Die Politik, die zu Terrorismus führt
Israel als Lehrbeispiel
Von Gerhard Schoenberner*
Den folgenden Aufsatz aus der Zeitschrift E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit (Heft 1/2002) dokumentieren wir ohne den Vorspann.
...
Die USA, die gegen einen unsichtbaren Gegner Krieg führen, stehen vor dem
Problem, dass eine militärische Intervention - je länger sie andauert -
unerwünschte Solidarisierungseffekte produzieren, neue Konfliktherde
schaffen und womöglich Teile der arabischen Welt politisch destabilisieren
kann. Angesichts dieser Situation ist Washington sichtbar an einer
Eindämmung und Beilegung bereits bestehender Konflikte interessiert. Dabei
nimmt das Palästinaproblem einen zentralen Platz ein.
Israel, die Schutzmacht USA und Deutschland
Zum ersten Mal scheint die amerikanische Führungsmacht, die Israel seit
Jahrzehnten in jeder Lage politisch, finanziell und militärisch fast
uneingeschränkt unterstützt hat und daher eine erhebliche Verantwortung für
die gegenwärtige Situation trägt, zu einer Revision ihrer Position bereit.
Mehr als einmal wurde bereits massiver Druck auf die Regierung Sharon
ausgeübt, um sie von bestimmten Maßnahmen abzuhalten oder deren Rücknahme zu
erzwingen, um eine weitere Eskalation des Konflikts zu verhindern.
Eine dauerhafte Eindämmung von Gewalt und Gegengewalt kann aber nur
gelingen, wenn sie mit einer Regelung der materiellen Fragen einhergeht, die
den eigentlichen Konfliktstoff bilden, oder eine solche zumindest
vorbereitet. Die politischen, strategischen und ökonomischen Interessen der
USA in der Nahost-Region, die sich im Zuge einer grundlegend neuen
weltpolitischen Entwicklung während des letzten Jahrzehnts ebenfalls
verändert haben, legen eine Neuorientierung ihrer Politik in dieser Region
nahe. Die Abhängigkeit Israels von den USA (durch eine Finanzhilfe von 4
Mrd. US$ pro Jahr) lässt auch deren Durchsetzung möglich erscheinen, wenn
ein ernsthafter Wille dazu vorhanden ist.
Dem Staat Israel ist es über lange Zeit gelungen, die allgemeine Empathie
für die europäische Judenheit, von der nur ein Drittel dem Nazi-Genozid
entkommen ist, auf sich zu lenken und die Rolle dessen, der nur Opfer ist
und das Recht auf Beistand hat, für sich zu beanspruchen. So war die Welt
bereit, das Bild von Entstehung und Aufbau des jüdischen Staates für wahr zu
halten, das dieser selbst verbreitete, und alle Erscheinungen, die dazu im
Widerspruch standen, zu übersehen oder als Einzelfälle abzutun.
Es bedurfte der Erfahrung von mehr als drei Jahrzehnten Besatzungspolitik
und schließlich des gewaltsamen Protestes der ihr unterworfenen
palästinensischen Bevölkerung, um zu erkennen, dass die Israelis auch Täter
sind. Inzwischen arbeitet eine neue Generation israelischer Historiker
daran, auch die offiziellen Darstellungen der Kriege 1948, 1956 und 1967,
die nationale Mythen begründet haben, durch die historischen Tatsachen zu
korrigieren.
Die Bundesrepublik spielte bei der bedingungslosen Unterstützung Israels auf
allen Gebieten nach den USA die zweitgrößte Rolle, aus der sich auch eine
besondere Verantwortung ableitet. Unter deutschen Politikern ist es üblich,
sich bei jeder Gelegenheit zum Existenzrecht Israels und seinem Anspruch auf
sichere und anerkannte Grenzen zu bekennen. Man überlässt es jedoch der
dortigen Regierung, diese Leerformel mit den von ihr gewünschten Inhalten zu
füllen und zu bestimmen, welche Maßnahmen zur Sicherung des Existenzrechts
sie für nötig hält und wo die Grenzen verlaufen sollen. Um
Fehlinterpretationen auszuschließen, sollte man in solchen Erklärungen dem
künftigen Staat Palästina ausdrücklich die gleichen Rechte zubilligen.
