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Täglich neue Festnahmen bei Razzien

Israels Militäroperation im Westjordanland dauert unvermindert an: Gut 300 Palästinenser wurden festgenommen; 300 000 sind in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt

Von Oliver Eberhardt *

Eine Woche nach dem Verschwinden dreier israelischer Jugendlicher an einem Anhalterstopp im Westjordanland hat Israels Militär seine Operation auf die gesamte »Westbank« ausgeweitet. Bisher wurden nach offiziellen Angaben an die 300 Menschen gefangen genommen, darunter mehr als 50 Palästinenser, die vor zweieinhalb Jahren im Gegenzug für die Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Schalit aus dem Gefängnis entlassen worden waren. Zudem seien mehr als 800 Gebäude durchsucht worden, bei denen es sich überwiegend um Einrichtungen der palästinensischen Organisation Hamas handeln soll. Doch auch im Büro des Politikers Dr. Mustafa Barghouti wurde eine Razzia durchgeführt, die Soldaten beschlagnahmten Festplatten. Barghouti war maßgeblich an der Aushandlung des Versöhnungsabkommens zwischen den beiden verfeindeten palästinensischen Gruppierungen Fatah und Hamas beteiligt.

Die Kritik an dieser Vorgehensweise hat in Israel am Donnerstag weiter zugenommen: Der Militäreinsatz sei eher darauf angelegt, politische Ziele zu erreichen, sind sich die Kommentatoren weitgehend einig. Israels Mitte-Rechts-Regierung wolle die Hamas schwächen und nehme das Verschwinden der drei Jugendlichen zum Anlass, diesen Zweck zu verfolgen. Nach Ansicht eines Analytikers der Zeitung »Jedioth Ahronoth« könnte das durchaus der israelischen Sicherheit schaden: Nicht nur hätten die Sicherheitsorgane die Steilvorlage dafür geliefert, dass es überhaupt so weit kommt, indem sie erst Stunden nach den ersten Hinweisen eine Suchoperation einleiteten. Nun könnten sich die Entführer auch noch darüber freuen, dass es »einer ganzen Armee« nicht gelingt, sie aufzuspüren: »Die Überlegenheit des israelischen Sicherheitsapparates dürfte damit dahin sein.«

Zudem kommt es bei den morgendlichen Razzien zunehmend zu Spannungen mit der Zivilbevölkerung: Spontan finden sich auf den Straßen aufgebrachte Menschenmengen zusammen, die von den Soldaten mit Gummigeschossen auseinandergetrieben werden. Am Donnerstagmorgen gab es darüber hinaus erste Schusswechsel mit Milizen in Jenin und Nablus.

Auch der palästinensische Präsident Mahmud Abbas sieht sich der Kritik ausgesetzt: Er hatte am Mittwoch die Entführung der drei israelischen Jugendlichen verurteilt; sie schade der palästinensischen Sache. Funktionäre der Hamas, aber auch viele palästinensische Medien kritisierten daraufhin, Abbas mache sich zur Marionette Israels.

* Aus: neues deutschland, Freitag 20. Juni 2014


Die das Schweigen brechen

Israelische Soldaten sprechen über Gewaltaktionen im Palästinensergebiet **

Hebron, jahrtausendealte Stadt im Herzen des südlichen Westjordanlandes. Friedensjahre hat sie kein Dutzend gehabt in den vergangenen 100 Jahren, und so ist die hier gebannte verräterische Silhouette auf der Tür eines der Häuser der 190 000-Einwohner-Stadt vielleicht tragisch, aber doch typisch.

Hier fiel 1929 ein Großteil der jüdischen Gemeinde einem arabischen Mob zum Opfer, und hier ermordete ein extremistischer Siedler mit einem Sturmgewehr 29 betende Muslime in der Abraham-Moschee. Nicht erst seit jenem 25. Februar 1994, aber ganz besonders seitdem ist Hebron ein Symbol der Konfrontation zwischen Juden und Muslimen. Und das wird es wohl bleiben, auch weil hier inmitten einer arabischen Stadt, hermetisch abgeriegelt, ein paar hundert der fanatischsten Zionisten unter dem waffenstarrenden Schutz der israelische Armee ihren Anspruch auf dauernde Okkupation manifestieren.

