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Keine Spur von drei jungen Israelis, aber 80 Verhaftungen

Große Suchaktion im Westjordanland und Razzia vor allem bei Hamas-Funktionären

Von Oliver Eberhardt *

Im Westjordanland werden seit Donnerstag drei israelische Jugendliche vermisst. Israels Regierung sagt, die Hamas habe das Trio entführt. Doch viele Fragen sind noch offen.

Noch drei Gilad Schalits? Immer wieder äußern Israels Medien in diesen Tagen die Befürchtung, dass sich der Fall des jungen Soldaten, der sich Jahre lang in der Hand der Hamas im Gazastreifen befand, wiederholen könnte. Drei weitere Ofir Rahums? Abrupt sind in der Öffentlichkeit Erinnerungen an den 16-jährigen Jungen wach geworden, der 2001 über das Internet nach Ramallah gelockt worden und dort mit 15 Schüssen getötet worden war.

Die Medien des Landes berichten nahezu ohne Pause jedes Detail über das Verschwinden von drei israelischen Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 19 Jahren. Dafür unterbrachen sie auch die Fußballübertragungen und die Schabbath-Ruhe. Doch es wird immer wieder darauf verwiesen, dass Regierung und Sicherheitsorgane versuchen, den Informationsfluss zu steuern.

Im Grunde ist kaum etwas bekannt – weder der Öffentlichkeit noch den Sicherheitskräften – außer: Die drei jungen Männer, von denen einer in einer Siedlung nördlich von Jerusalem wohnt, während die beiden anderen aus dem Kernland stammen, wurden das letzte Mal am Donnerstagabend an einer Anhalterstation außerhalb des Siedlungsblocks Gusch Etzion südlich von Jerusalem gesehen. Dort warteten sie auf Fahrer, die sie in Richtung Stadt mitnehmen. Das Fahren per Anhalter ist für Israelis eine normale Form der Fortbewegung. Die Busverbindungen außerhalb der Städte sind schlecht, man ist auf Autofahrer angewiesen.

Es folgte eine gigantische Suchaktion. An die 2000 Soldaten und nahezu der gesamte Inlandsgeheimdienst Schin Beth suchen nach den drei Jugendlichen, die an Religionsschulen im Westjordanland studieren. Bei einer Razzia am Sonntagmorgen wurden rund 80 Palästinenser, darunter viele Hamas-Funktionäre festgenommen. Auch jordanische und ägyptische Sicherheitskräfte sind beteiligt. Damit die drei nicht über die Grenze geschafft werden können, verstärkten die beiden Länder dort ihre Präsenz.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu sieht die Ereignisse trotz der dürftigen Informationslage als Bestätigung für seine kategorische Ablehnung der mit Unterstützung der Hamas gebildeten palästinensischen Einheitsregierung. »Unsere Kinder sind von einer Terrororganisation entführt worden«, sagte er Journalisten am Sonntag und ließ keinen Zweifel, dass er die Hamas meinte, ohne sie beim Namen zu nennen.

Sprecher der Organisation wiesen eine Beteiligung indes zurück. Auch die palästinensische Regierung lehnt eine Mitverantwortung ab. Dort verweist man auf einige Details, die sowohl Israels Regierung als auch Sicherheitskräfte und Militär nicht offen ansprechen. Die drei Jugendlichen wurden das letzte Mal in jenen Teilen des Westjordanlandes gesehen, die sich komplett unter israelischer Kontrolle befinden. Palästinensische Sicherheitskräfte dürfen sich dort nicht aufhalten. Und es war Israels Regierung, die im April als Reaktion auf die palästinensische Weigerung, die Verhandlungen fortzusetzen, die Zusammenarbeit mit der palästinensischen Regierung auf ein Minimum zurückfuhr.

Israels Regierung hält dem entgegen, die Täter stammten aus den Gebieten unter palästinensischer Kontrolle. Sie sagt aber auch, man wisse nicht, wer die Täter seien und wo sie sich aufhielten. Am späten Sonntagnachmittag begann Israels Militär damit, Hebron hermetisch abzuriegeln. Mit Betonblöcken wurden alle Zufahrtsstraßen abgesperrt, die von Palästinensern genutzt werden dürfen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 16. Juni 2014


Dokumentiert: Erklärung des Außenministeriums des Staates Israel

Drei israelische Schüler von der Hamas entführt

Am Donnerstag wurden drei israelische Jugendliche – Eyal Yifrach (19) aus Elad, Gilad Sha‘er (16) aus Talmon und Naftali Frenkel (16) aus Nof Ayalon – entführt, als sie sich auf ihrem Heimweg von der Schule in Kfar Etzion in Judäa zurück zu ihren Familien befanden. Zuletzt wurden sie nahe einer Bushaltestelle gesehen. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen von ihnen.