Die Anfänge des Staates Israel
Der UN-Teilungsplan von 1947, der zweifellos das Selbstbestimmungsrecht der
arabischen Einwohner Palästinas missachtete, setzte eine menschliche
Tragödie in Gang: eine Welle arabischer Flüchtlinge und Vertriebener war die
Folge. Vorgesehen war eine Aufteilung des britischen Mandatsgebiets im
Verhältnis 55 : 45 zwischen Juden und Arabern. Im Krieg 1948 arrondierte
Israel sein Territorium auf 80 Prozent. Im Sechs-Tage-Krieg 1967, der eine
weitere Fluchtwelle auslöste, eroberte Israel auch die noch verbliebenen 20
Prozent.
Nach diesem Sieg glaubte man an eine Zukunft der im wahrsten Sinne
unbegrenzten Möglichkeiten, hielt die Entwicklung für offen und jedes Ziel,
besonders ein Groß-Israel unter Einbeziehung des Golan, der Westbank und des
Gaza-Streifens, für erreichbar. Die seither von allen israelischen
Regierungen betriebene Siedlungspolitik war ein Ausdruck dieses Denkens. Das
einzige Problem schien die noch ansässige palästinensische Bevölkerung. Sie
zu vertreiben, wie es die nationalistische Rechte forderte, war unmöglich.
Sie zu Bürgern Israels zu machen, war ebenso undenkbar, weil es die
zionistische Idee eines jüdischen Staates gefährdet hätte, der in absehbarer
Zeit mit einer arabischen Bevölkerungsmehrheit innerhalb seiner Grenzen
hätte rechnen müssen. Der Allon-Plan von 1967, so genannt nach dem damaligen
Außenminister, versuchte eine dritte Lösung jenseits der beiden
undurchführbaren Alternativen. Er antizipierte bereits eine begrenzte
Autonomie der Palästinenser als auf Dauer unvermeidlich, sah aber
Siedlungen, besonders entlang der Grenze zu Jordanien, als cordon sanitaire
vor.
Die israelische Siedlungspolitik
Wurde die Siedlungspolitik von der regierenden Arbeitspartei zunächst noch
strategisch begründet, so argumentierte der sie ablösende Likud von Menachem
Begin ab 1977 bereits offen politisch und forcierte sie entsprechend.
Siedlungen wurden nicht nur am westlichen Ufer des Jordan errichtet, sondern
auf der ganzen Westbank. Ihre Funktion bestand nicht im Schutz des
israelischen Kernlands, sondern darin, die beabsichtigte Annektion des
besetzten Territoriums durch Schaffung vollendeter Tatsachen vorwegzunehmen
und irreversibel zu machen. Auch nach dem Oslo-Abkommen und unter Bruch der
darin niedergelegten Prinzipien wurde der Ausbau der Siedlungen planmäßig
fortgesetzt. Die Zahl der Siedler ist seither von 140 000 auf 200 000
gewachsen.
Auch Ehud Barak hat nie etwas anderes vorgesehen als die Räumung einer Reihe
geografisch isolierter Siedlungen und eines weiteren Dutzend im
Gazastreifen, dessen Abgabe an die Autonomiebehörde am ehesten vorstellbar
ist, weil sie weniger ein Verlust als eine Entlastung wäre. Seine erklärte
Bereitschaft, 90 Prozent der besetzten Gebiete, die im offiziellen
Sprachgebrauch stets die "befreiten" heißen, unter gewissen Konditionen
aufzugeben, war nicht nur deshalb fiktiv, weil er wusste, dass er dafür nie
eine parlamentarische Mehrheit finden würde. Auch die Zahl ist falsch,da
Ost-Jerusalem und seine Vorstädte, die 1980 von Israel offiziell annektiert
wurden, in dieser Rechnung gar nicht mehr vorkommen.
