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"Es ist nicht erlaubt den Holocaust zu instrumentalisieren"

Gideon Spiro, Jerusalem über Ariel Scharon und die israelische Besatzungspolitik

Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag, der am 25. Mai 2002 im "Neuen Deutschland" unter dem Titel "Scharons gefährliche Visitenkarte" erschien. Der Autor, Gideon Spiro (66), wurde in Berlin geboren und emigrierte 1939 nach Palästina. Als Fallschirmjäger der israelischen Armee nahm er an den Kriegen 1956, 1967 und 1973 teil, verließ diese aber 1982 aus Protest gegen den Einmarsch in Libanon und wurde Mitbegründer der Organisation »Yesh Gvul« (Es gibt eine Grenze).


Von Gideon Spiro, Jerusalem

Die demokratische Infrastruktur in Israel befindet sich in einer tiefen Krise. Es breitet sich eine McCarthy-ähnliche Atmosphäre aus. Linksliberale Journalisten werden gefeuert. Künstlern, die sich gegen die Besetzung äußern und die »refusniks« (Soldaten, die einen Einsatz in den besetzten Gebieten verweigern) unterstützen, erhalten Auftrittsverbot. Europäer und Amerikaner, die nach Israel kommen und gegen die Apartheid-Politik und die Verletzung der Menschenrechte in den besetzten Gebieten sprechen und handeln, werden verhaftet und ausgewiesen.

Vor einer Woche wurden zwei Gesetze in der Knesset verabschiedet, die die Redefreiheit beschränken und jeden arabischen Israeli, der einer »Verbindung mit dem bewaffenten Kampf in Israel« verdächtigt wird, vom passiven Wahlrecht ausschließen.

Die Welt bemerkt nicht, dass die demokratischen Normen in Israel zurückgeschraubt werden, aber sie nimmt die Bilder der repressiven und brutalen Aktionen wahr, die die israelische Armee in den besetzten Gebieten verübt. Natürlich lösen sie scharfe Kritik an der israelischen Regierung, insbesondere an Scharon aus.

Ein Weg, auf dem Israel Kritik abwehrt, ist die manipulative und zynische Ansprache des Antisemitismus. Israelische und internationale Menschenrechtsanwälte müssen aufpassen, nicht in diese Falle zu gehen, die jeden zu neutralisieren droht, der die Politik von Scharon nicht teilt. Vor diesem Hintergrund ist das Problem der Israel-Kritik zu diskutieren, das nicht nur in Deutschland zu Auseinandersetzungen führt. Hatte Michel Friedman Recht, als er Jürgen Möllemann, des Antisemitismus bezichtigte, nachdem dieser erklärt hatte, dass Scharon und Friedman zum Anwachsen des Antisemitismus beitragen? Lag Möllemann richtig in seiner Einschätzung? Hatte Claudia Roth Recht, als sie eine Strafanzeige gegen Möllemann mit dem Vorwurf stellte, dass er den Antisemitismus anfachen würde? Lag Jamal Karsli richtig, als er erklärte, dass die israelische Armee Nazi-Methoden gegen die Palästinenser anwenden würde?

Diese Fragen berühren alle, die sich mit dem israelisch-arabischen Konflikt befassen – Akteure, interessierte Beobachter und Menschenrechtsanwälte, auf deren Schultern das Leid dieses Begriffs lastet.

Meine Antworten bestehen aus vier Grundaussagen. Erstens: Israel ist nicht immun gegen Kritik. Zweitens: Kritik an Israel ist nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen. Drittens: Rassismus und Verletzung von Menschenrechten, die es in Israel gibt, können nicht damit entschuldigt werden, dass es Juden sind, die sie begehen. Viertens: Es darf nicht erlaubt sein, den Holocaust zu instrumentalisieren, um Kritik an israelischer Politik zum Schweigen zu bringen.

Scharons Politik ist die Visitenkarte, die Israel derzeit abgibt, und mit Verweis auf diese Visitenkarte können antisemitische Stimmungen in der Tat eine gefährliche Nahrung finden. Wer Scharon unterstützt, muss sich diesen Vorwurf mit zurechnen lassen, statt ihn dumpf zu kontern. Es muss gegen alle Formen von Antisemitismus gekämpft werden, wie gegen alle Formen des Rassismus. Man muss die Verteidiger der israelischen Politik befragen: Unterstützen sie die Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten, die nach internationalen Konventionen und UN-Resolutionen ein Kriegsverbrechen darstellen? Möchten sie solche Leute wie Haider und Le Pen in Deutschland an der Macht sehen? Wenn nicht, warum unterstützen sie die israelische Regierung, zu denen Mitglieder gehören, die Haider und Le Pen ähnlich sind (im Vergleich mit einigen israelischen Regierungsmitgliedern wäre Haider fast gemäßigt rechts zu nennen)? Frau Roth begeht einen Fehler, wenn sie die Staatsanwaltschaft auffordert, sich in einen politischen Konflikt einzumischen. Soweit ich es erkennen kann, stehen Möllemanns Äußerungen nicht in Verbindung mit Antisemitismus. Aber ich weiß, dass in Israel die Einmischung von Polizei und Staatsanwaltschaft in politische Dispute von Rechtsextremen benutzt wird, um Linke und Liberale zum Schweigen zu bringen.

Die Unterdrückung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten durch die israelische Armee ist ein Akt von Staatsterror. Dieser Terror schließt die militärische Belagerung von drei Millionen Menschen ein, die Tausende an den Rand des Verhungerns bringt. Dieser Terror verhindert, dass schwangere Frauen rechtzeitig das Hospital erreichen, führt damit auch zum Tod von Neugeborenen. Er verwehrt es auch Dialyse-Patienten, zu ihrer Behandlung zu kommen und verursacht ihren Tod. Dies alles sind Ergebnisse von Maßnahmen der Scharon-Regierung. Und all dies verbindet sich in einer endlosen Spirale mit dem palästinensischen Terror, der den Tod in unseren Straßen sät. Es ist der religiös-nationale jüdische Fundamentalismus, der so sein palästinensisches Gegenüber nährt. Es ist keine Überraschung, dass gelegentlich jemand die israelische Besatzungsarmee mit der deutschen Armee während des Zweiten Weltkriegs vergleicht. Es muss daran erinnert werden, dass die deutsche Besetzung in Polen nicht dieselbe war, wie die deutsche Besetzung in Norwegen. Militärische Besetzungen haben an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Gesichter. Und während eine seit 35 Jahren andauernde israelische Besetzung von Westjordan und Gaza sicher keine Konzentrationslager kennt, so ist sie doch brutaler als die deutsche Besetzung in Norwegen und Dänemark. Dennoch: Keine Kritik an Unrecht hat Vergleiche nötig, sie verwirren in der Regel den Blick, und erleichtern es anderen, von der Wirklichkeit abzulenken. Zumal wenn man Vergleiche benutzt, die in das Gedächtnis der letzten Generationen als das Barbarischste und Schrecklichste eingebrannt sind. Nur Menschen, die selbst Opfer von Unrecht sind, kann zugestanden sein, dass ihr Maßstab für Kritik und Aufschrei nicht immer die nüchterne Analyse ist.

Eines der wirksamsten Mittel, die Kritik an Israel zum Schweigen zu bringen, wäre das Ende der Besetzung Palästinas. Dabei kann Deutschland eine wichtige Rolle spielen: Statt militärische Güter nach Israel zu verschiffen, wäre es besser, ein paar Menschenrechte zu schicken. Gerade wegen der deutschen Vergangenheit.

Aus: ND, 25. Mai 2002


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