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Nahöstlicher Menschentausch

Für israelischen Soldaten Schalit Freilassung von 1000 Palästinensern

Von Oliver Eberhardt *

Die erste Phase des zwischen Israel und der Palästinenser-Organisation Hamas vereinbarten Austausches des israelischen Soldaten Gilad Schalit gegen mehr als 1000 Palästinenser soll am Montag beginnen.

Er ist der bekannteste Soldat Israels: Seit mehr als 1900 Tage wird Gilad Schalit im Gaza-Streifen gefangen gehalten. Seine Entführung im Juni 2006 lieferte eine Begründung für den Gaza-Krieg kurz darauf. Sein Konterfei wurde zum Symbol der Solidarität vieler Israelis mit den Soldaten des Landes. Nun wird er auf Vermittlung der ägyptischen Regierung frei kommen, im Austausch gegen mehr als 1000 palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen.

Am Dienstag (11. Okt.) stimmte Israels Kabinett der Vereinbarung mit nur drei Enthaltungen zu. »Es ist der beste Deal, den wir bekommen konnten«, sagte Joram Cohen, Chef des für den Gaza-Streifen zuständigen Inlandsgeheimdienstes Schin Beth. »200 Terroristen mehr dort tun uns nicht weh.«

Das Abkommen sieht zwei Phasen vor: In einem ersten Schritt wird Schalit voraussichtlich in einer Woche gegen 479 Gefangene ausgetauscht werden. 279 davon verbüßen lebenslange Haftstrafen für Gewaltakte gegen Israelis. In der zweiten Phase, die für Mitte Dezember vorgesehen ist, werden 550 weitere, von Israel ausgewählte Gefangene frei gelassen. Die Details der Übereinkunft sind ausgesprochen komplex: Viele der Gefangenen aus dem Westjordanland sollen für eine Dauer von 10 bis 25 Jahren nicht in ihre Heimat zurückkehren dürfen. Ein Teil davon wird ins Ausland, ein anderer Teil nach Gaza ausgewiesen.

Die Verhandlungen hatten bereits kurz nach dem Gaza-Krieg 2006 unter Vermittlung des deutschen Bundesnachrichtendienstes begonnen, waren aber immer wieder ins Stocken geraten, weil sich beide Seiten weder auf eine Gefangenenliste noch auf Sicherheitsgarantien einigen konnten.

Dass der Austausch nun zustande kommt, liege vor allem daran, dass beide Seiten sich flexibler gezeigt hätten, sagt ein Sprecher der ägyptischen Regierung. Beobachter führen dies auf eine veränderte politische Lage zurück: »Ministerpräsident Benjamin Netanjahus Regierung droht jederzeit der Zusammenbruch; die Hamas ist durch ihre Ablehnung des palästinensischen UNO-Antrags bei den eigenen Leuten isoliert«, kommentierte Israels Militärradio am Mittwoch. »Beide brauchen einen vorzeigbaren Erfolg.«

* Aus: neues deutschland, 13. Oktober 2011


Etappensieg für Hamas

Von Karin Leukefeld ** Insgesamt 1027 palästinensische Gefangene sollen bis Ende des Jahres entlassen werden, im Gegenzug kommt der israelische Soldat Gilad Schalit frei. Das kündigten übereinstimmend der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Khaled Mashaal, der Führer der Hamas, am Dienstag (11. Okt.) in Damaskus an. Mashaal sagte, daß innerhalb einer Woche 450 Gefangene freigelassen werden, darunter alle palästinensischen Frauen, die derzeit in israelischen Gefängnissen inhaftiert sind. 110 dieser Gefangenen werden in die Westbank entlassen, 131 dürfen in den Gazastreifen zurückkehren, sechs sind Palästinenser aus Israel. Die anderen 203 Freigelassenen werden deportiert, wohin ist unbekannt. In einer zweiten Phase bis Ende des Jahres sollen weitere 550 Gefangene freikommen, sagte Mashaal.

Hochrangige Hamas-Gefangene werden ebenso wenig unter den Entlassenen sein wie der populäre Fatahpolitiker Marwan Barghouti oder der Vorsitzende der Volksfront zur Befreiung Palästinas, Ahmed Saadat.

Nach langer Debatte hatte am Dienstag abend (11. Okt.) auch die Regierung von Benjamin Netanjahu der Vereinbarung mehrheitlich zugestimmt, drei Minister, darunter Außenminister Avigdor Lieberman, stimmten dagegen. Netanjahu begründete die Entscheidung mit den Unruhen in der arabischen Welt. Die Veränderungen in Ägypten machten es unmöglich vorauszusehen, ob man jemals eine bessere oder überhaupt noch eine Vereinbarung für den Gefangenenaustausch bekommen hätte.

Der israelische Premier bedankte sich beim ägyptischen Geheimdienst und dem Militärrat für die Vermittlung, die am Dienstag in Kairo zur Einigung geführt hatte. Auch Katar, der Türkei, Syrien und Deutschland sprach Netanjahu seinen Dank für ihre aktive Rolle bei den Gesprächen aus.

Über die Freilassung von Gilad Schalit war in den letzten Jahren mehrfach verhandelt worden, wobei neben den anderen Akteuren auch der deutsche Auslandsgeheimdienst BND als Vermittler fungierte. Mitte 2008 war ein Gefangenenaustausch am Einwand der Palästinenserbehörde von Mahmud Abbas gescheitert. Die Anfang 2011 bekannt gewordenen geheimen Mitschriften und Protokolle von israelisch-palästinensischen Verhandlungen belegten, daß Abbas damals verhindern wollte, daß die Hamas, in deren Einflußbereich Schalit festgehalten wird, mit einem Verhandlungserfolg in der palästinensischen Gesellschaft gestärkt würde.

Erleichtert zeigten sich Eltern und Bruder von Gilad Schalit, die noch am Dienstag abend ihr Protestzelt vor dem Amtssitz von Netanjahu abbauten. Schalit war vor fünf Jahren von palästinensischen Milizen während einer Militäroperation im israelisch-palästinensischen Grenzgebiet zum Gazastreifen gefangengenommen worden.

Der Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke Wolfgang Gehrcke sagte, die Vereinbarung »über den Gefangenenaustausch beweise eines: Verhandeln lohnt sich«. Nun sollten auch wieder ernsthafte Verhandlungen über den Frieden im Nahen Osten aufgenommen werden.

Auch nach den Entlassungen werden weiterhin Tausende Palästinenser in israelischen Gefängnissen eingesperrt sein. Ihre genaue Anzahl ist nicht bekannt. Unterschiedlichen Angaben zufolge solle es bis zu 8500 sein. Darunter befinden sich 21 Abgeordnete der Hamas, mehr als 300 sind Kinder. Hunderte sitzen seit mehr als 20 Jahren in israelischer Haft.

** Aus: junge Welt, 13. Oktober 2011


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