"Nicht mit Unrecht identifizieren"
Rolf Verleger über den Nahostkonflikt, die Erklärung Shalom 5767 und Kritik an Israel. Ein Interview
In einer "Berliner Erklärung" fordern deutsche Juden die Bundesregierung auf, "die israelische
Besatzungspolitik nicht länger zu tolerieren". Was hat Sie dazu veranlasst?
Anlass ist die Ungerechtigkeit der israelischen Besatzungspolitik und der tiefe dunkle Schatten, den
sie auf das Judentum wirft. Das Judentum, das über Jahrtausende hinweg das Gebot der
Nächstenliebe hochhielt, das in der chassidischen Tradition durch freudige Erfüllung der Gebote die
Heilung der Welt bewirken wollte, das über Jahrhunderte hinweg unter christlicher Herrschaft und
zuletzt unter Nazi-Terror erfahren hat, was Diskriminierung bedeutet – dieses Judentum kann sich
nicht mit diesem Unrecht identifizieren.
Was finden Sie besonders schwer zu ertragen?
Das fehlende Unrechtsbewusstsein. Man findet es normal, Mauern auf fremdem Gebiet zu errichten,
der palästinensischen Regierung das ihr zustehende Geld vorzuenthalten, Aktivisten umzubringen.
Die »Berliner Erklärung« fordert auch die Beendigung des Boykotts der palästinensischen
Autonomiebehörde und einen lebensfähigen Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967.
Halten Sie die zweite Forderung wirklich für realistisch?
Sie ist durchsetzbar, wenn Deutschland und die EU sich entsprechend positionieren. Und sie ist
wünschenswert für Israel, denn nur ein friedliches Auskommen mit den Palästinensern garantiert
mittelfristig Israels Existenz.
Ihr Aufruf wendet sich ausdrücklich auch an Deutsche nichtjüdischen Glaubens und ruft sie zur
Unterzeichnung auf. Warum?
Jeder sieht, dass die israelische Politik im Widerspruch zu internationalen Rechtsnormen steht.
Jeder weiß auch, dass der ungelöste Nah-ostkonflikt die wichtigste Quelle des internationalen
Terrors ist. Aber man sagt das alles ungern öffentlich. Dadurch brodelt es unter dem Deckel, die
Diskussion wird nicht rational geführt, und dadurch – begünstigt durch die unkritische Solidarität der
jüdischen Gemeinschaft mit Israels Politik – entsteht ein neuer Hass gegen Juden. Wir möchten den
Leuten sagen: Hört auf, Euch da rauszuhalten. Denn seit Rabins Ermordung ist klar, dass nicht alles
von alleine gut werden wird und sich in Israel selbst eine Mehrheit für eine friedliche Politik
durchsetzt. Deutschland, als mächtigste Nation der EU, muss dafür aktiv werden. Wir sind überzeugt
davon, dass die Mehrheit der Deutschen für Frieden und Verständigung im Nahen Osten ist. Dieser
Wunsch soll laut und vernehmlich werden, dafür haben wir die Initiative ergriffen.
Wir erleben gegenwärtig eine neue Zuspitzung im Nahen Osten. Meinen Sie, dass die israelische
Regierung die jetzige Eskalation mitzuverantworten hat?
Das israelische Militär hat den Flughafen von Gaza zerbombt, es besteht eine Seeblockade,
Fabriken wurden zerschossen, verderbliche Waren für den Export verrotten, das Elektrizitätswerk
wurde zerbombt, die Mehrheit hat keine vernünftige Arbeit mehr, die halbe Regierung wurde
deportiert, Hunderte von Menschen wurden seit Mai umgebracht. Es wirkt wie ein soziologisches
Experiment über die eigene Vergangenheit: Wie reagieren Menschen unter unerträglichen
Umständen in einem großen Ghetto, wenn sie an den eigentlichen Verursacher dieser Umstände
nicht herankommen?
Sie haben einmal gesagt, seit Yitzak Rabin ginge es in Israels Politik ständig bergab, es zähle fast
ausschließlich die militärische Stärke. Gilt das weiterhin?
Ich lasse mich jederzeit gerne eines Besseren belehren. Als der rabiate Haudegen Yitzak Rabin und
Yasser Arafat, der Pate der Flugzeugentführer, den Weg zum Frieden einschlugen, da standen mir
vor Glück die Tränen in den Augen.
Wie bewerten Sie, dass ja auch die EU versucht, die gewählte Hamas-Regierung zu isolieren?
Diese Parteinahme war nicht klug. Die EU hat es in der Hand, ob die Welt zu einem Krieg zwischen
islamisch und christlich geprägter Welt driftet oder ob wir wie kultivierte Menschen unsere
Streitigkeiten durch Gespräche beilegen.
Sie haben sich als Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden während des Libanonkrieges in
einem Brief an das Präsidium gewandt und geschrieben, die israelische Regierung brauche »nicht
mehr Waffen oder mehr Geld oder mehr Public Relations, sondern mehr Kritik«. Welche Wirkungen
hatte dieser Brief?
Die Hauptwirkung war, dass ich durch das unerwartete Medienecho und Hunderte von Zuschriften
merkte, dass ich hiermit die Meinung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung vertrete und dass
diese Meinung deswegen besteht, weil Deutschland aus seiner Vergangenheit gelernt hat.
Sie mussten Ihr Amt als Landesvorsitzender in Schleswig-Holstein aufgeben, dem Direktorium des
Zentralrats gehören Sie jedoch weiter an. Welche Wirkungsmöglichkeiten sehen Sie dort?
Oberflächlich betrachtet kann ich dort nicht viel bewirken, denn mein Verhalten wird als unsolidarisch
angesehen. Jedoch sitzen in diesem ca. 30-köpfigen Direktorium viele nette, verständige Menschen.
So mancher könnte sich inzwischen gedacht haben, dass ich so Unrecht nicht hatte mit meiner Kritik
am Libanonkrieg.
* Aus: Neues Deutschland, 21. Dezember 2006
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