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Bodenkrieg wird zur Gretchenfrage

Israels Premier könnte damit die rechten Koalitionäre halten. Doch die Risiken sind groß

Von Oliver Eberhardt *

Die Lage im und um den Gaza-Streifen herum spitzt sich zu. Der israelische Armee-Einsatz wurde ausgeweitet; auch der Raketenbeschuss durch militante Palästinenser hat zugenommen.

Es sind Bilder, die an die vorangegangenen Gaza-Kriege erinnern: An der Grenze sind israelische Panzer aufgefahren, Tausende Soldaten aufmarschiert. Immer mal wieder saust eine Rakete über ihre Köpfe hinweg, ist in der Ferne das metallische Krachen zu hören, wenn die Geschosse irgendwo einschlagen, sie von den Raketenabwehrsystemen in der Luft abgefangen werden. Immer wieder sind Kampfflugzeuge und Hubschrauber zu hören, die auf dem Weg zu Luftangriffen sind. Noch findet der Militäreinsatz ausschließlich aus der Luft statt. Es werden Angriffe gegen Einrichtungen militanter Gruppen geflogen; auch die für längere Zeit eingestellte Praxis der gezielten Tötungen wurde wieder aufgenommen.

So starb am Dienstagmorgen der Kommandeur der Marineeinheit der Essedin-al-Kassam-Brigaden, die dem im Ausland ansässigen Politbüro der Hamas nahestehen, bei einem gezielten Angriff auf seinen Wagen; außerdem wurden die Häuser von mindestens zwei weiteren Kommandeuren der Brigaden beschossen. Bei allen Angriffen seit Montagabend wurden nach Angaben des Schifa-Krankenhauses in Gaza, dessen Mitarbeiter nur Informationen weitergeben, die sie auch belegen können, mindestens 18 Menschen getötet und 52 Menschen verletzt. Die Zahl der betroffenen Zivilisten ist unbekannt.

Nach Angaben des israelischen Militärs wurden von Montagabend bis Dienstagnachmittag mehr als 100 Ziele angegriffen. Die Auswirkungen des palästinensischen Raketenbeschusses auf der israelischen Seite sind bislang gering. Tote waren bis zum Nachmittag nicht zu beklagen; die Krankenhäuser berichten von Verletzten, die meisten davon erlitten Schocks, im »oberen zweistelligen Bereich«. Dafür nimmt das öffentliche Leben in der Region schweren Schaden. Auf Anordnung der Gewerkschaft wurde der Hafen von Aschdod geschlossen, weil dort die Arbeiter nicht rechtzeitig Schutz suchen könnten, so die Begründung. Zwischen Beer Schewa und dem Gaza-Streifen sollen sich die Menschen nicht weiter als 15 Sekunden vom Luftschutzbunker entfernen.

Viele fragen sich nun, ob die Bodenoffensive kommen wird. Am Nachmittag beschloss das Sicherheitskabinett die Mobilisierung von 40 000 Reservisten. Zuvor hatte Regierungschef Benjamin Netanjahu Generalstabschef Benny Gantz öffentlich aufgetragen, er solle »die Samthandschuhe« ausziehen. Medien berichten unter Berufung auf Netanjahu-Berater, er habe den Generalstab beauftragt, eine »konsequente, lange und nachhaltige Militäroperation in Gaza« durchzuführen. Aber: Damit sei noch nicht gesagt, dass die Bodenoffensive kommt.

Denn zwar würde Netanjahu damit den Auszug der rechten Parteien aus der Koalition abwenden, der sich seit Montag abzeichnet. Die Rechten machen den Verbleib von einer Bodenoffensive abhängig. Doch sowohl Militär als auch der Regierungschef scheuen sich, der Forderung nachzugeben, denn es besteht die Gefahr, für längere Zeit im Gaza-Streifen bleiben zu müssen. Und noch viel mehr als das: Es besteht die Möglichkeit, dass darüber Palästinas Präsident Mahmud Abbas stürzt. Er hat durch seine Kooperation mit Israel, in Verbindung mit dem Mord an einem palästinensischen Jugendlichen und den Militäreinsätzen in Gaza, weiter an Rückhalt in der Bevölkerung eingebüßt. Auch die Gefahr, dass aus den Ausschreitungen der vergangenen Tage, die am Dienstag abgeebbt sind, tatsächlich eine dritte Intifada wird.

Die Siedlerpartei »Jüdisches Heim«, deren Vorgängerparteien 2005 den Widerstand gegen die Räumung der Siedlungen im Gaza-Streifen maßgeblich mittrugen, hat bereits klargemacht, dass sie eine Wiederbesetzung Gazas wünscht; alles andere habe sich nicht bewährt, so die Haltung dort.

