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Israels Anspruch widerspricht der Realität

Die palästinensische Knesset-Abgeordnete Haneen Zoabi hält über 30 israelische Gesetze für rassistisch *


Die 43-jährige Haneen Zoabi war die erste Frau, die auf der Liste einer arabisch-israelischen Partei im Jahre 2009 in die Knesset, Israels Parlament, gewählt wurde. Geboren in Nazareth, hat sie in Haifa und Jerusalem Philosophie und Psychologie studiert. Rolf-Henning Hintze befragte sie für »nd« in München.
Die 43-jährige Haneen Zoabi war die erste Frau, die auf der Liste einer arabisch-israelischen Partei im Jahre 2009 in die Knesset, Israels Parlament, gewählt wurde.



nd: Israels Regierung betont oft, ihr Staat sei die einzige Demokratie im Nahen Osten. Warum widersprechen Sie dieser Feststellung?

Zoabi: Man muss die Wirklichkeit sehen: Israel erkennt unsere Identität als Palästinenser nicht an und ebenso nicht, was 1948 geschah. Es gibt Gesetze, die es uns untersagen, in den Schulen unsere eigene Geschichte zu behandeln. Nicht nur in jüdischen Schulen erfahren die Kinder die Geschichte der anderen nicht, sondern auch in arabischen Schulen in Israel ist das untersagt.

Zweitens ist zu bedenken, dass 86 Prozent unseres Landes von Israel konfisziert wurden. Wir leben jetzt auf 3 Prozent unserer Fläche. Obwohl wir 18 Prozent der Bevölkerung Israels stellen und unser Anteil zunimmt, hat Israel nicht eine einzige neue Stadt für uns gebaut. Selbst auf Grundstücken, die uns gehören, können wir oft nicht bauen, weil Israel in vielen Fällen keine Bebauungspläne erstellt. Ziel ist es, das Land zum Nutzen der jüdischen Bevölkerung zu kontrollieren. Israel behandelt seine palästinensischen Bürger wie ein Hindernis bei der Judaisierung des Landes, diesen Ausdruck gebrauchen sie selbst in der politischen Diskussion.

Aber ist das Wahlrecht nicht ein wertvolles demokratisches Recht?

In einer normalen Situation, wo alle Bürger als Teil der Gesellschaft gesehen werden, ist das Wahlrecht grundlegend. In unserer anormalen Situation aber sehen wir das Wahlrecht nicht als wichtiger als das Recht auf unser eigenes Land an. Land zu haben und darauf ein Haus bauen zu können, ist für uns nicht weniger wichtig als das Recht, ins Parlament gewählt zu werden.

Man kann als Minderheit im Parlament auch nicht ändern, dass sich der Staat als ein jüdischer definiert hat und dass grundlegende Gesetze die Juden auf Kosten der Palästinenser privilegieren. Wenn die Mehrheit der Juden keinen Respekt vor der palästinensischen Identität hat, dann ist Demokratie eine Art Diktatur der Mehrheit. Israel verengt den Begriff Demokratie auf das Recht, in die Knesset gewählt zu werden, es gesteht der Minderheit keine Gleichheit zu. Ich verstehe unter Demokratie vor allem die Gleichheit der Bürger.

Sie haben in München von 33 rassistischen Gesetzen gesprochen. Können Sie das mit Beispielen belegen?

Rassistische Gesetze sind solche, die den jüdischen Bürgern Vorrechte einräumen. Beispielsweise das Staatsbürgerschaftsgesetz:Israel garantiert allen Juden, die einen Antrag stellen, die Staatsbürgerschaft, während Palästinensern dies verwehrt wird. Palästinenser, die in Deutschland geboren wurden und leben, weil ihre Eltern vertrieben wurden, können nicht in ihre Heimat zurück, auch wenn sie dort Eigentum oder Familienangehörige haben. Jeder Jude dagegen, der in Deutschland lebt, kann nach Israel und dort leben.

Oder das Gesetz zur Familienzusammenführung: Wenn ich einen Palästinenser aus Libanon oder dem Westjordanland heiraten wollte, dessen Eltern dort geboren sind, müsste ich Israel sofort verlassen. Ich darf keinen Palästinenser von dort heiraten und weiter in Nazareth oder Haifa leben. Das trägt dazu bei, die Zahl der Palästinenser in Israel zu verringern.

Wie sieht es mit der Landverteilung aus?

Die Behörden können Land von Palästinensern beschlagnahmen und es ausschließlich zum Nutzen jüdischer Bürger verwenden. Wenn im Gesetz von öffentlichem Interesse die Rede ist, heißt das in der Praxis: in jüdischem Interesse.

Wie stehen Sie zur Zwei-Staaten-Lösung?

Im Programm meiner Partei, der Nationalen Demokratischen Allianz (NDA), setzen wir uns für zwei Staaten ein, die beide souverän sind. Wir stellen uns Israel als ein Land für alle seine Bürger vor, nicht als jüdischen Staat, sondern als Staat mit gleichen Rechten für alle. Die Wirklichkeit hat sich in den vergangenen fünf Jahren aber weit davon entfernt, deshalb bewegen wir uns auf die Ein-Staat-Lösung zu. Es ist falsch, von Israel als einer Demokratie zu sprechen, Israel verfährt nach einem Konzept, das dem einen Teil der Gesellschaft Privilegien zu Lasten des anderen Teils gewährt. Das ist ein Apartheidkonzept.

Stimmen Sie zu, dass Deutschland eine besondere Verpflichtung gegenüber den Juden hat?

Ja, dem stimme ich zu. Kein Mensch kann bestreiten, dass der Holocaust eines der schrecklichsten Verbrechen der jüngeren Geschichte war. Die Botschaft des Holocaust heißt: Du sollst nicht töten und du sollst nicht rassistisch sein. Israel ist einer der Staaten, die sehr, sehr weit von dieser Botschaft entfernt sind, Israel ist ein rassistischer Staat. Die Israelis töten Palästinenser und besetzen ihre Gebiete. Sie könnten aber die Palästinenser nicht unterdrücken und die Siedlungen nicht ausbauen, wenn sie nicht die Unterstützung des Westens und der Europäer hätten. Die israelische Regierung kann ihre Politik fortsetzen, weil sie weiß, dass sie unterstützt wird, auch von Deutschland. Die Europäer könnten ihre Unterstützung für Israel an die Bedingung gleicher Rechte für die Palästinenser knüpfen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juli 2012


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