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"Die Okkupation provoziert den Terror"

Moshe Zuckermann über Kritik an Israel, Antisemitismus, "Antideutsche" und die Bedrohung Israels durch Iran

Der israelische Soziologe Moshe Zuckermann ist Sohn deutsch-jüdischer Holocaust-Überlebender. Mit 21 Jahren emigrierte er von Frankfurt am Main nach Israel und war von 2000 bis 2005 Leiter des Instituts für Deutsche Geschichte an der Universität in Tel Aviv, wo er heute als Professor für Geschichte und Philosophie am Institute for the History and Philosophie of Science and Ideas tätig ist. Zuckermann veröffentlichte mehrere Beiträge und Bücher über das deutsch-israelische Verhältnis. Zuletzt erschien von ihm »Zeit der Lemminge: Aphorismen« im Wiener Passagen Verlag. Mit Moshe Zuckermann sprach für das Neue Deutschland (ND) Gerhard Hanloser.



ND: Israel-Kritik wird in Deutschland oft Antisemitismus vorgeworfen. Kaum jemand scheint fähig zu sein, Israel-Kritik, Antizionismus und Antisemitismus auseinanderzuhalten. Ist das so schwer?

Zuckermann: Eigentlich nicht. Israel betreibt seit Jahrzehnten eine Okkupationspolitik, alleine das rechtfertigt eine scharfe linke Israel-Kritik, die nichts mit Antisemitismus zu tun hat. Ich würde folgende Pathos-Formel anbieten: Man muss erst einmal unterscheiden lernen zwischen Judentum, Zionismus und Israel. Nicht alle Juden sind Zionisten, nicht alle Zionisten sind Israelis, und nicht alle Israelis sind Juden. Wenn man das nicht begriffen hat, wirft man alles wahllos durcheinander.

Israel-Kritik, Antizionismus und Antisemitismus sind drei unterschiedliche Sachen. Man muss begreifen, dass Antisemitismus mit Zionismus auskommen kann. Auch die Nazis haben in einer bestimmten historischen Phase, wo die Weichen noch nicht auf Ausrottung gestellt waren, eruiert, ob man die Juden nicht einfach an einen anderen Ort bringen könnte.

Wo stehen Sie selbst?

Ich bin kein Antizionist. Ich sehe mich als Nicht-Zionisten. Antizionisten sind diejenigen, die meinen, der Zionismus hätte nie in die Welt kommen dürfen. Für mich stimmt das so nicht. Spätestens nach Auschwitz wurde der Staat Israel zu einer historischen Notwendigkeit. Heute, mehr denn je, würde ich bezweifeln, dass mit der Gründung des Judenstaates Juden sicherer leben können. Aber nach 1945 war die Gründung eines jüdischen Staates an der Zeit. Für meine Eltern, die Auschwitz-Überlebende waren, gab es keinen anderen Staat. Hätten sie etwa in Deutschland oder Polen bleiben sollen? Das war für sie undenkbar.

Verbirgt sich hinter dem nicht-jüdischen Antizionismus nicht oft ein Antisemitismus?

Wo der Antizionismus der 30er oder der 70er Jahre antisemitisch war – und er war es teilweise – muss er natürlich von links kritisiert werden. Doch die Frage stellt sich mittlerweile anders: Wo geriet die Kritik am Antizionismus qua Antisemitismus-Vorwurf zu einem eigenständigen Fetisch? Anti-Antisemitismus ist dadurch zu einem eigenständigen Ideologem geworden.

Antisemitismus wird besonders gern in der Linken gesucht.

Wenn ich eine Zuspitzung machen darf: Antisemitismus ist ganz und gar nicht das zentrale Problem von Deutschland heute. Antisemitismus gibt es natürlich; er ist aber viel weiter in Frankreich, in den USA oder in England verbreitet. In Deutschland ist er tabuisiert. Fremdenfeindschaft und Rassismus sind üblicher als Antisemitismus. Das hat auch damit zu tun, dass Juden gar nicht mehr präsent sind. Sie haben in der Vergangenheit, während der Weimarer Republik, im Geistes- und Kulturleben eine wichtige Rolle gespielt und waren oftmals auf der Linken angesiedelt. Sie wurden als Juden und Kritiker, oftmals auch als Marxisten angefeindet.

Wie ist die Situation heute?

Wenn man bedenkt, dass Henryk M. Broder den Ludwig-Börne-Preis bekommt, dann schäme ich mich als Jude. Wenn er und andere Juden seines Schlags die Repräsentanten des deutschen Judentums sind, dann möchte ich mit diesem Judentum nichts zu tun haben. »Israel, mein Israel«, schreit Ralf Giordano und gebärdet sich wie ein waschechter »Zionist-aus-der-Ferne« mit rassistisch-islamophobem Einschlag. Soll dieser Zyniker Broder ...

... der im Bundestag zum Thema Antisemitismus in Deutschland sprach und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sein »heiteres Antisemitenraten« verteidigte ...

