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In Polizeigewahrsam

Ein israelischer Friedensaktivist beklagt die Normen seines Staates

Von Gideon Spiro, Tel Aviv *

Um 11 Uhr morgens am Montag, dem 6. Juni, klopfte ein Polizist an meiner Tür und übergab mir eine »Einladung«, mich um 11.30 Uhr (!) »bei der Polizei zu einem Verhör zu melden«. Ich wurde gebeten, mich mit dem Ermittler Shara Weiss bei der Polizeiwache in der Dizengoff-Straße im Herzen Tel Avivs zu treffen. Das Einladungsschreiben trug die Unterschrift des Hauptkommissars Osnat Peleg-Shvili. Ich fragte per Telefon eine Frau Peleg-Shvili nach den Gründen der Einladung, aber sie weigerte sich, mir detaillierte Auskunft zu geben.

Um 11.45 Uhr war ich auf der Polizeiwache und suchte den Ermittlungsbeamten Weiss. Er war nicht in seinem Büro. Im Korridor fragte ich einen Herrn in Zivil, ob er Shahar Weiss kenne. »Das bin ich«, antwortete er. »Ich wurde zu einem Verhör mit Ihnen eingeladen«, sagte ich. »Warten Sie, ich werde Sie aufrufen.«

Wenige Minuten später betrat ich den Verhörraum und erfuhr die Gründe der Ermittlung: Eine rechtsextreme Gruppe mit dem Namen »Judical Forum« (Gerichtliches Forum), darunter auch Siedler, hatte zu einer meiner Kolumnen eine Klage wegen »Anstiftung zu Gewalt« eingereicht.

Mit großer Geduld erklärte ich, dass die Kolumne nicht nur nicht zur Gewalt aufrief, sondern diese ablehne. Der Artikel behandelte die Frage: Sind bewaffnete Siedler Teil der Besatzungstruppen oder sind sie unschuldige zivile Passanten? Meine Antwort: Bewaffnete Siedler, auch wenn sie zivil gekleidet sind, gehören zu den Besatzungstruppen. Der Kampf, den das besetzte Volk gegen sie führt, kann nicht gleichgesetzt werden mit Angriffen gegen friedfertige Zivilisten.

Gegen Ende der Kolumne schrieb ich, dass es arrogant wäre, wenn ich mir als Angehöriger einer Besatzungsmacht anmaßen würde, den Palästinensern vorzuschreiben, wie sie ihren Kampf gegen die Besatzung zu führen hätten. Würden sie mich jedoch fragen, dann würde ich ihnen sagen, dass ich den gewaltfreien Kampf, wie er in den Dörfern Bil'in und Ni'lin geführt wird, vorziehe, denn er schont nicht nur Menschenleben, sondern ist auch effektiver.

Nach dem Verhör wurde ich in das Büro der Beamtin Peleg-Shvili gebracht. Sie sagte: »Ich verhafte Sie. Haben Sie etwas zu sagen?« Ich antwortete: »Das ist ein Skandal.« Mir wurde mein Recht zugestanden, einen Rechtsanwalt zu informieren. Dann begann die Prozedur der Verhaftung einer Person, die eines schweren Verbrechens beschuldigt wird. Mir wurden Fragen gestellt, beispielsweise ob ich zu Selbstmord neige. Am Ende wurde ich in eine Zelle gebracht. Der für die Einweisung neuer Gefangener verantwortliche Polizist befahl mir, meine Taschen zu leeren, und steckte den Inhalt in einen Umschlag. In der Zelle waren sieben Palästinenser aus den besetzten Gebieten. Sie waren ertappt worden, als sie nach Arbeit suchten, um für ihre Familien ein paar Lebensmittel kaufen zu können: Es waren »Shabahim«, wie in Israel Menschen genannt werden, die sich illegal im Land aufhalten.

Die Zelle war klein, schlecht belüftet, es roch ziemlich übel, mit ein paar Sitzmöglichkeiten. Einen Journalisten wegen eines Artikels zu verhaften und ihn gleich zu Beginn der Ermittlungen in eine Zelle zu sperren, ist beispiellos in Israel. Vor allem wenn es dabei um einen 76-Jährigen geht. Einen Mann meines Alters unvorbereitet in eine Zelle zu stecken, kann zu Schlaganfall oder Herzinfarkt führen.

Nach einer halben Stunde musste ich zurück in das Büro des Hauptkommissars. Sie hatten vergessen, eine DNA-Probe von mir zu nehmen, schließlich war ich ein gefährlicher Krimineller. Ich wollte mich weigern, aber sie erklärten mir, dass mir das Gesetz kein Recht auf Verweigerung zugesteht, und wenn ich darauf bestünde, würden sie mich mit Gewalt dazu zwingen. Außerdem würde meine Strafe um ein halbes Jahr erhöht werden.

