. Für die Palästinenser ist es hingegen eine Provokation.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 2. Juli 2014


Nächste Eskalationsstufe

Israel startet nach Mord an Jugendlichen »Vergeltungsmaßnahmen« gegen Palästinenser. Außenminister fordert »Wiederbesetzung« des Gazastreifens. Hamas warnt vor neuem Krieg

Von Karin Leukefeld **


Nach der Entdeckung der Leichen von drei entführten Jugendlichen hat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Palästinensern mit Vergeltung gedroht. Die Leichen der am 12. Juni 2014 verschwundenen israelischen Teenager wurden am Montag abend nahe des Ortes Halhul, nördlich von Hebron im Westjordanland, unter Steinen und Zweigen auf einem Feld gefunden. Ersten Berichten zufolge sollen Ejal Dschiafrah (19), Gilad Schaar (16) und Naftali Fraenkel (16) bereits unmittelbar nach ihrer Entführung erschossen worden sein.

Noch am Montag abend trat das israelische Sicherheitskabinett zusammen. Erneut machte Regierungschef Netanjahu die Hamas für den Tod der drei Jungen verantwortlich und drohte, sie werde dafür bezahlen. Die Jungen seien »von Tieren in Menschengestalt kaltblütig« ermordet worden. Außenminister Avigdor Lieberman, der am Montag Berlin besucht hatte, forderte eine »vollständige Wiederbesetzung« des Gazastreifens, von wo sich die israelischen Besatzungstruppen 2005 zurückgezogen hatten. »Wir haben gesehen, daß begrenzte Operationen die Hamas nur stärken, darum gibt es nur eine Alternative«, so Lieberman. Finanzminister Jair Lapid sagte, es sei »Zeit, die Samthandschuhe auszuziehen und die Hamas da zu treffen, wo es ihr weh tut«. Die palästinensische Organisation hat jede Verantwortung für die Entführung zurückgewiesen. Hamas-Sprecher Sami Abu Suhri warnte, »falls die Besatzer eine Eskalation oder einen Krieg beginnen, werden sie die Tore zur Hölle« öffnen.

Offensive in Gaza

In der Nacht zu Dienstag flog die israelische Luftwaffe nach eigenen Angaben 34 Angriffe auf den Gazastreifen. Von dort waren seit Sonntag 18 Raketen auf den Süden Israels abgefeuert worden. Im Westjordanland wurden die Wohnhäuser der Familien von zwei gesuchten Palästinensern, die für die Entführung verantwortlich gemacht werden, in der Nacht zu Dienstag von israelischen Soldaten gesprengt. Im Flüchtlingslager Dschenin wurde der 18jährige Jusuf Abu Sagher während einer Razzia von israelischen Soldaten »in Selbstverteidigung« erschossen. Eine israelische Armeesprecherin gab an, es habe sich bei dem Jugendlichen um einen »Hamas-Kämpfer« gehandelt, der ein »explosives Teil« auf die Soldaten geworfen habe. »Sie eröffneten das Feuer auf ihn und bestätigten, daß er getroffen wurde.«

Nach der Entführung vor knapp drei Wochen waren die israelischen Streitkräfte massiv gegen die Palästinenser im besetzten Westjordanland vorgegangen. Im Zuge der Operation »Hüter der Brüder« waren 400 Menschen verhaftet und fünf Personen erschossen worden. Mindestens zwei weitere Palästinenser starben während der Razzien an Herzversagen.

Interne Ermittlungen hatten derweil ergeben, daß die israelische Polizei einem Notruf, bei dem einer der Jungen sich unmittelbar nach der Entführung über sein Handy mit den Worten »Ich bin entführt worden« gemeldet hatte, nicht vorschriftsgemäß nachgegangen war. Die Untersuchung hatte zu einer Reihe von Entlassungen der verantwortlichen Polizeibeamten geführt.

Die Hamas hatte von Anfang an erklärt, mit der Entführung nichts zu tun zu haben. Der Vorwurf Israels sei »dumm«, so ihr Sprecher Abu Suhri. »Die Besatzer benutzen diese Geschichte, um einen Krieg gegen unsere Bevölkerung, den Widerstand und gegen die Hamas zu rechtfertigen.«

Druck auf Fatah

Mit dem Vorwurf, die Hamas sei verantwortlich, hatte Netanjahu auch den Druck auf Palästinenserpräsident Mahmud Abbas erhöht. Dieser müsse die erst Anfang Juni gebildete Regierung der nationalen Einheit auflösen, forderte der israelische Premier. Die Einigung zwischen Fatah und Hamas auf eine Übergangsregierung, die Neuwahlen vorbereiten soll, war nach einer siebenjährigen Feindschaft zwischen beiden Organisationen zustande gekommen.

