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Paranoider Zustand

Michael Warschawski Buch über Staat und Gesellschaft in Israel heute: "Mit Höllentempo"

Im Folgenden dokumentieren wir eine Rezension über das neue Buch von Michael Warschawski: "Mit Höllentempo" (Thomas Immanuel Steinberg) und im Anschluss ein aktuelles Interview mit dem Autor.

Paranoider Zustand

»Mit Höllentempo« hat Michael Warschawski ein kritisches Buch über Staat und Gesellschaft in Israel heute geschrieben

Die einzige parlamentarische Demokratie des Nahen Ostens, Israel, hat ein Parlament. Das Land hat aber weder Staatsgrenzen festgelegt, noch eine Verfassung verabschiedet. Die Gesetze, auch das Grundgesetz, werden dem je aktuellen Bedarf von Politikern und Militär angepaßt. Niemand hat irgendwelche Rechte, nur weil er Staatsbürger ist. Durch Mehrheitsvotum kann die Immunität der arabischen Parlamentsabgeordneten abgeschafft und das passive Wahlrecht jedem entzogen werden, der nicht bestimmten politischen oder ideologischen Kriterien entspricht. Israel hat ein Parlament, aber es ist keine Demokratie.

»Mit Höllentempo«, so Michael Warschawski in seinem gleichnamigen Buch, fahren Staat und israelische Gesellschaft auf einen Abgrund zu. Krasse Einkommens- und Vermögensunterschiede drohen auch den jüdischen Teil der Bevölkerung zu zerreißen. Korruption und Gewalttaten, ganz abgesehen vom Kampf gegen die nicht-jüdische Bevölkerung, grassieren. Anderswo belanglose Auseinandersetzungen führen Israelis häufig im Brüllton, gespickt mit Beleidigungen. Die Soldaten, fast noch Kinder, tragen Gewalt und Schikanen von der palästinensischen Front zurück in den jüdischen Alltag. Intellektuelle und Bessergestellte verschaffen sich zweite Staatsangehörigkeiten, sitzen auf gepackten Koffern oder verlassen die unwirtliche Heimat.

Warschawski, 1949 in Straßburg geboren, seit dem 16. Lebensjahr in Israel, malt ein Bild des Grauens von seiner Wahlheimat. Er zeichnet die politischen Etappen nach, die das Land durchlaufen hat: von den Kriegsjahren bis 1977, über die Annäherung an erträgliche Verhältnisse bis 1995, bis hin zum heutigen paranoiden Zustand der israelischen Gesellschaft, der auf die Juden in der Welt überzugreifen droht. Er räumt auf mit dem Märchen, die Palästinenser hätten die Verträge von Oslo scheitern lassen und geißelt die Verbrechen der Lenker der Höllenmaschine: Benjamin Netanjahu, Ehud Barak und Ariel Scharon.

Zahllose Politiker der israelischen Linken und ehemals kritische Intellektuelle sind auf den Höllenzug aufgesprungen. Die Reisenden glauben ihr übermächtiges Land von aller Welt bedroht; sie mauern sich selber ein. Warschawski skizziert das Ghetto, das die Israelis sich erschaffen, die Zeichen für eine Identifikation mit den Nazi-Tätern von einst. Er erinnert an das Verhältnis von Kolonisator und Kolonisiertem, wie es der jüdisch-berberische Soziologe Albert Memmi vor 40 Jahren für den Maghreb beschrieben hat: Die Unterdrückung und Entwürdigung des Kolonisierten erniedrigt und zerrüttet auch den Kolonisator.

Michael Warschawski ging als Sohn eines Rabbiners 1965 nach Jerusalem an eine Talmudschule. Seit seinem Philosophiestudium in Israel setzt er sich für die Schwächeren ein, die Araber in Israel und die Palästinenser. Er gründete 1984 das Alternative Information Center (AIC), war lange dessen Direktor und ist weiter im Vorstand. 1987 wurde er wegen »Unterstützung illegaler palästinensischer Organisationen« verhaftet und 1989 zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt; die Strafe wurde 1990 auf acht Monate gemildert. In den letzten Jahren bereiste er zusammen mit einer palästinensischen Delegierten in Frankreich die Vorstädte, in denen der Israel- und Judenhaß grassiert. Beide sprachen mit den armen, überwiegend jugendlichen Immigranten und schilderten, was in Palästina und Israel leben heißt.

Warschawski hat mit der Anwältin Lea Tsemel zusammen zwei Söhne und eine Tochter. Vor einem Jahr in Hamburg beschrieb er die Angst, die alle israelischen Eltern, ob Likud-Anhänger oder Streiter für den Frieden wie ihn und seine Frau, beschleicht, wenn die Kinder morgens das Haus verlassen. Werden sie gesund wiederkommen?

