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Ein Austausch, der Gräben aufreißt

Gilad Schalits Freilassung löst nicht nur Freudentränen aus

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem *

Durch seine Entführung in den Gaza-Streifen wurde der Wehrpflichtige Gilad Schalit zu einem Symbol für die Solidarität der Israelis mit ihren Soldaten - und für den Zusammenhalt Palästinas mit seinen Gefangenen. Nun reißt seine Freilassung Gräben auf beiden Seiten auf.

Am Sonntagmorgen kurz nach 10 Uhr steht Schalom Nachum mit starrer Miene hinter einer Absperrung vor dem Büro des Premierministers. Schon vor sehr langer Zeit haben Familie und Freunde Gilad Schalits hier ein Protestzelt aufgebaut. Nun fallen sich dort, abgeschirmt von Polizisten und Soldaten, im Blitzlichtgewitter von Dutzenden Fotografen Noam Schalit und Jehuda Wachsman in die Arme, die Gesichter erleichtert.

»Ich kann Herrn Schalit verstehen«, sagt Nachum, »Was für ein Vater müsste man sein, wenn man nicht alles dafür täte, um das eigene Kind nach Hause zu holen? Aber trotzdem bin ich für mich selbst erschüttert und schockiert.«

Drei Männer, drei Schicksale

Nachum, Wachsman, Schalit sind drei Männer, die auf den ersten Blick nichts vereint: Sie sind jüdische Israelis unterschiedlichen Alters, verschiedener Herkunft, sind säkular, religiös und irgendetwas zwischendrin.

Es ist das Schicksal, das sie teilen: Schalits Sohn Gilad wurde vor fünf Jahren und ein paar Monaten während seines Wehrdienstes in den Gaza-Streifen verschleppt. Gefangen genommen, sagen die Palästinenser. Wachsmans Sohn Nachschon war ebenfalls 19, als er 1994 von der Hamas entführt und dann während eines Befreiungsversuches getötet wurde. Nachums Sohn Ofir war 16, als er 2001 von einer Frau, die er im Internet kennengelernt hatte, nach Ramallah im Westjordanland entführt und dort getötet wurde.

Es ist die für heute geplante erste Stufe des Gefangenenaustausches zwischen Israel und der Hamas, die alle drei vereint: Im Austausch für Gilad Schalit werden voraussichtlich auch die Mörderin von Ofir Nachum und einer der Entführer von Nachschon Wachsman freikommen.

Und es ist ihre Meinung dazu, die sie entzweit: »Mein Sohn wird nie wieder nach Hause kommen, aber Gilad wird es tun«, hat Wachsman vor dem Treffen mit Schalit gesagt. »Wenn es nur um Gilad Schalit ginge, würde ich mich ebenfalls freuen«, sagt Nachum, während Polizisten versuchen, einen Mann zurückzudrängen, der versucht, die Absperrung zu überwinden. Er heißt Meir Scheiveschuurder und hat 2001 fünf Angehörige bei einem Bombenanschlag auf eine Pizzeria in der Jerusalemer Stadtmitte verloren. Auch der Planer dieser Tat wird wahrscheinlich heute freikommen. »Mein Glaube an die Gerechtigkeit ist verloren gegangen; ich fühle mich von der Regierung allein gelassen, und mit diesem Gefühl bin ich nicht allein«, sagt Nachum. »Wissen Sie, wie ich von dem Austausch erfahren habe? Aus der Zeitung.«

Solange Gilad Schalit an unbekanntem Ort im Gaza-Streifen gefangen gehalten wurde, Verhandlungen über einen Austausch gescheitert waren und überhaupt unklar war, ob er noch am Leben ist, war der junge Mann ein Symbol für die Solidarität der Israelis mit ihrer Armee, in der jeder Mann dreieinhalb und jede Frau zweieinhalb Jahre dienen muss: »Die Bemühungen um seine Freilassung, die Solidarität gaben das beruhigende Gefühl, dass das Land alles tun wird, um einen zurückzuholen, falls einem dasselbe passiert«, erläutert Aviad Glickman, der für die Zeitung »Jedioth Ahronoth« über den Mythos Schalit berichtet: »Jetzt ist der Gefangenenaustausch in greifbarer Nähe und die Menschen realisieren plötzlich, dass es kein Schwarz oder Weiß sondern nur Grau gibt - und das ist nicht nur bei uns in Israel so.«

