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Keiner kennt eine Ausstiegsstrategie

Schon jetzt ist Israels Gaza-Operation die umfangreichste und pro Tag die teuerste seiner Geschichte

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv *

Israels Luftangriffe haben schon jetzt zahlenmäßig den Gaza-Krieg im Herbst 2012 übertroffen. Ein Ende ist nicht in Sicht: Einen Waffenstillstand lehnt die Regierung ab.

Am Donnerstagmorgen holte der Krieg auch Regierungschef Benjamin Netanjahu ein. Zu Beginn einer Sitzung des Sicherheitskabinetts in Tel Aviv ertönte plötzlich der Alarm; der Premier und seine Minister eilten sofort in einen Schutzraum – eine Szene, die vom Team Netanjahu umgehend weiterverbreitet wurde, begleitet vom Hinweis darauf, dass niemand, auch nicht die obersten Politiker, vor dem Feuer der palästinensischen Militanten sicher sei.

Über die Themen solcher Besprechungen redet man indes nicht so gern, zu schnell kommt die Frage nach sogenannten Ausstiegsstrategien. Was ist, wenn man besonders erfolgreich ist und plötzlich den Gaza-Streifen wieder besetzt hat? Oder wie man einigermaßen heil aus der Sache kommt, falls der Raketenbeschuss nicht aufhört, die Menschen kriegsmüde sind, die Kosten zu hoch, die internationale Kritik zu groß.

Schon jetzt ist diese Operation die umfangreichste und gemessen in Tagen die teuerste, die Israels Militär in seiner Geschichte durchgeführt hat: Waffen mit einer Kraft von 520 Tonnen Sprengstoff wurden nach Aussage des Militärs bis zum Donnerstagmittag eingesetzt, Luftangriffe auf mehr als 1200 Ziele geflogen. Die täglichen Kosten werden auf umgerechnet 150 Millionen Euro geschätzt. Zum Vergleich: Ein Tag Libanon-Krieg kostete 2006 etwa 90 Millionen Euro. Hinzu kommen die Ausfälle in der Wirtschaft, die ebenfalls im dreistelligen Millionenbereich am Tag liegen dürften.

Und die Opferzahlen. Sie steigen nun nahezu stündlich; mehr als 110 Menschen starben bis zum Donnerstagnachmittag auf der palästinensischen Seite. Viele davon sind Zivilisten, denn die Luftwaffe greift auch die Häuser von Kommandeuren der Ezzedin-al-Kassam-Brigaden an, die sehr oft in dicht besiedelten Gebieten stehen. »Die Hamas benutzt die Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde«, lautet die offizielle Sichtweise von Premier Netanjahu, der der Hamas »doppelte Kriegsverbrechen« vorwirft – an der eigenen und an der israelischen Bevölkerung. Die israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem hält dagegen, dass Angriffe auf Privatgebäude gegen die Genfer Konvention verstoßen.

Und tatsächlich zeichnet sich ab, dass sich der Konflikt bald in die internationale Arena verlagern wird: Palästinas Präsident Mahmud Abbas hat in Aussicht gestellt, einen Antrag auf Mitgliedschaft beim Internationalen Strafgerichtshof zu stellen – eine Aussicht, die in Israel nicht wenigen große Sorgen bereitet. »Wir haben das Iron-Dome-System gegen die Raketen«, sagt Michael Oren, ein ehemaliger Botschafter Israels bei den Vereinigten Staaten, »aber wir haben keine Eiserne Kuppel gegen Mahmud Abbas.«

In diesen Tagen wird in Israels Medien minutiös darüber geschrieben, wann wo eine Rakete eingeschlagen oder vom Iron-Dome-System abgefangen worden ist. Auch wird die Frage diskutiert, wie lange Israel die immensen Kosten wird stemmen können. Im Kabinett allerdings wird zur Zeit ausschließlich darüber gesprochen, ob und wann man eine Bodenoffensive befehlen wird. Ein Waffenstillstand sei ausgeschlossen, ließ Netanjahu am Donnerstag erneut erklären.

Ebenso unbeantwortet ist die Frage nach den Belegen für die Urheberschaft der Hamas für die Entführung und Ermordung der drei israelischen Jugendlichen, die am Anfang der Eskalation standen. Außer den Namen zweier mutmaßlicher Täter wurden die versprochenen Belege bis heute der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung gestellt. Man müsse der Ermittlungsarbeit der Sicherheitsdienste vertrauen, heißt es.

