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"Das wird eine Beerdigung erster Klasse"

Die neue Regierung Israels legt die Axt an die Reste des Wohlfahrtsstaates. Ein Gespräch mit Michael Warschawski *


Michael Warschawski (63) lebt in Jerusalem. Er ist Marxist, Antizionist und Mitbegründer des »Alternative Information Center« (AIC). Wegen Unterstützung der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) wurde er 1989 zu 20 Monaten Gefängnis verurteilt.

Auch wenn der Hardliner Benjamin Netanjahuh Ministerpräsident bleibt – die neue Regierung Israels gilt vielen Beobachtern als »deutlich moderater« als ihre Vorgängerin. Sehen Sie das auch so?

In allen Fragen, die mit der Besetzung Palästinas, dem Siedlungsbau und Kriegsdrohungen zu tun haben, ist sie genau so rechts – in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht ist sie sogar noch radikaler. Netanjahu blieb gar nichts anderes übrig, als nach seinen Stimmenverlusten eine Koalition mit Naftali Bennets ultranationalistischer Partei »Jüdisches Heim« sowie mit Yair Lapids »Zukunftspartei« einzugehen.

Lapid gilt aber doch als »mitte-links« …

Israels Medien und Kommentatoren präsentieren ihn jedenfalls so. Hört man ihm aber nur ein paar Minuten zu, merkt man, daß er dieses Etikett zu Unrecht trägt. Lapid steht politisch und insbesondere sozial rechts. Die von ihm immer wieder propagierte »Lastenteilung« wird als Forderung verstanden, auch die streng religiöse Bevölkerung für die Armee zu rekrutieren – sie ist nämlich seit der Staatsgründung vom Militärdienst befreit. Er und seine wohlhabende Wählerschaft verfolgen damit aber ein anderes Ziel: Die Sozialausgaben für Arme sollen gesenkt werden, was vor allem die streng religiösen trifft, die oft in extremer Armut leben. Dieses Schicksal teilen sie mit der arabischen Minderheit.

Aber wurden Lapid und seine Partei nicht auch von vielen Angehörigen der Mittelschicht gewählt, die finanziell unter Druck geraten sind?

Hunderttausende junge Leute hatten gehofft, er werde für soziale Gerechtigkeit eintreten – sie werden ein böses Erwachen erleben. Mit der vergangenen Wahl bekamen sie eine Beerdigung erster Klasse für die Reste des Wohlfahrtsstaates, den schon die Vorgängerregierung stark ramponiert hatte. Lapid hat den Wunsch großer Teile der Öffentlichkeit nach einer Veränderung geschickt aufgegriffen – unter seiner Politik werden jedoch gerade die unteren Schichten der israelischen Gesellschaft leiden. Das Kabinett von Netanjahu, Lapid und Bennett ist so etwas wie Margret Thatcher und Milton Friedman zugleich, aber multipliziert mit zehn.

Wird es denn Bewegung bei den Friedensverhandlungen mit den Palästinensern geben?

Damit rechne ich nicht. Die laufende Politik wird von der großen, rechtsaußen angesiedelten Regierungsmehrheit bestimmt. Bennett und seine Siedler-Klientel werden den Ton angeben, und Netanjahu selbst stellt die Kolonisierungsstrategie in keiner Weise in Frage.

Könnten die USA Druck zugunsten ernsthafter Verhandlungen ausüben?

Der Besuch von US-Präsident Barack Obama in dieser Region vor zwei Wochen hat wieder einmal gezeigt, daß die Palästinenserfrage für Washington ohne Bedeutung ist.

Wie lange werden die Betroffenen dem noch ruhig zusehen?

Das ist die Frage! Immer mehr Kommentatoren diskutieren mittlerweile die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit einer »Dritten Intifada«. Es gibt Anzeichen dafür, daß die Geduld der Palästinenser schwindet, obwohl sie darin unbestritten Weltmeister sind. In einem solchen Szenario würden alle Pläne der neuen Regierung hinfällig. Dann müßten auch neue Gelder locker gemacht werden, um die besetzten Gebiete im Griff zu behalten. Bennetts und Lapid gehen zwar davon aus, daß es im palästinensischen Westjordanland ruhig und friedlich bleibt. Das aber können sie nicht beeinflussen, vor allem nicht vor dem Hintergrund der arabischen Revolutionen.

Ihr Fazit?

Israels neue und ultraliberale Regierung täte gut daran, zwischen den diversen Reformprojekten zur »Lastenteilung« ein paar Gedanken daran zu verschwenden, wie sehr die »Erste Intifada« 1987 alle Israelis überrascht hat. Sie hatten einfach vergessen, daß in ihrem Hinterhof mehr als drei Millionen Palästinenser leben, die das israelische Besatzungsregime und seine verheerenden Folgen für alle dort lebenden Menschen nicht länger ertragen wollen.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, Freitag, 5. April 2013


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