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"Der Liberalismus hat hier stark an Kraft verloren"

Israelischer Historiker zum Ausgang der Parlamentswahlen

Das Ergebnis der Parlamentswahlen in Israel ist nach Ansicht von Moshe Zimmermann, Historiker an der Universität Jerusalem, Ausdruck der israelischen Gesellschaft unter dem Eindruck des Gaza-Kriegs. Die israelische Linke könne heute nur noch etwa 12 Prozent der Wählerschaft hinter sich bringen. 75 Prozent der Israelis wählten rechts, betonte Zimmermann.



Moshe Zimmermann im Gespräch mit Friedbert Meurer



Friedbert Meurer: Als erster wird sich in den nächsten Tagen Staatspräsident Shimon Peres entscheiden müssen, wer für ihn die Wahl gewonnen hat, oder besser wen er beauftragen wird, eine Regierung zu bilden. Die Wahlen von Dienstag haben jedenfalls einen Rechtsruck in Israel mit sich gebracht: mit einem Plus für den Likud von Netanjahu und vor allem mit Aufwind für Avigdor Lieberman, dem Chef der Partei der russischen Einwanderer. Wahrscheinlich werden diese beiden eine Regierung bilden.

Da haben die israelischen Wählerinnen und Wähler eine ziemlich komplizierte Lage hergestellt. Vielleicht wird aber doch alles einfacher werden, als es im Moment den Anschein hat. - Moshe Zimmermann ist Historiker an der Universität Jerusalem, jetzt mit uns verbunden. Guten Tag, Herr Zimmermann.


Moshe Zimmermann: Hallo! Guten Tag.

Meurer: Wen wird Ihrer Einschätzung nach Staatspräsident Shimon Peres jetzt mit der Regierung in Israel beauftragen?

Zimmermann: Das ist eindeutig, das wird Netanjahu sein. Die Frage, die offensteht, wie schon vorher berichtet, ist, ob er sich quasi automatisch eine rechtsradikale Koalition schafft mit einer Mehrheit von mehr als 50 Prozent, oder dass er zusammen mit Livni und ihrer Partei Kadima eine Koalition schafft. Es ist zu erwarten oder es ist sogar zu hoffen, dass Europa Israel gegenüber genauso eingestellt sein wird wie Israel gegenüber Österreich zur Zeit von Haider. Eine Regierung mit einem Haider - und davon haben wir zwei in Israel - sollte man nicht unterstützen, ...

Meurer: Mit zwei meinen Sie beide, sowohl Lieberman als auch Netanjahu.

Zimmermann: Lieberman als auch die nationale Einheit. Dort ist einer, der Vertreter der Kahane-Gruppe. Die ist noch weiter, noch rassistischer als Lieberman selbst. - Ich erwarte von Europa und sogar auch von Obama, dass sie mit einer solchen Regierung nicht kooperieren, und dann bleibt Netanjahu, der ja doch ein erfahrener Politiker ist, die andere Alternative vorzuziehen, das heißt mit Kadima, mit Livni eine Koalition zu gründen, und da kommen noch zwei andere Parteien hinzu, vor allem die Schas-Partei, eine orthodoxe, religiöse, orientalische Partei - und da hat er schon die stabile Mehrheit ohne Lieberman und ohne die andere rechtsextreme Partei.

Meurer: Um es nicht zu kompliziert zu machen, Herr Zimmermann; der Boykott gegen Österreich hat nicht allzu lange angehalten. Wie soll das funktionieren?

Zimmermann: Hoffentlich wird es diesmal besser funktionieren oder mindestens als Abschreckung. Die israelische Öffentlichkeit weiß in der Regel Bescheid, wie gefährlich es ist, eine solche rechtsradikale Regierung zu haben. Man ist selbstverständlich dafür, Stärke zu zeigen. Deswegen hat man auch so gewählt. Aber dass es in die Sackgasse führt, das wissen auch andere Leute.

Meurer: Wieso haben so viele Israelis diese beiden Parteien Likud und Lieberman, die Partei der russischen Einwanderer, gewählt?

Zimmermann: Man hat die gewählt, weil sie dafür stehen, den Arabern gegenüber, den Palästinensern gegenüber, den Iranern gegenüber Stärke zu zeigen. Das ist eine grundsätzliche Haltung, die man in Israel pflegt, und gerade nach dem Gaza-Krieg wurde das noch mehr betont. Die Legende ist eine Art von Dolchstoß-Legende, das heißt das Militär hätte mehr tun können im Gaza-Krieg, nur die schwachen Politiker haben das Militär gebremst und deswegen sind diejenigen, die in der Opposition waren, die Partei von Lieberman, die Partei von Netanjahu, vorzuziehen, weil die angeblich nicht so gehandelt hätten in einem solchen Fall. Das heißt, man ist hier eindeutig für eine Politik von Gewalt, für die Anwendung von Waffen oder mindestens für die Drohgebärden, die aus dieser Richtung kommen.

Meurer: Wieso erreicht die Arbeitspartei nicht mehr ihre Wähler? Ausgerechnet die Partei, die Israel begründet hat, ist jetzt auf einen historischen Tiefstand gefallen.

Zimmermann: Diese Wähler sind nicht mehr da. Die israelische Linke beträgt heute etwa 12, 13 Prozent der Wählerschaft. Das ist alles. Das hat wie gesagt damit zu tun, dass man vor allem nach einem solchen Krieg in Gaza eher nach dem starken Mann ruft, nach Politik der Stärke, dass die sozialdemokratische Ideologie hier abgewirtschaftet hat, noch mehr als in Europa, weit mehr als in Europa, dass die Toleranz, die Offenheit, der Liberalismus hier stark an Kraft verloren haben. Das alles ist langfristig, das ist ein Produkt der Erziehung, ein Produkt der Sozialisation, und am Ende in einer solchen Stunde, wo es angeblich um eine Krise geht, um eine große Gefahr angeblich aus dem Ausland, Iran oder Palästina, wählen die Leute eher den rechten Flügel. Eher bedeutet, 75 Prozent der Israelis wählten rechts und 50 Prozent wählten radikal rechts.

Meurer: Der israelische Historiker Moshe Zimmermann von der Universität Jerusalem. Schönen Dank und auf Wiederhören.

Zimmermann: Auf Wiederhören.

Aus: Deutschlandradio Kultur, Deutschlandfunk, 12. Februar 2009; http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/918842/


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