Auch für Palästinenser war er ein Symbol

Denn auch in Palästina war Gilad Schalit für lange Zeit ein Symbol, auf dieser Seite für die Solidarität mit den eigenen Gefangenen in israelischen Gefängnissen; mit ihm als Faustpfand in der Hand erhoffte man sich die Freilassung von Vätern, Müttern, Kindern und von Hoffnungsträgern wie Marwan Barghouti, einem hochrangigen Funktionär der Fatah-Fraktion des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, der wegen fünffachen Mordes eine lebenslange Haftstrafe in einem israelischen Gefängnis absitzt. Als dann die Namen der freizulassenden Gefangenen veröffentlicht worden waren, wurde deutlich: »Die Hamas hat diesen Deal nicht im Namen aller Palästinenser, sondern in ihrem eigenen Namen geschlossen«, erläutert Mustafa Khalili von der Zeitung »Al Kuds«. Denn auf der Liste finden sich nahezu ausschließlich Gefangene, die der Hamas am Herzen liegen: Bombenbauer, Attentatsplaner, militante Aktivisten. Von jenen Gefangenen, auf deren Rückkehr die Unterstützer der Fatah gehofft hatten, stehen nur sehr wenige auf der Liste. »Diese Liste wird der Hamas genau die Leute bringen, die sie braucht, um ihre Strukturen zu festigen und ihre Position zu stärken«, sagt Khalili. »Das ist ein Schritt, der darauf zielt, die Fatah und das Streben Palästinas nach Unabhängigkeit zu schwächen - dabei ist es dann auch völlig egal, ob diese Leute ins Ausland abgeschoben werden.« Er vermutet Absicht: Der Graben zwischen Hamas und Fatah solle vertieft werden, um den Antrag der Autonomiebehörde auf Vollmitgliedschaft bei den Vereinten Nationen zu schwächen.

Feiern in Gaza, Enttäuschung in Ramallah

Schon der Deal selbst scheint diesen Graben etwas tiefer aufgerissen zu haben: Während die Menschen in Gaza nahezu unermüdlich feiern, herrschte am Sonntag im Westjordanland eine gedämpfte Stimmung. »Ganz ehrlich?«, fragt Abdo, ein Taxifahrer in Ramallah. »Ich bin tief enttäuscht: Man hätte als allererstes die Menschen nach Hause holen müssen, die ohne Urteil im Gefängnis sitzen, und die Kinder, die Monate absitzen müssen, weil sie Steine auf Soldaten geworfen haben.« Und ein älterer Herr, der seinen Namen nicht nennen will, fügt hinzu: »Ich habe im Fernsehen gesehen, wie wütend manche Israelis sind. Ich kann das verstehen: Eine Frau, die einem Teenager die Kehle durchschneidet, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist, gehört hingerichtet und nicht als Heldin gefeiert. Ich möchte mit so einer nicht im gleichen Haus wohnen - wer garantiert mir, dass sie das nicht auch mit meinen Enkeln macht, weil sie für die Fatah sind?«

Israels Regierung bestreitet indes, die Vereinbarung geschlossen zu haben, um die Palästinensische Autonomiebehörde zu schwächen. »Diese Vereinbarung wurde geschlossen, weil wir der Ansicht sind, dass sie der Sicherheit des Staates dient«, sagt ein Sprecher von Premierminister Netanjahu. »Es war eine schwierige Entscheidung, und wenn es eine bessere Möglichkeit gegeben hätte, dann hätten wir sie genutzt. Aber es ist eine Entscheidung, die getroffen werden musste.«

Die Hoffnung: Die Hamas werde nun dafür sorgen wird, dass ihre eigenen Kämpfer, aber auch die Aktivisten der vielen kleinen Kampfgruppen im Gaza-Streifen damit aufhören, die israelischen Ortschaften jenseits der Grenze mit Raketen zu beschießen. Ob eine solche Verpflichtung Teil des ausgesprochen komplexen Tauschgeschäfts ist, bleibt allerdings unklar. Sicher scheint nur, dass Israels Regierung sich bereit erklärt hat, die Freigelassenen nicht töten zu lassen, solange sie sich nicht an Gewaltakten gegen Israelis beteiligen.

Doch bei vielen Sicherheitsexperten sind die Zweifel groß, ob der Austausch wirklich der Sicherheit dienen wird. »Ich befürchte, dass die Hamas und viele andere Gruppierungen nun Blut geleckt haben könnten«, sagte Meir Dagan, ehemals Chef des Auslandsgeheimdienstes Mossad, dem Fernsehsender »Arutz 2«. Falls das passiert, werde sich Israel in der nahen Zukunft mit vielen weiteren Gilad Schalits auseinandersetzen müssen.

»Aber was sollte er denn sagen?«

Vor dem Büro des Premierministers ist es halb elf geworden. Noam Schalit macht sich auf den Weg zum Obersten Gerichtshof - jener Institution, an der die Rückkehr seines Sohnes noch scheitern könnte, auch wenn dies allgemein für unwahrscheinlich gehalten wird, weil das Gericht in der Vergangenheit niemals politische Entscheidungen in Frage gestellt hat, sofern sie die Sicherheitspolitik betrafen. Und dennoch: Schalit will als Beteiligter gehört werden, wenn über die vielen Klagen gegen den Austausch verhandelt wird.