Doch am Donnerstag wurde bekannt, dass die Ermittler drei der sechs Verdächtigen, die für die Ermordung des palästinensischen Jugendlichen verantwortlich gemacht wurden, gehen lassen mussten, nachdem sie tagelang ohne Anwalt festgehalten und befragt worden waren. Die Arbeit der Ermittler ist also fehleranfällig. * Aus: neues deutschland, Freitag, 11. Juli 2014


Ungleicher Krieg

Israelische Angriffe auf Gazastreifen fordern mehr als 80 Menschenleben. Opfer und Schäden fast ausschließlich auf palästinensischer Seite

Von Knut Mellenthin **


Israels Krieg gegen Gaza geht weiter. Nach der Zählung der palästinensischen Gesundheitsbehörden waren durch israelische Luftangriffe bis Donnerstag vormittag 81 Menschen getötet worden. Unter den Todesopfern sollen mindestens 18 Kinder sein. Die Zahl der Verletzten wurde mit über 600 angegeben. Viele Kinder und Jugendliche liegen mit Verbrennungen, Splitterverletzungen und schweren Schocks in den Krankenhäusern. Die medizinischen Einrichtungen des Gazastreifens sind schon jetzt über ihre Kapazitäten hinaus belastet. Ägypten, das sich normalerweise an der Abriegelung des Gebiets durch Israel beteiligt, öffnete am Donnerstag vorübergehend den Grenzübergang Rafah, um die Lieferung medizinischer Güter nach Gaza und den Transport einiger Verletzter in ägyptische Krankenhäuser zu ermöglichen.

Westliche Regierungen und Medien beteiligen sich derweil mit großem Engagement an der Fiktion, daß es sich um eine militärische Konfrontation zwischen Israel und der Hamas handele. Tatsächlich sind Opfer und Schäden aber fast ausschließlich auf der palästinensischen Seite zu finden. Dutzenden oder Hunderten von völlig zerstörten Wohnhäusern im Gaza-Gebiet stehen geringe Sachschäden an einer Straße oder einem landwirtschaftlichen Gebäude in Israel durch palästinensische Raketen gegenüber. Die Asymmetrie dieses einseitigen Krieges ist so extrem, daß die israelischen Medien statt kaum vorhandener realer Schäden lieber die Namen der Orte veröffentlichen, wo Luftschutzsirenen zu hören waren.

Die Rechnung geht auf: Es gibt keinen bedeutenden westlichen Politiker, der seit dem Beginn der Luftangriffe vor vier Tagen nicht mehrfach das Recht Israels auf »Selbstverteidigung« betont hat. Die Frage der Verhältnismäßigkeit wird dabei fast nie gestellt. Der Dachverband der mehr als 50 größten jüdischen Organisationen der USA, die »Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations«, erklärte am Mittwoch seine ausdrückliche Unterstützung der israelischen Luftangriffe und rief – als wäre das wirklich nötig – die Regierung in Jerusalem sogar »dringend« auf, »alle notwendigen Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Bürger zu unternehmen«.

Indessen steht der Beginn der allgemein erwarteten Bodenoffensive weiter aus. Geheimdienstminister Juval Steinitz wiederholte am Donnerstag seine Forderung, das 2005 geräumte Gaza-Gebiet »zeitweise wieder zu übernehmen«, mindestens für mehrere Wochen, um die Hamas völlig zu zerschlagen. Seiner Einschätzung nach, so Steinitz im israelischen Rundfunk, werde es demnächst eine »bedeutende Operation dieser Art« geben.

Israel hat bisher 40000 Reservisten einberufen. Sie sollen Besatzungssoldaten im palästinensischen Westjordanland ersetzen, um diese für Militäraktionen im Gazastreifen frei zu machen. Darüber hinaus waren die gewohnten Anzeichen für ein nahes Bevorstehen der Bodenoffensive am Donnerstag aber noch nicht zu erkennen.

Auf jeden Fall sollen die Luftangriffe verstärkt fortgesetzt werden. Es gebe noch »Tausende Ziele« im Gaza-Gebiet, sagte Militärsprecher Moti Almoz am Mittwoch. »Alle Optionen sind auf dem Tisch.« Bis Donnerstag mittag hatte die israelische Luftwaffe nach eigenen Angaben schon 800 Tonnen Explosivstoffe auf 750 Ziele abgeworfen oder abgeschossen. Das ist mehr als während der gesamten achttägigen Militäroperation gegen Gaza im November 2012.

** Aus: junge Welt, Freitag, 11. Juli 2014


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