Festzuhalten bleibt, dass 80 Prozent der Siedlungen erhalten bleiben sollen.
Es handelt sich um vier tiefe, das Territorium aufspaltende Keile, die
ebenfalls annektiert und dem israelischen Staatsgebiet zugeschlagen werden
sollen. Ein israelisches Groß-Jerusalem mit seinem Ring von
Satellitenstädten, in denen weitere 185 000 israelische Siedler wohnen,
würde die Westbank darüber hinaus noch einmal in zwei Teile spalten. Das
Land ist heute in 64 isolierte palästinensische Enklaven zerstückelt, die
ihrerseits von Militärposten, Siedlungen und deren eigenem Straßennetz
eingeschlossen sind. Es ist in drei verschiedene Zonen aufgeteilt, zwischen
denen ein ungehinderter Personenverkehr nicht mehr möglich ist. Man
unterscheidet zwischen besetzten, gemischt verwalteten und autonomen
Gebieten, aber die Besatzungsmacht dringt überall ein, wo und wann es ihr
nötig scheint. Der arabische Volksmund nennt das "Bantustanisierung".
Nicht genug damit, dass also ein geografisch zusammenhängendes Staatsgebiet
nicht vorgesehen war, fehlten ihm auch alle Attribute eines souveränen
Staates, denn die Wasser- und Bodenrechte, die Außengrenzen und die
Außenpolitik sollten nach diesen Plänen auch künftig unter israelischer
Kontrolle bleiben. Unter diesen Umständen war die Bezeichnung "Staat
Palästina" ein Etikettenschwindel, tatsächlich handelte es sich um ein
Protektorat. Selbst wenn Arafat bereit gewesen wäre, dazu seine Unterschrift
zu geben, hätte er doch niemals die Zustimmung seines Volkes gewinnen
können.
Sharon spricht inzwischen nur noch von 40 Prozent des Territoriums und
erklärt, dass nicht nur ganz Jerusalem, sondern auch die Siedlungen am
Jordanufer "auf ewig" israelisch bleiben sollen. Seine Regierung hält die
Siedlungspolitik - (ebenso wie die "präventive Hinrichtung" von
palästinensischen Politikern) - für völkerrechtlich gedeckt und hält
Konzessionen nach eigenem Ermessen für ausreichend. Seine Partei
argumentiert politisch mit der zweischneidigen These, Hebron und Tel Aviv
gleichzusetzen - israelisches Kernland also und besetzte Gebiete. In beiden
Fällen, sagt man, siedelten Juden auf ehemals arabischem Boden. Wer ihr
Recht hier in Frage stelle, könne es auch dort nicht verteidigen. Jeder
Rückzug von der Westbank und aus Gaza honoriere nur den palästinensischen
Terror und ermutige dazu, ihn bis zur Zerstörung des Staates Israel
fortzusetzen.
Die israelische Rechte, die bereits in der Anerkennung Arafats als
Verhandlungspartner einen hochverräterischen Akt sieht, hat in der
innerpolitischen Auseinandersetzung den Kampfbegriff "Oslo-Verbrecher"
geprägt, der nicht von ungefähr an sein deutsches Vorbild
("November-Verbrecher") erinnert. Aber die Zahl derer, die Oslo für einen
politischen Fehler und die von Israel gemachten Konzessionen für viel zu
weitgehend halten, ist heute weit größer.
Auch auf palästinensischer Seite hat das Abkommen längst keine Anhänger
mehr. Man sieht in ihm heute ein Täuschungsmanöver, das falsche Hoffnungen
erweckt hat, weil die Regierung Barak die Implementierung der Vereinbarungen
über sieben Jahre verzögert und ihnen immer wieder zuwidergehandelt hat. Man
hat im Nachhinein auch erkannt, dass "Oslo" die strukturelle Asymmetrie im
Verhältnis der beiden Seiten perpetuiert und festgeschrieben hat.