Die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (ZAHAL) und die israelische Regierung gehen davon aus, dass sie von Mitgliedern der Hamas entführt wurden.

Die Entführung der Jugendlichen ist ein direktes Ergebnis der verstärkten terroristischen Aktivitäten, die vom Westjordanland ausgehen, seitdem Präsident Mahmud Abbas ein Bündnis mit der Hamas eingegangen ist. Dazu gehören ein vereitelter Selbstmordanschlag und ein bewaffneter Angriff, bei dem ein Polizist verwundet wurde. Dutzende Entführungsversuche wurden allein im vergangenen Jahr verhindert. Das Bündnis zwischen Präsident Abbas und der Hamas hat die Aussicht auf Frieden in weite Ferne gerückt und destabilisiert die Region. Es besteht die Gefahr, dass die Hamas die Kontrolle über die Palästinensische Autonomiebehörde erlangt und diese zu einem Hort des Terrorismus macht, wie es schon im Gazastreifen geschehen ist.

Israel hält die Palästinensische Autonomiebehörde unter Führung von Präsident Abbas verantwortlich für das Schicksal der entführten Teenager. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sagte am Samstag: „Terroristen der Hamas haben unsere drei Jugendlichen entführt. Dieser Angriff sollte niemanden überraschen, denn Hamas macht kein Geheimnis aus seiner Agenda. Hamas hat sich der Zerstörung Israels verpflichtet und dem Terror gegen israelische Zivilisten – auch gegen Kinder.

Statt seiner internationalen Verpflichtung nachzukommen, die Hamas zu entwaffnen, ist Präsident Abbas eine Einheitsregierung mit der Hamas eingegangen und hat so dem Terrorismus Legitimität verliehen. Israel hält die Palästinensische Autonomiebehörde und Präsident Abbas verantwortlich für alle Angriffe, die von palästinensisch-kontrolliertem Gebiet ausgehen.“

Ministerpräsident Netanyahu forderte Präsident Abbas in einem Telefonat am heutigen Montag auf, bei der Suche nach den vermissten Jugendlichen und der Festnahme der Entführer zu helfen.

Die ZAHAL führen in der Region umfangreiche Suchaktionen durch, um die entführten Jugendlichen zu finden. In diesem Zusammenhang wurden bislang 150 palästinensische Verdächtige verhaftet.

UN-Generalsekretär Ban Ki-moon verurteilte die Entführung der drei Schüler und rief zu ihrer sofortigen Freilassung auf.

US-Außenminister John Kerry verurteilte die Entführung ebenfalls aufs Schärfste und forderte die sofortige Freilassung. „Wir benötigen noch weitere Informationen zu den Verantwortlichen, aber es gibt zahlreiche Hinweise, die auf eine Beteiligung der Hamas deuten. Diese Hinweise bestätigen unseren Standpunkt, dass Hamas eine Terrororganisation ist, die dafür bekannt ist, unschuldige Zivilisten anzugreifen und bereits in der Vergangenheit Entführungen durchgeführt hat.“

Der britische Außenminister William Hague äußerte sich ebenfalls zur Entführung: „Ich verurteile die Entführung der drei israelischen Jugendlichen im Westjordanland aufs Schärfste. Meine Gedanken sind bei ihren Familien, und ich hoffe auf ihre baldige und sichere Heimkehr. Ich rufe alle, die ihre Freilassung herbeiführen können, auf, schnell entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.“

Der Leiter des Internationalen Roten Kreuzes im Mittleren Osten, Robert Mardini, sagte: „Wir sind sehr besorgt über das Schicksal der Teenager. Das Humanitäre Völkerrecht verbietet Entführungen und Geiselnahmen. Sie müssen menschlich behandelt werden und ihr Leben und ihre Würde müssen geschützt und respektiert werden.“

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, formulierte in einer Stellungnahme: „Wir hoffen auf eine schnelle und sichere Rückkehr von Gilad, Naftali und Eyal. Offenbar ist die Hamas für die Entführungen verantwortlich. (…) Und dass auf palästinensischen Strassen die Entführung dreier unschuldiger Jugendlicher sogar mit Freudentaumel und Süßigkeiten gefeiert wird, bleibt schockierend und grauenhaft. Hier ist purer Hass am Werk, der einen Frieden in weite Ferne rücken lässt.“

Unterdessen beteten am gestrigen Abend rund 30.000 Menschen an der Klagemauer in Jerusalem für die schnelle Freilassung von Eyal Yifrach, Gilad Sha’er und Naftali Frenkel. Unter den Betenden waren auch Familienmitglieder der Entführten.