Mit chirurgischen Handschuhen nahm eine Polizistin die Probe. Anschließend wurde ich in die Zelle zurückgeführt, die inzwischen mit noch mehr Palästinensern überfüllt war.

Woran denkt ein Mann, wenn er im Alter von 76 Jahren das erste Mal in eine Gefängniszelle gesperrt wird? Er spürt plötzlich Symptome eines zum Tode Verurteilten, denn er könnte ja tatsächlich jeden Moment sterben. Du siehst dein Leben an dir vorüberziehen wie einen Film.

Ich war noch ganz in Gedanken versunken, als ich hörte, wie die Polizistin dem Gefängniswärter zurief: »Hol den älteren Mann raus!« Die Eisentür wurde geöffnet, ich erhielt meine Habseligkeiten und ging zum Büro des Hauptkommissars. Vor der Tür wartete schon mein Freund und Rechtsanwalt Avissar Lev auf mich. Und auch Rechtsanwalt Michael Sfard hatte Gott und die Welt mobilisiert, damit ich auf Kaution frei käme. Wir gingen auf die Straße, tranken einen Kaffee und versuchten herauszubekommen, was das alles zu bedeuten habe.

Neben persönlicher Schikane – vor Jahren hatten mich Siedler und die israelische Rechte als Staatsfeind beschuldigt und ich wurde mehr als einmal am Telefon bedroht – diente meine Verhaftung wohl einem von meiner Person unabhängigen Ziel. Schließlich muss auch der ahnungsloseste Siedler davon ausgehen, dass ein 76 Jahre alter Mann sich nicht mehr ändern wird oder eingeschüchtert werden kann. Es sollte eine Botschaft sein an junge Menschen: Seid vorsichtig, haltet eure Meinung zurück, und wenn ihr die Toleranzschwelle der Rechten überschreitet, endet ihr in einer Gefängniszelle. Die Normen des gewalttätigen Siedlerstaates werden immer mehr zu Normen des Staates Israel.

Mein einziges Verbrechen ist meine Weigerung, am Festival des Tötens und der Vertreibung von Arabern, am Abfackeln von Moscheen und am Landraub teilzunehmen. Seit Jahren sage ich Palästinensern, wenn sie meine Meinung hören wollten, dass ich ihnen ihr Recht auf Widerstand und Revolte gegen die Besatzung nicht bestreite.

Es ist ein Unterschied, ob man einen bewaffneten Siedler angreift oder einen friedfertigen Zivilisten. Dennoch ist der gewaltlose Kampf vorzuziehen, denn es gibt keinen sauberen bewaffneten Kampf. Der bewaffnete Kampf zieht immer auch die nicht kämpfende Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft. Man sollte sich nicht von Irgun (zionistische Untergrundorganisation, die vor der israelischen Staatsgründung gegen die britische Mandatsmacht in Palästina kämpfte – Anm. d. Red.) inspirieren lassen, die auf Märkten Bomben legte und Zivilisten tötete, sondern von Martin Luther King, der die Zusammenarbeit mit rassistischen Behörden verweigerte. Unter den gegenwärtigen geopolitischen Bedingungen, angesichts einer bis an die Zähne bewaffneten Besatzerarmee mit ihren Siedler-Hilfstruppen hätten die Palästinenser außerdem keine Chance in einem bewaffneten Kampf.

Es gibt keine Alternative zum unbewaffneten Massenkampf. Keine Macht der Welt könnte lange dagegen halten, wenn hunderttausend Palästinenser aus Nablus, hunderttausend aus Ramallah, hunderttausend aus Hebron und hunderttausend aus Bethlehem zu den Siedlungen marschieren, sie unter menschliche Belagerung nehmen und fordern: Verlasst unser Land und gebt uns zurück, was ihr uns gestohlen habt!

Übersetzung aus dem Englischen: Doris Pumphrey

* Gideon Spiro wurde 1935 in Berlin geboren. Er emigrierte 1939 mit seiner Familie nach Palästina. Bis zum Jom-Kippur-Krieg (1973) war er Fallschirmspringer der israelischen Armee. Nach dem israelischen Einmarsch in Libanon 1981 verweigerte er jeden weiteren Kriegsdienst und gründete mit anderen Deserteuren die Organisation »Yesh Gvul« (Es gibt eine Grenze). Spiro ist Mitinitiator des Israelischen Komitees für einen atomwaffenfreien Nahen Osten. Er publiziert Kolumnen auf der Website www.kibush.co.il.

Aus: Neues Deutschland, 24. Juni 2011


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