Tatsächlich machten der Mangel an diplomatischer Erfahrung und Kenntnis des
Völkerrechts bei den Palästinensern es den Israelis leicht, die Gegenseite
zu überspielen. Das Abkommen brachte zwar die gegenseitige Anerkennung
zwischen dem Staat Israel und der PLO, ließ aber alle für eine Lösung des
Konflikts zentralen Fragen (die Siedlungen, den Status von Jerusalem, das
Rückkehrrecht der Flüchtlinge, die Grenzen eines künftigen Staates Palästina
und den Grad der ihm zugestandenen Souveränität) völlig offen bzw. verschob
sie auf einen späteren Zeitpunkt. Das Erstaunen und die Verärgerung des
israelischen Publikums über die "undankbaren Palästinenser", die ein
vermeintlich großzügiges Friedensangebot ausschlagen und mit einer zweiten
Intifada beantworten, zeigt nur, wie schlecht man in Israel über die
Lebensbedingungen in den besetzten Gebieten und die Pläne für deren
künftigen Status unterrichtet ist.
Die zweite Intifada - das Ergebnis von Unterdrückung und Frustration
Man muss schon ein unerschütterlicher Anhänger der Verschwörungstheorie
sein, um ernstlich zu glauben, man könne einen Volksaufstand nach Belieben
entfachen oder beenden. Kann man die Ursachen außer Acht lassen, die zu der
gegenwärtigen Situation geführt haben? Welches Maß an Frustration und Zorn
musste sich ansammeln, um das Phänomen der zweiten Intifada möglich zu
machen? Der Nährboden für den anhaltenden allgemeinen Protest ist die
herrschende Unterdrückung und der Unwille, sie noch länger zu ertragen.
Menschen, die eine reale Perspektive für sich und ihre Kinder sehen, setzen
nicht mutwillig Haus, Gesundheit und Leben aufs Spiel, nur weil Agitatoren
sie dazu auffordern. Der israelische Geheimdienst ist bekanntlich sehr rasch
zu dem Schluss gelangt, dass Arafat die Kontrolle entglitten ist. Wenn die
vorige wie die jetzige israelische Regierung öffentlich das Gegenteil
behaupten, um ihre politischen und militärischen Gegenmaßnahmen zu
begründen, spricht das seine eigene Sprache.
Das tragische Paradox besteht darin, dass die neue Intifada der
Weltöffentlichkeit zwar die Unhaltbarkeit der Situation in Palästina erneut
bewusst gemacht, gleichzeitig aber mit einer weiteren dramatischen
Verschlechterung der politischen und sozialen Lebensverhältnisse bezahlt
hat. War schon der Besatzungsalltag, der von 2000 Militärverordnungen
reglementiert wird, nur schwer erträglich, so hat sich die Situation seit
dem Einsatz von schwerem Kriegsgerät durch die Armee in jeder Hinsicht noch
weiter verschärft.
Die besetzten Gebiete haben seit Jahren eine konstante Arbeitslosenrate von
40 Prozent, die Masse der Jugendlichen bleibt ohne Ausbildung und
Berufsperspektiven. Nur etwa 30 000 Personen über 35 Jahre, die beim
täglichen Grenzübertritt zeitraubende und erniedrigende Prozeduren erdulden
mussten, durften eine Arbeit als Tagelöhner in Israel ausüben, von deren
Erlös oft eine Großfamilie leben musste. Die landwirtschaftliche und
bescheidene industrielle Produktion, die nur nach Israel ausgeführt werden
durfte und von dort mit dem Label "Product of Israel" weiter exportiert
wurde, war eine weitere Einnahmequelle.
