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Die Logik des Krieges

Noch widersteht Ministerpräsident Ehud Olmert dem Druck von Strasse und Parlament. Doch eigentlich hat das Land noch grössere Probleme.

Von Zvi Schuldiner, Jerusalem *

Ein politisches Erdbeben in Israel? Stürzt die Regierung? Oder ist etwas Schlimmeres passiert? Die Winograd-Kommission hat ihren Bericht über den Libanonkrieg vom letzten Sommer veröffentlicht, und Israel windet sich in Zuckungen: Die politische Szene wird von Demonstrationen und von Debatten über das Schicksal der Regierung und jenes von Ministerpräsident Ehud Olmert dominiert.

Dabei ist das Problem viel gravierender. Am 12. Juli letzten Jahres, nur Stunden, nachdem die libanesische Hisbollah zwei israelische Soldaten entführt und einige andere getötet hatte, war klar, dass Israels Regierung militärisch reagieren würde. Über achtzig Prozent der Bevölkerung befürworteten den Krieg. Die ersten Kriegstage waren euphorisch: Es erfolgte ein massiver Schlag der Luftwaffe gegen den Libanon. Die Zerstörungen waren riesig, viele ZivilistInnen kamen um - aber aus der Sicht der israelischen Armee und einer Mehrheit in der israelischen öffentlichen Meinung war es eine saubere Operation: Es traf keine Israelis.

Doch dann gab es ein Problem: Die Hisbollah begann, den Norden Israels intensiv zu beschiessen, Hunderte von Raketen bedrohten täglich die Zivilbevölkerung. Dabei stellte sich bald her­aus, dass diese sich mit Schutzräumen und Sozialdiensten begnügen musste, die im Rahmen der neoliberalen Politik der vergangenen Jahre vernachlässigt worden waren. Eine Mehrheit der Israeli konnte sich aber nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass dieser Krieg zum Fehlschlag werden könnte. So wurden nach Kriegsende Mitte August Proteste laut, und die Regierung Olmert sah sich im September gezwungen, eine Untersuchungskommission einzusetzen - benannt nach ihrem Präsidenten, dem ehemaligen Richter Eliahu Winograd.

Der Winograd-Bericht

Der Bericht der Winograd-Kommission ist von grosser Bedeutung. Zwar konzentriert sich die Aufmerksamkeit von Medien und Öffentlichkeit nun dar­auf, welche Einzelpersonen aufgrund des Berichts für das Versagen der Regierung verantwortlich gemacht werden können. Wichtiger sind jedoch die ungestellten Fragen des Berichts.

Zuallererst: Die Kommission stellte sich nie die Frage, ob die Logik des Kriegs die einzig mögliche gewesen war. Sie stellt viele Betrachtungen über einen «rationalen politischen Entscheidungsprozess» und die in dessen Rahmen zu stellenden Fragen und zu folgenden Prozeduren an.

Aber der Bericht verliert keinen einzigen Gedanken an die Frage, ob die Politik der Macht und Gewalt die richtige war. Anstatt Details des Entscheidungsprozesses akribisch aufzulisten, müssten einige zentrale Fragen im Zusammenhang mit der tiefen Krise der israelischen Demokratie gestellt werden. Es wäre für Israel vielleicht an der Zeit, die seit Jahrzehnten dominierende Logik des Krieges hinter sich zu lassen und die Rolle der Armee in einem angeblich demokratischen Staat zu hinterfragen. Doch diesen Fragen weicht die Kommission aus, obwohl einige ihrer Erkenntnisse diesen Kern des Problems knapp streifen.

So zeigt der Winograd-Bericht, wie die Armee die PolitikerInnen manipuliert hat. Jahrelang waren es nur vereinzelte Stimmen, die den massiven Einfluss der Armee auf die israelische Politik analysierten und kritisierten. In der Vergangenheit gab es dafür etliche Beispiele, doch sie wurden nie untersucht. In vielen Fällen - und dies nicht nur in den Jahren unter Ministerpräsident Ariel Scharon - hat die Armee das Ergebnis von politischen Prozessen mit ihren Aktionen bestimmt. Die «einzige Demokratie» im Nahen Osten ist zutiefst von der Armee und von deren Kriegspolitik beherrscht.