Eigentlich ist es eine Binsenweisheit, dass Waffen das am wenigsten geeignete Mittel sind, einem Konsens im nahöstlichen Jahrhundertkonflikt näherzukommen. Dies zu beweisen, hätte es die aktuellen Ereignisse in Palästina nicht gebraucht, aber sie belegen es augenfällig. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seiner Regierung ist diese Erkenntnis fremd.

Umso bemerkenswerter, dass einige israelische Soldaten nicht mehr Rädchen in diesem Teufelskreis der Gewalt sein wollen. »Breaking the Silence« nennen sie sich, denn sie wollen das Schweigen brechen und über ihre teils traumatischen Erlebnisse berichten. Sie patrouillierten nachts durch die Gassen, setzten Ausgangssperren durch, drangen in Wohnungen ein.

Seit 1967 gehören israelische Soldatinnen und Soldaten zum Stadtbild palästinensischer Städte. Nun berichten einige von ihnen in Videointerviews über die stillschweigende Zusammenarbeit der israelischen Armee mit extremistischen Siedlern und über die alltäglichen Schikanen, die sie den Menschen in den besetzten palästinensischen Gebieten zugefügt haben. Seit zehn Jahren bringt »Breaking the Silence« die Realität der Besatzung in die israelische Öffentlichkeit, allen Anfeindungen zum Trotz.

Zu der Initiative gehört Nadav Weiman, einst von 2005 bis 2008 Scharfschütze in einem israelischen Infanterieregiment. Er spricht im nd-Interview über seinen Militärdienst und seine veränderte Sicht auf den Nahost-Konflikt.

** Aus: neues deutschland, Freitag 20. Juni 2014


"Das Nachdenken setzt später ein"

Der ehemalige israelische Soldat Nadav Weiman »bricht das Schweigen« über die Besatzungsrealität ***

Nadav Weiman (28) diente drei Jahre lang als Scharfschütze bei den israelischen Nachal-Brigaden im Westjordanland, im Gaza-Streifen und an der Grenze zu Libanon. Heute gehört er der Organisation »Breaking the Silence« (BTS – Das Schweigen brechen) an. Ihr Ziel ist es, jüdischen Israelis und Touristen die ungeschönte Realität der Besatzung in den palästinensischen Gebieten zu zeigen. Weiman gehörte zu denen, die Anfang Juni anlässlich des zehnjährigen Bestehens von BTS im Zentrum von Tel Aviv Aussagen ehemaliger Soldaten öffentlich vortrugen. Marlen Kästner befragte ihn für »nd«.

Nadav, worin bestand Ihre Aufgabe als Angehöriger der Nachal-Brigaden?

Ich hatte alles Mögliche zu tun. Was Scharfschützen halt so machen, aber auch Festnahmen und Observierungen.

Wie haben Sie sich Ihren Einsatz vorgestellt?

Ich habe gedacht, was eigentlich alle israelischen Jugendlichen denken: dass ich Israel beschützen werde. Wissen Sie, in meiner Vorstellung war alles wie in einem Kriegsszenario. Ich dachte an Panzer, Helikopter ... Natürlich wusste ich, dass wir ein Land besetzen, Palästina, aber ich wusste nicht, wie es sein würde.

War Ihnen bewusst, was Ihre Aufgaben sein würden?

Nicht genau. Wenn man zur kämpfenden Truppe gehört, kann man sich aussuchen, in welcher Einheit man dienen will. Ich wollte zur Spezialeinheit, weil ich annahm, ich würde dort Dinge tun, die cool sind, verstehen Sie?

Was wussten Sie über die Palästinenser?

Nichts. Die meisten Israelis treffen das erste Mal auf Palästinenser, wenn sie zur Armee kommen. Bis zum Alter von 18 Jahren hatte ich nie Palästinenser getroffen. Ich hatte ein paar arabisch-israelische Freunde, aber Palästinenser hatte ich bis dahin nie getroffen. Die Armee selbst behandelt auch keine Themen wie internationales Recht, die Genfer Konventionen oder Ähnliches. Sie sagen dir: Die Palästinenser sind deine Gegner und du musst Israel verteidigen. Die Palästinenser betrachtet man als Einheit, nicht als Individuen.

Sollten Sie auch jüdische Siedler vor Palästinensern »beschützen«?