Das Pro-Kopf-Einkommen (BIP) in den besetzten Gebieten betrug nie mehr als
ein knappes Viertel des israelischen, wobei zwischen Westbank und
Gazastreifen noch einmal ein Gefälle von 50 Prozent bestand. Die monatelange
Abriegelung, die Aussperrung der Arbeitskräfte und die Verweigerung der
Warenabnahme haben auch diese unzureichenden Erwerbsmöglichkeiten blockiert,
den Lebenstandard drastisch gesenkt und die Zahl derer, die am Rande des
Existenzminimums leben, verdoppelt. Für viele Palästinenser geht es
buchstäblich nur noch um das nackte Überleben, über 30 Prozent empfangen
schon heute Sozialhilfe.
Hinzu kommen die umfangreichen Zerstörungen von Oliven- und
Orangenplantagen, von Wohnhäusern und Industrieanlagen durch die israelische
Armee. Insgesamt wird geschätzt, dass Schäden in zweistelliger
Milliardenhöhe entstanden sind. Das verringerte Steueraufkommen und seine
Blockierung durch die israelischen Behörden bringen auch die
palästinensische Autonomiebehörde in wachsende fiskalische Schwierigkeiten.
Auch nach Aufhebung aller Restriktionen wird es laut einem UN-Bericht selbst
mit erheblicher internationaler Finanzhilfe mehrere Jahre dauern, bis die
Wirtschaft Palästinas sich von den ihr zugefügten Schlägen erholt hat.
Verzichte auf beiden Seiten?
Die Redeweise, beide Seiten müssten zu schmerzhaften Verzichten bereit sein,
um einen Kompromiss zu erreichen, verdeckt die Tatsache, dass die eine ihren
eigenen Grund und Boden zurückfordert, der ihr nach 1967 genommen wurde,
während die andere wenigstens einen Teil ihrer Eroberungen behalten möchte;
dass die eine Seite ein Ende des dreißigjährigen Besatzungsregimes verlangt,
während die andere es nur partiell aufzugeben bereit ist.
Wenn die Palästinenser betonen, dass sie sich mit 20 Prozent des
historischen Palästinas zufrieden geben, sollte man verstehen, dass sie
damit nur weitere Abstriche ablehnen und nicht etwa indirekt erneut die
Existenz des Staates Israel in Frage stellen wollen. Sie wissen, dass eine
Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen in die alte Heimat nicht mehr
durchsetzbar ist. Dem Status ihrer Landsleute, die dort als Bürger dritter
Klasse leben, fehlt im Übrigen auch jede Attraktivität. An ihnen hat der
israelische Staat zuerst die Herrschaftstechniken der Repression und
Benachteiligung erprobt, die er noch weit rücksichtsloser in den besetzten
Gebieten anwendet. Das Bestehen der Palästinenser auf dem von der UNO
sanktionierten Rückkehrrecht, das soviel Furore machte, darf in seinen
praktischen Konsequenzen nicht überschätzt werden. Es ist weder ein Anlass
für Horrorszenarien noch ein Beweis mangelnder Verständigungsbereitschaft,
sondern nur die Inanspruchnahme eines Rechtstitels, mit dem man der
Forderung nach unbürokratischer Familienzusammenführung und Entschädigung
Nachdruck verleihen kann. Eine Masseneinwanderung im Ausland lebender
Palästinenser auf die Westbank und in den Gazastreifen, für die alle
Voraussetzungen fehlen, ist gleichfalls nicht zu erwarten. Man kann sich des
Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Thema absichtlich hochgespielt wurde,
um von den zentralen Fragen abzulenken und die Öffentlichkeit von der
Aussichtslosigkeit einer Verhandlungslösung zu überzeugen.