Darüber hinaus ist die israelische Armee seit 1967 hauptsächlich eine Besatzungsarmee. Spätestens seit dem sogenannten Jom-Kippur-Krieg von 1973, als Syrien und Ägypten Israel angriffen, hat die israelische Armee vor allem gegen die Zivilbevölkerung und gegen bewaffnete Gruppen, Guerillas oder Terroristen gekämpft, nicht aber gegen reguläre Armeen. Im Libanonkrieg von 1982 geschahen einige Fehler genau dann, als die israelische Armee gegen jene Syriens zu kämpfen hatte. Die militärische Karriere vieler israelischer Offiziere gründete auf ihrer Fähigkeit, Steine werfenden Kindern in besetzten palästinensischen Städten nachzurennen.

Der politische Krieg

In kurzer Zeit ist die Regierung von Ehud Olmert zu einer der unbeliebtesten seit Jahrzehnten geworden. Korruption sowie Untersuchungen gegen den Premierminister selbst und gegen altgediente Minister höhlen das Vertrauen aus, und schliesslich kam noch der Misserfolg im Libanonkrieg hinzu. Dabei erhofften sich Premierminister Olmert wie auch Verteidigungsminister Amir Peretz gerade von einem siegreichen Feldzug so viel - und jetzt befinden sie sich am Rand des politischen Untergangs.

Nun sieht der rechte Flügel der Koalition - der den Krieg vollumfänglich unterstützt hat - seinen Moment gekommen. Ausgerechnet Benjamin Netanjahu, der in den letzten Wahlen vor allem wegen der von ihm als Finanzminister verfolgten Wirtschaftspolitik eine Niederlage einstecken musste und dessen Likud-Partei bedeutungslos geworden ist - dieser zwischenzeitlich äusserst unpopuläre Politiker wird nun wieder als Hoffnungsträger gehandelt.

Dass Netanjahu und der gesamte rechte Flügel wieder ins Rennen kommen, beruht auf der in der israelischen Bevölkerung verbreiteten Angst. Der verlorene Libanonkrieg, die Äusserungen des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad und die Bedrohung durch islamische Fundamentalisten - all dies bedeutet Angst, und Angst führt zu einer wachsenden Unterstützung für ExtremistInnen und RechtsaussendemagogInnen, die eine Lösung durch Gewalt und Stärke versprechen und die Massen mit Lügen beruhigen. So füttern sich muslimische und jüdische FundamentalistInnen gegenseitig.

Während einige Stimmen den Rücktritt von Olmert aus der Regierung fordern, bleibt die Vermeidung von vorgezogenenen Wahlen das Hauptziel. Für die verschiedenen Parteien der Koalitionsregierung bedeuten Wahlen eine Gefahr. Netanjahu kann nur mit dem Gewinn von Parlamentssitzen Erfolg haben, die seine Partei der Koalition abnehmen kann. Die beliebte Aussenministerin Tsipi Livni von Scharons Kadima-Partei wird zwar gerne als mögliche Nachfolgerin Olmerts an der Regierungsspitze gehandelt. Doch sie hat kaum die Führungsqualitäten, die zur Übernahme der gesamten ­Koalition nötig wären.

So heisst denn eine mögliche Lösung für die zusammenbrechende Koalition zur grossen Überraschung und einmal mehr - Shimon Peres. Der nicht wirklich junge, aber wirklich bekannte Staatsmann ist im Alter von 84 Jahren der Hoffnungsträger für den Fall, dass die verschiedenen Gruppen zum Schluss kommen, dass ihre Koalition neu aufgemischt und Olmert seines Amtes enthoben werden müsse. Peres schafft das. Peres vermag all jene zu beruhigen, die sich derzeit um Olmerts Nachfolge bemühen. Denn die hoffen, dass Peres bei ordentlichen Wahlen in zwei Jahren nicht mehr antreten wird.

Zudem wird Peres als Premierminis­ter die Opposition für eine Weile ruhigstellen. Seine Erfahrung wird der Bevölkerung ein bisschen Vertrauen einflössen. Peres kann seine Beruhigungsshow für eine Demokratie in kritischem Zustand abziehen. Eine Demokratie, die über drei Millionen PalästinenserInnen ohne jegliche politische Rechte herrscht. Eine Demokratie, in der das Schüren von Angst das sicherste Erfolgsrezept ist.

* Zvi Schuldiner ist Dekan des Fach­bereiches Politik und Öffentliche ­Verwaltung am Sapir College in Aschkelon (Israel).

Aus: Die Wochenzeitung WOZ, 10. Mai 2007



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