Ja. Das ist eine der zentralen Aufgaben der Soldaten im Westjordanland. Der Tenor ist: Siedler und Siedlungen sind dazu da, Israel zu schützen. Es ist also, als ob du deine Familie zu Hause in Tel Aviv beschützen würdest. Trotzdem hassen viele Siedler die Soldaten, auch weil wir oft Siedlungen räumen müssen. Das war der Fall in der Siedlung Sanur. Einmal geräumt, kamen die Siedler nach einem Jahr dorthin zurück. Das war illegal. Trotzdem war unsere Einheit verantwortlich für ihre Sicherheit. Einmal hatten wir ein Training in einer Siedlung. Das Kommando übernahm ein Siedler, eine zivile Person ohne militärischen Rang oder Ausbildung und wir mussten seinen Befehlen folgen.

Gibt es eine bestimmte Situation, die Ihnen unwiderruflich im Gedächtnis geblieben ist?

Zu Anfang meiner Armeezeit – und dann immer wieder – sind wir nachts in ein Haus im Flüchtlingslager von Jenin eingedrungen, um es als Scharfschützenposten zu benutzen. Bei so einem Einsatz muss alles ganz schnell gehen: Die Tür wird aufgebrochen und man muss sofort alle Familienmitglieder im Haus finden und ruhigstellen, denn niemand soll von der Aktion etwas mitbekommen. Hinter der ersten Tür, die ich aufmachte, lag eine Person im Bett. Ich packte sie. Es war ein Junge, 12 oder 13 Jahre alt. In seinen Augen konnte ich die schiere Angst sehen. Der Blick des Jungen ist hier drinnen (tippt sich an die Stirn).

Haben Sie sich während Ihrer Armeezeit Ihrer Familie, Ihren Freunden anvertraut?

Du sprichst mit deiner Familie nicht darüber, was im Westjordanland passiert. Du willst es ihnen nicht sagen, denn du bist ja selbst nicht gerade stolz darauf, dass du Kinder und Jugendliche festnimmst, schlägst etc. Nur innerhalb meines Teams, wir waren zwölf Mann, haben wir geredet und heftig debattiert, aber letztendlich machst du als Soldat das, was sie dir sagen. Das Nachdenken setzt später ein.

Was halten ehemalige Mitglieder Ihrer Einheit davon, dass Sie jetzt bei »Breaking the Silence« sind?

Ein guter Freund aus meiner ehemaligen Einheit ist auch bei BTS. Allerdings sind auch zwei meiner ehemaligen Kameraden Siedler. Sie alle hatten Angst, dass man uns vor ein Militärgericht stellt, aber das passiert nie.

Warum haben Sie sich entschlossen, bei BTS mitzumachen?

Wegen der Stille in unserer Gesellschaft, was die Besatzung betrifft. Das Westjordanland und das Militärregime sind 45 Autominuten von Tel Aviv entfernt. Die Palästinenser leben dort unter unwürdigen Bedingungen. In Tel Aviv dagegen hast du ein tolles Leben. Ich wollte, dass unsere Gesellschaft weiß, was Freunde, Cousins, Brüder dort machen.

Haben Sie Ihre Geschichte bei BTS auch erzählt, um wieder mit sich ins Reine zu kommen?

Ich kann nicht ändern, was ich getan habe, aber ich kann jetzt helfen, etwas zu verändern. Aber es gibt Abende, an denen ich nicht einschlafen kann.

Was denken Personen in Ihrem Umfeld darüber, dass Sie bei BTS mitmachen?

Am Anfang waren sie sehr verärgert, besonders mein Vater. Meine Mutter hatte Angst, dass ich keinen guten Job finden würde. BTS ist eine Menschenrechtsorganisation und in Israel haben Menschrechtsorganisationen einen schweren Stand. Außerdem sind zwei meiner Brüder hohe Offiziere in der Armee. Ich galt als Verräter. Eine typische Reaktion hier in Israel. Jetzt wissen sie mehr über BTS. Wir zerren weder Soldaten vor das Militärgericht, noch sind wir gegen die Armee. Wir sind gegen die Politik unserer Regierung, gegen die Besatzung. Heute unterstützt mich meine Familie, aber es gibt Freunde, die nicht mehr mit mir reden.

Wie denken Sie heute über den Konflikt, und wie haben Sie gedacht, bevor Sie in die Armee eingetreten sind?