Michael Warschawski: Mit Höllentempo. Die Krise der israelischen Gesellschaft. Edition Nautilus, Hamburg 2004, 128 Seiten, 10,90 Euro

"Viele glauben, daß Islam ein Schimpfwort ist"

Ein Gespräch mit Michael Warschawski*

Interview: Martina Schwarz

F: In Ihrem Buch »Im Höllentempo« stellen Sie den Antisemitismus in Europa eher als Mythos dar.

Antisemitismus in Europa ist eine Realität. Aber im Sinne einer staatlichen Politik, die die Juden von der Staatsbürgerschaft ausschließt und ihnen gleiche Bürgerrechte verweigert, war Europa noch nie so wenig antisemitisch wie heute. Auch auf der Ebene der rassistischen Ideologien war der antijüdische Rassismus in Europa noch nie so gering. Vor 30 Jahren waren mehr als die Hälfte aller Franzosen dagegen, daß ihre Kinder einen Juden oder eine Jüdin heiraten würden. Heute sind es zehn Prozent. Mehr als 60 Prozent lehnten einen jüdischen Staatspräsidenten ab. Heute ist es nur noch eine winzige Minderheit. Aber es gibt nicht mehr diese Tabus wie vor fünfzig Jahren. In diesem Sinn gibt es mehr antisemitische Äußerungen, obwohl – das möchte ich wiederholen – der Antisemitismus im allgemeinen zurückgeht.

F: Gilt das auch für den gegen Muslime gerichteten Rassismus?


Da ist der Trend anders. Z. B. glauben mehr als 60 Prozent der Franzosen, daß Islam ein Schimpfwort ist. Mehr als 70 Prozent würden keinen Araber als Familienmitglied akzeptieren. Anders als der Antisemitismus wird antimuslimischer Rassismus in einigen Ländern durch die herrschende Ideologie unterstützt.

F: Welche Möglichkeiten sehen Sie, sowohl dem Antisemitismus als auch dem antiarabischen, antiislamischen Rassismus entgegenzutreten?


Zunächst muß man unterscheiden zwischen dem alten, europäischen, im Christentum wurzelnden Antisemitismus. Mit einem solchen Rassismus kann man nicht diskutieren, den kann man nur bekämpfen, und zwar mit allen Mitteln. Die antijüdischen Handlungen und Worte arabischer Jugendlicher sind etwas anderes: Ich nenne das Kriegsrassismus. Er ist in keiner Weise mit einer Kultur verbunden, die den Juden zurückweist, weil er Jude ist. Er ist ein falscher Weg, ihren doppelten Krieg zu führen, den Krieg einer Minderheit, der grundlegende Rechte verweigert werden. Er ist verbunden mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt, bei dem sie sich mit den jungen Palästinensern identifizieren und die Juden mit der israelischen Armee gleichsetzen. Das ist ein Rassismus, der bekämpft und ohne Zugeständnis verurteilt werden muß. Aber er ist nicht dasselbe wie der neonazistische Antisemitismus.
Man muß zeigen, daß nicht Juden gegen Araber stehen, daß wir in der Verteidigung der Rechte der Palästinenser zusammenstehen, daß wir gemeinsam Angriffe gegen Synagogen anprangern und uns auch gemeinsam gegen Angriffe auf Moscheen wenden.

F: Für wie real halten Sie die Gefahr des Antisemitismus in arabischen Ländern?


Dort treffen antijüdische theologische Gefühle und der Kriegsrassismus gegen Israel zusammen. Wir sollten das Phänomen nicht hochspielen, aber es besteht und kann zu einer explosiven Gefahr werden. Andererseits gab es im muslimisch-jüdischen Verhältnis jahrhundertelang Toleranz und Zusammenleben, ohne Pogrome, wenn auch ohne Gleichheit. Ich glaube, in der muslimischen Kultur und im Gedächtnis der muslimischen Menschen hat diese Koexistenz mit Juden noch Gewicht, und das kann helfen, diese Gefahr auszugleichen.

F: Und was kann helfen, die Lage in Israel/Palästina zu verbessern?


Selbst Amir Ayalon, der frühere Chef der israelischen Geheimdienste, hat gesagt: »Wir brauchen internationale Intervention, die uns zwingt, unsere Politik zu ändern.« Hört auf damit, unsere Kriegsverbrechen durch Militär- und insbesondere Wirtschaftshilfe anzuheizen. Es gibt ein Abkommen zwischen Israel und Europa, das die Einhaltung der Menschenrechte zur Bedingung hat. Es würde reichen, wenn Joschka Fischer sagen würde: »Wir schicken eine Kommission nach Israel, wir haben einen Bericht über diese und jene Verletzungen. Das stellt die Umsetzung der Handelsvereinbarung mit Israel in Frage.« Am Tag danach würde es ein Treffen der Regierung geben, und alles würde sich ändern.

* Michael Warschawski ist Mitbegründer des Alternative Information Center (AIC) in Jerusalem

Aus: junge Welt, 11. Oktober 2004


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