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Die Fesseln einer Traumatisierung

Moshe Zimmermann über Ängste in Israel, begründete und unbegründete


»Wir kommentieren nicht. Wir verfolgen die Ereignisse sehr genau«, hat ein Sprecher des israelischen Außenministeriums verlautbart. »Sie kommentieren sehr wohl«, sagte im ND-Interview MOSHE ZIMMERMANN (Jg. 1943), Professor an der Hebrew University Jerusalem. Mit dem Verfasser u. a. des Buches »Goliaths Falle. Israelis und Palästinenser im Würgegriff« (2004) sprach für das "Neue Deutschland" (ND) KARLEN VESPER.

ND: Wie werden die derzeitigen Auf- und Umbrüche in arabischen Staaten in Israel gewertet?

Zimmermann: Die Sorge ist groß, dass Gegebenheiten, mit denen man als Konstanten hat rechnen können, verschwinden. Man weiß nicht, wohin die Unruhen von Ägypten bis Jordanien führen. Wird es zur Installierung demokratischer oder islamistischer Regime kommen? Werden die neuen Regierungen die Politik von Mubarak oder König Abdullah gegenüber Israel fortsetzen? Sind die Verträge, die Israel mit arabischen Staaten geschlossen hat, gefährdet? Das befürchten die Friedenskräfte. Diejenigen, die an Frieden nicht interessiert sind, nutzen die Lage, um zu wiederholen, was sie schon immer behauptet und moniert haben: Mit den Arabern darf man keine Verträge schließen, sie sind unberechenbar. Sie sind Israel feindlich gesinnt und würden jede Gelegenheit nutzen, einen Vertrag zu brechen.

Al-Dschasira hat kürzlich brisante Geheimdokumente veröffentlicht, die in der arabischen Welt für Aufregung sorgten.

Machmud Abbas war in seinen Gesprächen 2008 mit dem damaligen israelischen Regierungschef Ehud Olmert zu weitgehenden Zugeständnissen bereit, hinsichtlich der Siedlungen, Ost-Jerusalem und des Rückkehrrechts. Das wird nun von einigen Arabern, insbesondere von der Hamas, als Verrat interpretiert. Diese Dokumenten offenbaren jedoch vor allem, dass die palästinensische Führung auf viel mehr zu verzichten gewillt ist im Interesse des Friedens als die israelische Seite. Selbst Olmert, ein relativ gemäßigter Politiker, konnte sich nicht durchringen, auf das Angebot einzugehen. Das heißt, die harte Nuss im Nahost-Konflikt ist eher Israel und nicht die PLO.

Wie sind diese Dokumente in Israel aufgenommen worden?

Für die Rechte sind sie erneuter Beweis, mit Arabern ist nicht Frieden zu schließen.

Wieso?

Weil in dem Moment, wenn die Vereinbarungen bekannt werden, ein Aufstand ausbricht. Deshalb müsse man immer und immer wieder nur auf eine Sache pochen: die Sicherheit Israels. Solange diese nicht garantiert ist, gibt es keinen Frieden in Nahost. Und da es heute keine absolute Sicherheit geben kann, nirgends, ist also Frieden unmöglich.

Das israelische Dilemma ist für Sie die »Angst vor dem Frieden«, wie Sie Ihr im vergangenen Jahr erschienenes Buch titelten. Ist die Angst in Israel wirklich so allmächtig?

Ja. Das ist ein Erfolg der Rechten. Sie haben die Mehrheit der Bevölkerung davon überzeugen können, dass jeder Frieden im Endeffekt, über kurz oder lang, die israelische jüdische Gesellschaft gefährdet. Diese Angst wurde und wird gezielt geschürt.

Und sie bemächtigt sich auch der Jugend, der dritten Generation nach dem Holocaust?

Dort ist sie sogar viel stärker verbreitet als unter den Älteren. Menschen, die den Holocaust am eigenen Leibe erlebt haben, wissen, dass es im Nahen Osten nicht diesen brutalen Antisemitismus wie einst in Europa gibt. Sie wissen auch, was Propaganda ist. Sie können viel mehr differenzieren. Die jüngere Generation ist beeinflusst von den Klischees und Stereotypen, die über das Erziehungswesen und die Medien kolportiert werden. Eine ewige Gefahr wird beschworen. Juden waren, sind und werden immer diskriminiert, gehasst, verfolgt. Es könne wieder zu einem Holocaust kommen. Selbstwehr sei überlebenswichtig. Diese Angst ist sehr schwer zu bekämpfen.

Wie könnte es gelingen?

Nicht von heute auf morgen. Dazu bedarf es einen langen Atem. Das ist eine Frage der Sozialisation und der Erziehung. In der Erziehung sind neue Wege zu beschreiten, es müssen neue Anregungen auch von der Politik kommen. Die meisten Politiker denken jedoch nur in kurzen Fristen ...

Gemäß ihrer Amtsperiode ...

... die bei uns in der Regel nicht länger als zwei Jahre währt. Wie kann man da auf langfristige Lösungen bauen?

Und der Holocaust nimmt im Selbstverständnis Israels nach wie vor die zentrale Stelle ein?

Noch stärker als zuvor. Das mag paradox erscheinen. Heute leben nur noch sehr wenige, die den Holocaust erlitten oder aus der Ferne erlebt haben. Aber die Erinnerung und Traumatisierung ist viel stärker als vor 50 Jahren.

Und das Trauma behindert ein unverkrampftes Verhältnis zu den arabischen Nachbarn? Ein gerade erschienenes Buch von Avraham Burg plädiert dafür, dass Israel »sich endlich vom Holocaust lösen muss«.

Avraham Burg war ein Student von mir. Als er das Buch schrieb, hat er sich mit mir besprochen. Er hat Fingerspitzengefühl für die Mentalität in Israel. Seine Formulierung ist stark, aber hat etwas für sich: Wenn der Holocaust A und O in unserer Argumentation bleibt, verhelfen wir Hitler nachträglich zum Sieg über uns. Selbstverständlich kann und darf die Shoah nicht vergessen werden. Das Problem ist, auf welche Art und für welchen Zweck die Erinnerung wachgehalten wird. Wenn das einzige Ziel darin besteht, die Gesellschaft auf ewig kampfbereit zu halten, stimmt mich dies nachdenklich und traurig. Wenn man jedoch zu erkunden versucht, wie und warum Gesellschaften inhuman und mörderisch werden wie die deutsche und andere europäische in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, ist das nützlich.

Den Holocaust also nicht für die Schürung von Misstrauen gegen jedermann und für die Angst vor Frieden instrumentalisieren?

Das wäre meine Vorstellung von einem gescheiten Umgang mit der Erinnerung. Das werden aber nicht alle akzeptieren.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Februar 2011


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