Natürlich profitieren die Scharfmacher beider Seiten von der gegenwärtigen
Situation, nicht nur die Falken in der militärischen Führung, die sich
anscheinend durchgesetzt haben, der rabiate Flügel der Siedler und die
extreme Rechte in der Knesseth. Es profitieren auch die fundamentalistischen
Gegner Arafats und jedes Friedensabkommens auf palästinensischer Seite, die
sich die berechtigte Kritik am real existierenden Friedensprozess zunutze
machen können. Das Versagen der Politik führt hier wie dort zu einer
zunehmend religiös grundierten Radikalisierung, die eine rationale
Bearbeitung von Konflikten zusätzlich erschwert.
Die in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Vorschläge von Mitgliedern des
israelischen Kabinetts für das weitere Vorgehen, von der Schändung der
Leichname getöteter Selbstmordattentäter bis zur physischen Liquidierung
ihrer gesamten Familien, von der absichtlichen Demütigung Arafats bis zu
seiner Tötung als angeblicher Hauptverantwortlicher des Terrorismus, von der
Auflösung der palästinensischen Autonomiebehörde durch ein erneutes
uneingeschränktes Besatzungsregime bis zum "Transfer" (der Vertreibung) der
gesamten arabischen Bevölkerung aus den besetzten Gebieten, zeigen einen
Realitätsverlust und ein Konzeptionsdefizit von geradezu selbstmörderischer
Qualität.
Was könnte zu einer Lösung führen?
Ein erster Schritt zur Entspannung der augenblicklichen Lage wäre der
vollständige und unwiderrufliche Rückzug der israelischen Armee aus den
Städten der Westbank. Es ist ihre militärische Präsenz, die eine Fortsetzung
der Straßendemonstrationen bewirkt, die zu unterdrücken sie versucht. Um dem
Aufstand auf Dauer seinen Gegenstand zu entziehen, müsste Israel allerdings,
wie der israelische Regierungskritiker Uri Avnery es fordert, das
Besatzungsregime beenden, die Siedlungen aufgeben und sich endgültig auf die
"grüne Grenze" zurückziehen, die man auf israelischen Landkarten freilich
vergeblich sucht.
Das einzig nennbare Argument für einen weiteren Verbleib der israelischen
Armee in den besetzten Gebieten sind heute die jüdischen Siedler. Sie sind
gemeint, wenn vom Schutz der Bürger Israels gesprochen wird, denn weder die
Bürger in Israel noch ihr Staat sind durch die Intifada bedroht. Wird
allerdings die jetzige Militärstrategie fortgesetzt, besteht die große
Gefahr, dass es nach dem Gesetz der selffulfilling prophecy erneut zu
Terroranschlägen von Selbstmordattentätern auch in Israel kommt, die man
jedoch mit Vergeltungsschlägen nicht eindämmen, sondern nur vermehren kann.
Mit anderen Worten: Der israelische Staat scheitert an der Lösung eines
Problems, das er selbst geschaffen hat. Dabei befindet er sich objektiv in
einer besseren Lage als je zuvor. Tatsächlich wird die Existenz Israels (und
zwar in den Grenzen vor 1967, nicht 1948) heute von keinem seiner Nachbarn
mehr angefochten. Selbst mit Syrien könnte es bereits ein Abkommen nach
ägyptischem Vorbild geben, wenn man den Golan, dessen strategische Bedeutung
inzwischen durch die waffentechnische Entwicklung überholt ist,
zurückgegeben hätte. Und ohne die Weigerung, unhaltbar gewordene Positionen
aufzugeben, hätte es auch in Palästina längst Frieden geben können. Der
beste Zeitpunkt ist bereits verpasst. Noch ist eine Übereinkunft möglich,
aber viel Zeit bleibt nicht mehr.
Israel selbst hat sich in die gegenwärtige Lage manövriert. Es ist seine
Politik der Stärke, die seine Position schwächt. Es ist seine Arroganz der
Macht, die seine Nachbarn unweigerlich überzeugen wird, dass ein friedliches
Miteinander nicht möglich ist. Die Existenz eines jüdischen Staates wird auf
Dauer aber nur mit seiner arabischen Umwelt, nicht gegen sie zu sichern
sein. Israel mag mit seiner militärischen Überlegenheit kurzfristig Vorteile
erzwingen, historisch wird es auf diese Weise verlieren.