Der israelische Geheimdienst Shin Bet hatte vor wenigen Tagen die Namen von zwei ehemaligen palästinensischen Gefangenen veröffentlicht, die für die Entführung verantwortlich sein sollen. Marwan Kawasma und Amer Abu Eische sind offiziell flüchtig. In Zusammenarbeit mit den palästinensischen Sicherheitskräften hatte Shin Bet herausgefunden, daß diese beiden Personen in den 24 Stunden nach der Entführung verschwunden sein sollen. Die Familie Kawasma soll zwar die Hamas unterstützen, gleichzeitig aber deren Führung nicht akzeptieren und immer wieder eigene Aktionen durchführen, »um Schwierigkeiten zu machen«.

Großfamilien haben in arabischen Gesellschaften eine wichtige Position. Den Kawasmas sollen bis zu 10000 Personen angehören, sie gelten als drittgrößter Clan in dem Gebiet um Hebron. Seit der zweiten Intifada im Jahr 2000 kamen 15 Clanangehörige ums Leben, einige als Selbstmordattentäter. Der jetzt gesuchte Marwan Kawasma übernahm die Führung des Clans 2003, als der damalige Vorstand von Israel verhaftet und zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Seitdem hat der Kawasma-Clan immer wieder Vereinbarungen, die – von der Fatah oder von Israel – mit der Hamas getroffen worden waren, mit gewaltsamen Aktionen gegen Israel oder gegen die Siedler unterlaufen.

** Aus: junge Welt, Mittwoch 2. Juli 2014


Aus für Washingtons »Friedensprozeß«

Israel will »umfassende regionale Vereinbarung« mit »moderaten arabischen Staaten« statt Abkommen mit Palästinensern

Von Karin Leukefeld ***


Mit dem Tod der drei jugendlichen Israelis dürfte der von den USA angestrengte »Friedensprozeß« zwischen Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde vorerst beendet sein. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte bereits im März das Zusammenrücken der palästinensischen Fatah und Hamas zu einer Regierung der Nationalen Einheit als Provokation gewertet und mit einem massiven Ausbau von Siedlungen und mit finanziellen Strafmaßnahmen gegen die Autonomiebehörde reagiert. Als Besatzungsmacht kassiert Israel Steuern ein und ist – völkerrechtlich – verpflichtet, diese an die palästinensische Verwaltung weiterzuleiten. Diese Gelder waren auf israelischen Banken eingefroren worden.

Nach dem Verschwinden der drei Jugendlichen am 12. Juni 2014 hatte Netanjahu umgehend die Hamas der Entführung beschuldigt und eine Militäroperation in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes autorisiert. Die Stadt Hebron ist bis heute komplett abgeriegelt, was zu einem enormen wirtschaftlichen Schaden für die Bevölkerung und palästinensische Unternehmen geführt hat.

Aufrufe zur Mäßigung gegenüber den Palästinensern wurden von Netanjahu ignoriert. Der israelische Regierungschef steht unter massivem Druck der immer stärker werdenden reaktionären Siedlerbewegung, die auch in seiner Koalitionsregierung vertreten ist. Bei einer Begegnung zwischen den Außenministern Israels und der USA in Paris am vergangenen Donnerstag hatte Avigdor Lieberman seinem Amtskollegen John Kerry geraten, sich nicht länger um ein israelisch-palästinensisches Abkommen zu bemühen. Wichtiger sei es, sich statt dessen auf eine »umfassende regionale Vereinbarung« zwischen Israel und »moderaten arabischen Staaten« zu konzentrieren. Allesamt seien sie »sehr besorgt über die atomare Bedrohung aus dem Iran, über aus aller Welt kommende Gotteskrieger und daß die Konflikte in Syrien und im Irak sich in deren Nachbarstaaten ausweiten« könnten.

Aus der Entwicklung hat nun auch der US-Sonderbeauftragte für die israelisch-palästinensischen Friedensgespräche, Martin Indyk, die Konsequenz gezogen: Er ist von seinem Posten zurückgetreten. Am vergangenen Wochenende hatte Indyk dem Weißen Haus und dem Außenministerium seine Entscheidung mitgeteilt. Sollten die Gespräche eines Tages wieder aufgenommen werden, könne er erneut vermitteln, falls es gewünscht sei. Bis dahin wird Indyk dem US-Außenminister als Berater weiter zur Verfügung stehen. Kerry bedauerte die Entscheidung und beförderte den Diplomaten Frank Lowenstein zum Sonderbeauftragten. Indyk wird an das Brookings-Institut zurückkehren, wo er als Vizepräsident und Leiter der Abteilung für außenpolitische Studien tätig ist. Er war Gründungsmitglied des Instituts für Politik des Nahen Ostens, eines Thinktanks der einflußreichen pro­israelischen Lobbyorganisation AIPAC (Amerikanisch-Israelisches Komitee für öffentliche Angelegenheiten)

*** Aus: junge Welt, Mittwoch 2. Juli 2014


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