... soll dieser Mann wirklich in einer Linie mit dem Aufklärer Börne stehen? Das ist lächerlich. Das deutsche Judentum wurde einmal von Heinrich Heine, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Ernst Toller vertreten. Die heutigen selbsternannten Repräsentanten des Judentums in Deutschland stellen das Gegenteil dieser Traditionslinie dar. Denn sie instrumentalisieren den Antisemitismusdiskurs in einer Art und Weise, dass sie mehr als jeder andere den Antisemitismusbegriff entleeren. Das ist politisch sehr gefährlich.

Sie selbst werden von der deutschen Israel-Solidarität angefeindet.

Ich stelle heraus, worum es ihr geht. Es geht denen nicht um Israel, sondern um zutiefst deutsche Befindlichkeiten. Diese Leute, Israel-solidarische »Antideutsche«, werden mir nie verzeihen, dass ich der Sohn von Auschwitz-Überlebenden bin. Sie werden mir auch nicht verzeihen, dass ich Offizier im israelischen Militär war. Sie kommen nicht damit zurecht, dass sie Nachkommen eines Tätervolkes sind; ein Umstand, dem sie mit ihrem »antideutschen« Getue meinen, Rechnung tragen zu können.

Haben nicht-zionistische Stimmen in Israel Gewicht?

In Israel hatten es Nicht-Zionisten und linke Antizionisten immer sehr schwer. Ilan Pappe, Historiker und Kritiker der zionistischen Praxis, wurde so stark zugesetzt, dass er ausgewandert und nach England gegangen ist. Dieser Staat war immer ideologisch so stark imprägniert, dass er Kritiker nicht ertragen konnte. Zwei Gruppen wurden davon ausgenommen: die Araber – diese waren immer systematisch einer Diskriminierung ausgesetzt; und die orthodoxen Juden, weil sie den Zionismus aus einem genuinen Judentum heraus ablehnten.

Mit den Atomambitionen Irans, so erklären rechte jüdische Publizisten, entstehe für Israel eine an Hitler erinnernde Gefahr.

Ein solcher politisch interessierter Alarmismus, der auf einen militärischen Schlag gegen Iran setzt, ist kontraproduktiv und gefährlich. Ich gehe davon aus, dass der Nahe Osten früher oder später nuklearisiert wird. Auch Syrien wird die Atombombe haben. Deshalb wird es auf eine »Ballance of Horror«, ein Gleichgewicht des Schreckens, hinauslaufen.

Es war in der Vergangenheit klar, dass in dem Moment, wo die USA die Atombombe demonstrativ einsetzte, die Sowjetunion nachziehen würde. Nach der Kubakrise gab es keine große Kriegsgefahr mehr, weil vor der Horrorkulisse der möglichen Auslöschung der Menschheit ein großer Krieg vermieden wurde. Das Gleiche wird hier passieren. Alle wissen, dass Israel zweithundertfach über die Atombombe verfügt. Wer nun sagt, Ahmadinedschad habe angekündigt, Israel auszulöschen und man müsse deshalb handeln, müsste erst einmal Rechenschaft ablegen, ob die ganze iranische Gesellschaft bereit ist, in einen solchen Krieg einzutreten. Meinen diese Leute wirklich, das ganze iranische Volk wäre dazu bereit, innerhalb von sechs Stunden in Schutt und Asche gelegt zu werden?

Der Wille, eine Orgie der Zerstörung anzurichten, mag bei Hitler vorgelegen haben, aber auch erst gegen Ende des Krieges und nicht a priori. Selbst die größten Wahnsinnigen haben immer noch einen realpolitischen Instinkt der Selbsterhaltung.

In der israelischen Presse wird zuweilen heftig für einen Militärschlag gegen Iran plädiert.

In diesem öffentlichen Diskurs drückt sich immer noch der Mythos des Entebbe-Befreiungs-Heldentums aus. Deswegen reden alle davon, dass ein militärischer Schlag gegen Iran unabwendbar sei. Ich hoffe sehr, dass er nicht unabwendbar ist, denn mir hat der Krieg von 1991 schon gereicht. Eine Auseinandersetzung mit Iran wäre um das Zehnfache potenziert.

Die einzige realpolitische Möglichkeit ist eine Nuklearisierung, die dann nach und nach zu einer Entmilitarisierung führen muss. Sicherlich gibt es ein Sicherheitsproblem für Israel, das nicht nur von Iran, sondern auch nach wie vor von der Hisbollah ausgeht. Aber wachsam sind die Militärs hier ohnehin. Zudem sei festgestellt: Es ist nun mal die fortgesetzte Okkupation, Landnahme und Besiedlung, die den Terror provoziert. Eine einseitige Existenzbedrohung Israels liegt allerdings nicht vor. Wenn es zu einer solchen kommen sollte, wird auch derjenige untergehen, der die Drohung in die Tat umsetzen will.

Viele hängen sich aber an der Bekundung Ahmadinedschads auf, Israel auslöschen zu wollen.

Richtig, diese schreckliche Figur soll es gesagt haben. Aber es gab Zeiten, in denen Juden noch auf Jiddisch gesagt haben: »Hot er gesogt« – na gut, dann hat er es eben gesagt ... Diese fabelhafte jüdische Gewitztheit, eine Mischung aus geschärftem Realitätssinn und ironischem Augenzwinkern, hat man leider nicht mehr drauf.

* Aus: Neues Deutschland, 25. Oktober 2008


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