Es ist nicht einzusehen, warum das Existenzrecht Israels bedroht sein
sollte, wenn die Palästinenser nach über drei Jahrzehnten Besatzung ihr
eigenes Land in Besitz nehmen und in Freiheit leben wollen. Offenkundig ist
nur, dass die astronomischen Summen, die Israels Regierungen dank der
staatlichen und privaten Finanzhilfe aus den USA für die Errichtung der
Siedlungen und deren militärischen Schutz ausgeben konnten, in die
Zementierung eines Konflikts investiert wurden, an dem beide Völker
Palästinas eines Tages zugrunde gehen können. Sie haben nur die Wahl, als
Nachbarn zusammen zu leben oder zusammen zu sterben. In Frieden miteinander
leben aber können sie nur, wenn der Stärkere dem Schwächeren die gleichen
Rechte zubilligt. Dazu ist Israel nicht bereit, weil es seine langfristigen
Interessen nicht erkennt. Das ist die eigentliche Tragödie.
Die gegenwärtige Protestbewegung in Palästina mag vorübergehend wieder
abflauen oder in andere Formen übergehen. Aber es wäre ein
lebensgefährlicher Irrtum zu glauben, dass man die Politik im bisherigen
Stil noch lange fortsetzen kann. Wer Verhandlungen an die Vorbedingung
knüpft, dass zuerst eine Ruheperiode einkehren müsse, will keine
Verhandlungen. Solange die alltägliche Gewalt der Besatzung anhält, wird
auch die Gegengewalt anhalten.
Nur Gleichberechtigung der Partner kann Frieden bringen
Wenn Verhandlungen zwischen beiden Seiten wieder aufgenommen werden, müssen
sie über eine schrittweise De-Eskalation hinaus auch materielle Fragen
regeln, deren Nichtbehandlung zu der gegenwärtigen Eskalation geführt hat.
Die bisher angebotenen Konzessionen werden nicht ausreichen. Eine
Verständigung ist nur dann möglich, wenn Israel den künftigen Staat
Palästina als völkerrechtlich gleichberechtigtes Subjekt anerkennt und die
Rechte seiner Bürger achtet. Das schließt die Aufsicht des einen Staates
über den anderen definitiv aus. Daraus ergibt sich alles andere.
Entscheidend ist, dass die Attitüde des kolonialen Paternalismus, der allein
das Gesetz des Handelns bestimmt, Freiheiten gewährt oder versagt und
Ungehorsam "bestraft", ein für allemal aufgegeben wird. Es kann sich also um
keinen Diktatfrieden handeln, sondern nur um ein Abkommen zwischen
ebenbürtigen Partnern, dem die Palästinenser aus freiem Willen zustimmen
können. Das wäre eine Garantie für Frieden und Sicherheit, die auch die
stärkste Militärmacht nicht geben kann.
* Gerhard Schoenberner wurde mit Büchern, Ausstellungen und Filmen über
NS-Zeit und Judenverfolgung bekannt. 1960 erschien "Der gelbe Stern", den
die FAZ vierzig Jahre später "ein Jahrhundertbuch" nannte. Er gehört zu den
Initiatoren der "Topographie des Terrors" auf dem RSHA-Gelände in Berlin und
war Gründungsdirektor der Gedenkstätte "Haus der Wannsee-Konferenz".
1973-1978 war er Leiter des Kulturzentrums der Deutschen Botschaft in Tel
Aviv (das damals kein "Goethe-Institut" sein durfte). Er hat Israel davor
und danach immer wieder besucht.
Aus: E+Z - Entwicklung und Zusammenarbeit (Nr. 1, 2002, S. 16-19),
herausgegeben von der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung
(DSE)
Redaktionsanschrift:
E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit, Postfach, D-60268 Frankfurt
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