Auf dem kurzen Weg vom Zelt zum Wagen schaut er zu Boden, blickt nicht einmal zu den Demonstranten oder zu Nachum oder Scheiveschuurder, der ihn anbrüllt, von ihm Gerechtigkeit für seine Familie fordert. »Das ist nicht respektlos von ihm gemeint«, sagt ein Sprecher der Familie: »Aber was sollte er denn sagen, das die Situation für die Angehörigen der Opfer besser macht? Diesen Deal nicht zu nehmen, würde bedeuten, seinen Sohn zu opfern.«

* Aus: neues deutschland, 18. Oktober 2011


Warten auf Schalit

Israel und Hamas bereiten Gefangenenaustausch vor **

Israel und die Palästinenser haben sich am Montag auf den für heute geplanten Austausch des israelischen Soldaten Gilad Schalit gegen über 1000 palästinensische Gefangene vorbereitet. Der Oberste Gerichtshof in Jerusalem begann mit Beratungen über mehrere Klagen gegen den Häftlingsaustausch.

Fast fünfeinhalb Jahre nach seiner Entführung in den Gaza-Streifen soll der israelische Soldat Gilad Schalit am Dienstag in seine Heimat zurückkehren. Der israelische Rundfunk meldete am Montag, wenn alles nach Plan verlaufe, soll der 25-Jährige bis zum Nachmittag wieder zu Hause sein.

Nach Angaben aus Kreisen der radikalislamischen Hamas ist die Übergabe um 11 Uhr (MESZ) geplant. Sie solle am Rafah-Übergang zwischen Gaza-Streifen und Ägypten erfolgen, vermutlich mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes. Israel lässt im Gegenzug in einem ersten Schritt 477 palästinensische Häftlinge frei.

137 Palästinenser aus dem Gaza-Streifen, 96 aus dem Westjordanland und 14 aus Ost-Jerusalem dürfen nach Hause zurückkehren, einige von ihnen jedoch unter Auflagen. 163 weitere Häftlinge aus dem Westjordanland und Ost-Jerusalem werden ins Exil in den Gaza-Streifen geschickt, 18 von ihnen dürfen dann nach drei Jahren wieder in ihre Heimat. 40 Gefangene werden ins Ausland verbannt, wie ein Hamas-Sprecher sagte. Zu den Aufnahmeländern zählen die Türkei, Syrien und Katar.

Rundfunkberichten zufolge soll ein Teil der Häftlinge am frühen Dienstag vom Keziot-Gefängnis aus in Bussen zum Übergang Kerem Schalom an der Grenze zum Gaza-Streifen gebracht werden, andere, die in das Westjordanland zurückkehren, werden zum Übergang Beitunia gefahren. In den Palästinensergebieten bereiteten sich die Menschen auf ihren feierlichen Empfang vor. Im Gaza-Streifen erklärte die regierende Hamas den Dienstag zum nationalen Feiertag.

Das Oberste Gericht in Jerusalem muss zuvor jedoch noch über vier Klagen gegen den Austausch beraten. Die Terroropfer-Organisation Almagor sowie drei weitere Kläger warnen, die Freilassung von mehr als 1000 palästinensischen Häftlingen gefährde die Sicherheit israelischer Bürger. Noam Schalit, der Vater des entführten Soldaten, wurde am Montag als Antragsgegner vor Gericht erwartet. Die Mutter Aviva Schalit hatte am Sonntag gewarnt, jeder Aufschub des Gefangenenaustauschs könne das Leben ihres Sohnes gefährden. Der Austausch kann erst nach einer positiven Entscheidung des Obersten Gerichts vollzogen werden, das allerdings noch nie zuvor einen Regierungsbeschluss kippte.

Der Häftlingsaustausch wird von einer großen Mehrheit der Israelis befürwortet. Dies geht aus einer Meinungsumfrage hervor, die die israelische Zeitung »Jediot Achronot« am Montag veröffentlichte. 79 Prozent der Befragten sprachen sich den Angaben zufolge für den Tausch von insgesamt 1027 Palästinensern gegen Schalit aus. Nur 14 Prozent der Befragten waren dagegen.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon wertete den geplanten Austausch am Montag bei einem Besuch in Bern als »Schritt in Richtung Frieden«. Die Vereinten Nationen unterstützten diesen Prozess. Die zweite Gruppe von 550 Gefangenen soll in den kommenden beiden Monaten freikommen.

** Aus: neues deutschland, 18. Oktober 2011


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