(Außenministerium des Staates Israel/Büro des Ministerpräsidenten/Sprecher der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte/Büro des UN-Generalsekretärs/US-Außenministerium/Britisches Außenministerium/Internationales Rotes Kreuz/Times of Israel, 15/16.06.14)



Israel geht weiter massiv gegen die Hamas vor

Großfahndung nach drei Jugendlichen konzentrierte sich auf Hebron

Von Oliver Eberhardt **


Nach dem Verschwinden dreier israelischer Jugendlicher gehen Israels Sicherheitskräfte weiter gegen die Hamas vor. Die Einschränkungen für die Bevölkerung sind massiv.

Es sind Bilder, die Menschen auf beiden Seiten ärgern: Während Israels Militär die palästinensische Stadt Hebron abgeriegelt hat, während Soldaten immer wieder Dutzende Palästinenser gefangen nehmen und Proteste dagegen niedergeschlagen werden, zeigen Fernsehsender, wie an der Gusch-Etzion-Kreuzung alles so ist wie immer.

An jenem Anhalterstopp, an dem die drei vermissten Jugendlichen zum letzten Mal gesehen wurden, warteten auch am Montag – vier Tage danach – wieder Dutzende israelische Siedler darauf, von Autofahrern mitgenommen zu werden. Man vertraut darauf, dass das Militär die Straße von Hebron in Richtung Jerusalem nun komplett kontrolliert.

Die palästinensische Zivilbevölkerung muss dagegen große Umwege in Kauf nehmen. Nicht-israelische Fahrer werden nur vereinzelt auf die Straße 60 gelassen. Alle Abzweigungen und Feldwege, die zu Ortschaften führen, sind abgeriegelt. Mehr als 1000 Soldaten setzen diese Sperrungen durch.

Sehr viele mehr haben Hebron abgeriegelt. Am Sonntagnachmittag hatte das Militär damit begonnen, die Zufahrtsstraßen in die Stadt, die als Hochburg der Hamas gilt, zu sperren: Bis in die Abendstunden durften Palästinenser die Stadt nicht verlassen. Im Zentrum gab es daraufhin Proteste von Ladenbesitzern, weil Lieferungen von frischem Obst und Gemüse ausblieben.

Zudem betreten Militäreinheiten zum Zwecke von Festnahmen immer wieder Städte und Dörfer unter palästinensischer Kontrolle: Bis zu 150 Personen wurden bislang festgesetzt, darunter auch der Sprecher des palästinensischen Parlaments, Aziz Duwaik. Wie er werden die meisten Gefangenen dem Umfeld der Hamas zugerechnet.

Zwar bestreitet die Organisation nach wie vor jede Beteiligung am Verschwinden der Jugendlichen, ist die Informationslage dürftig und durch die israelische Militärzensur streng kontrolliert. Doch Israels Regierung ist felsenfest von der Verantwortung der Hamas überzeugt. Durch die Bildung der Einheitsregierung habe die Organisation freie Hand im Westjordanland. Die Hamas verweist hingegen darauf, dass die palästinensischen Sicherheitskräfte auch nach der Vereidigung der Regierung gegen Gruppen vorgingen, die zwar dem ideologischen Unterbau der Hamas nahe, aber nicht unter ihrem Einfluss stehen. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas verurteilte in einer Erklärung die Entführung der Jugendlichen. Er kritisierte aber auch »die darauf folgenden israelischen Rechtsverstöße«.

In den palästinensischen Gebieten kommt es nun immer wieder zu Konfrontationen zwischen jungen Palästinensern und Soldaten, auf die das Militär mit Tränengas und Gummigeschossen, teilweise auch mit scharfer Munition, reagiert. Mindestens ein junger Mann wurde dabei durch einen Brustschuss getötet.

In Israels Medien findet sich starke Kritik am Vorgehen der Regierung: Premierminister Benjamin Netanjahu mache seine Ablehnung der palästinensischen Einheitsregierung zur Leitschnur seines Handelns, kommentierte die Zeitung »Jediot Ahronot«. Und der Militärrundfunk fordert, die Regierung solle sich einzig darauf konzentrieren, die Jugendlichen zu finden. Durch die derzeitige Vorgehensweise schaffe sie Israel nur neue Feinde.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juni 2014


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