Das aber wiederum ist mit den zentristischen Koalitionspartnern nicht zu machen. Während man dort offiziell noch zur Koalition steht, hat man sich am Dienstag mit Vertretern der Linken getroffen, um über Alternativen nachzudenken.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. Juli 2014


Offensive gegen Gaza

Israel startet Militäraktionen gegen das 2005 geräumte Gebiet. Wohnhäuser gezielt zerstört. Einsatz von Bodentruppen droht. Regierungspolitiker fordern Wiederbesetzung

Von Knut Mellenthin **


Israel hat in der Nacht von Montag zu Dienstag eine neue Militäroperation gegen das palästinensische Gazagebiet begonnen. Der offizielle Name lautet auf hebräisch »Zuk Eitan«, was wörtlich »Fester Felsen« bedeutet. Die auch in Israel gebräuchliche, im Ausland allgemein verbreitete englische Bezeichnung »Protective Edge«, für die eine Vielzahl von Übersetzungen möglich ist, wie etwa »Schützende Begrenzung«, entspricht dem hebräischen Namen überhaupt nicht.

Welchen Umfang »Zuk Eitan« annehmen wird, war am Dienstag zunächst noch nicht zu erkennen. Anonyme israelische Militärquellen sprachen von einer »langen Operation«, die gerade erst begonnen habe. Das deutet darauf hin, daß Israel wieder einmal, wie zwischen Dezember 2008 und Januar 2009 und zuletzt im November 2012, den Einsatz von Bodenkräften im Gazastreifen plant. Während der Offensive 2008/2009 töteten die israelischen Streitkräfte mindestens 1400 Palästinenser, darunter zahlreiche Zivilisten. Die Militäraktionen im November 2012 hatten einen erheblich geringeren Umfang.

Israelische Truppen sind schon seit Tagen einsatzbereit an der Grenze zum Gazagebiet konzentriert. Die Streitkräfte gaben am Montag die Einberufung von 1500 Reservisten bekannt. Diese Zahl erscheint zwar niedrig, doch handelt es sich dabei großenteils nicht um einfache Soldaten, sondern um Führungskräfte. Mehrere Regierungsmitglieder haben sich in gewollt aggressiver Tonart öffentlich dafür ausgesprochen, das vor neun Jahren geräumte Gazagebiet zumindest vorübergehend wieder militärisch zu besetzen und, so wörtlich, »die Ställe auszumisten«. In diesem Sinn äußerten sich vor allem Außenminister Avigdor Lieberman und Geheimdienstminister Juval Steinitz. Dagegen schien Premier Benjamin Netanjahu am Dienstag zunächst noch die Entwicklung der Lage und die palästinensischen Reaktionen abwarten zu wollen.

Nach eigenen Angaben griff die israelische Luftwaffe am Montag und in der Nacht zum Dienstag 47 »Terrorziele« im Gazastreifen an. Drei weitere wurden von See aus beschossen. Mindestens 17 verletzte Palästinenser wurden in Krankenhäuser eingeliefert. Unter anderem zerstörten die Israelis vier Wohnhäuser, in denen angeblich »Hamas-Terroristen« gelebt hatten. Den Familien wurden nur wenige Minuten Zeit gelassen, vorher zu flüchten. In mehreren Fällen riefen israelische Dienststellen die Betroffenen an, um sie zu »warnen«. Es soll aber auch die traditionelle Methode des »Dachklopfens« angewendet worden sein. Dabei wird zunächst ein kleines Geschoß eingesetzt, um die Bewohner auf die kurz bevorstehende Vernichtung ihres Hauses aufmerksam zu machen. Die Luftangriffe sollen, so hieß es offiziell am Dienstag, auch in den nächsten Tagen fortgesetzt werden.

Die israelische Regierung rechtfertigt ihre Militäraktionen als »Selbstverteidigung« gegen Raketen aus dem Gazastreifen. Nach ihren Angaben wurden seit dem 12. Juni – an diesem Tag waren im besetzten Westjordanland drei jüdische Jugendliche entführt worden – bis zum frühen Dienstag rund 200 Raketen auf israelisches Territorium abgeschossen. Zu einem erheblichen Teil waren das allerdings Reaktionen auf die israelischen Luftangriffe, die schon in der Woche zuvor begonnen hatten. Die oft selbstgebastelten Raketen haben nur geringe Sprengkraft, eine kleine Reichweite und sind nicht steuerbar. Bei den Raketenschüssen der letzten Wochen wurde ein Israeli leicht verletzt.

** Aus: junge Welt Mittwoch, 9. Juli 2014


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