Das ist eigenartig. Schon vor meiner Armeezeit war ich gegen die Besatzung, weil ich der Meinung war, dass die Palästinenser ihren eigenen Staat brauchen. Ich bin immer noch der gleichen Meinung, mit dem Unterschied, dass ich jetzt genau weiß, was dort passiert und warum ich gegen die Besatzung bin.

Sie haben vorhin gesagt, dass Sie vor Ihrer Armeezeit nicht viel über die Palästinenser wussten. Wie ist das heute?

Ich würde sagen, dass ich heute sehr viel mehr über sie weiß. In der Schule habe ich kein Arabisch gelernt, obwohl in allen unseren Nachbarstaaten Arabisch gesprochen wird. Das versuche ich jetzt nachzuholen.

Ihre Armeejahre (2005-2008) im Vergleich zu Juni 2014: Hat sich etwas verändert?

Ja, definitiv. Im Westjordanland hat sich die Situation sichtbar verschlechtert: mehr Landverlust für die Palästinenser, mehr Siedler, mehr Checkpoints. Israels Oberster Gerichtshof hat in den letzten Jahren einige Entscheidungen gefällt, die die Besatzung stützen. Was die israelische Gesellschaft und ihr Wissen und Interesse an der Besatzung anbelangt, bin ich optimistischer.

Gab es Momente, in denen Sie sich einsam gefühlt haben, weil Sie eine andere Meinung als viele Israelis haben?

Am Anfang ja. Dann, auf den Informationstouren nach Hebron, habe ich Israelis getroffen, die so denken wie ich. Viele von ihnen sehen ihre politische Position mitte-links und einige sogar rechts. Gemäß dem politischen Spektrum in Israel sind sie aber eigentlich Linke oder sogar radikale Linke. Aber Linke gelten in Israel als Verräter. Das Wort ist eine Beleidigung. Kinder benutzen es, um sich gegenseitig zu beschimpfen. Deshalb möchte niemand sich selbst als Linken bezeichnen.

Wie hat die Zeit bei der Armee Ihr Leben beeinflusst?

Ich bin gegenüber menschlichem Leid im Allgemeinen sehr viel sensibler geworden.

Haben Sie Kinder?

Ich arbeite seit vier Jahren in einer Einrichtung, die sich um Kinder kümmert, die nicht bei ihren Familien wohnen können. Ich habe zwölf fantastische Kinder mit großgezogen, die für mich wie meine eigenen sind.

Was würden Sie ihnen sagen, wenn sie zur Armee gehen wollten?

Letztes Jahr sind drei »meiner« Kinder zur Armee gegangen. Das war sehr hart für mich, auch weil sie alles über mich und meine Arbeit in BTS wissen. Aber es ist zuerst einmal ihre Entscheidung. Zweitens gibt es ein Gesetz in Israel, nach dem fast ausnahmslos alle zur Armee müssen.

Seit einiger Zeit verlassen viele junge, gut ausgebildete jüdische Israelis und Palästinenser ihre Heimat. Wie sieht Israel, wie sieht Palästina in zwei Jahren aus?

Ich glaube nicht, dass die Zahl beider Gruppen so groß ist, dass sie einen Wandel in der Gesellschaft hervorrufen wird. Was die jüdischen Israelis betrifft, bin ich der Meinung, dass sie vor unserer Realität weglaufen und das ist falsch. Wir haben diese Realität geschaffen, wir Israelis. Wir sind verantwortlich dafür, was mit uns und den Palästinensern passiert.

In der Zukunft werden sich die Dinge wohl ändern. Die Haltung einiger Staaten gegenüber Israel hat sich schon verändert. Im Moment haben wir in Israel die radikalste Regierung in unserer ganzen Geschichte. Vielleicht sehen die Leute, dass wir auf diesem Weg nicht weiterkommen, und wählen in der Zukunft wieder mehr linke Parteien.

Sie sind also eher optimistisch?

Als politischer Aktivist musst du optimistisch sein! (Lacht)

Braucht es mehr Druck von außen oder muss der Wandel von innen heraus kommen?

Ich denke, die Welt kann uns helfen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Die Hauptaufgabe liegt bei uns.

*** Aus: neues deutschland, Freitag 20. Juni 2014


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