Regierungskrise
Israel: Kadima-Partei tritt aus Koalition aus. Möglicherweise noch in diesem Jahr Neuwahlen
Von Knut Mellenthin *
Nach dem Austritt der Partei Kadima aus der Regierungskoalition steht Israel möglicherweise vor Neuwahlen. Die als zentristisch geltende Partei, die zur Zeit die stärkste Fraktion im Parlament stellt, hatte am Dienstag beschlossen, in die Opposition zurückzukehren. Sie begründet das damit, daß sie ihr zentrales Ziel, mit dem sie vor 70 Tagen in die Regierung eingetreten war, die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht, nicht durchsetzen konnte. Wobei »allgemein« sich allerdings nur auf den jüdischen Bevölkerungsteil bezieht. Staatsbürger palästinensischer Abstammung werden grundsätzlich nicht zu den Streitkräften eingezogen.
Der Streit dreht sich um die Haredim – meist als »Ultraorthodoxe« bezeichnet –, die in Israel schon seit der Staatsgründung vom Militärdienst befreit sind. Seit Juli 2002 wird dies durch das Tal-Gesetz – benannt nach einem früheren Richter am Obersten Gerichtshof, Tzwi Tal – geregelt, das aber nur provisorischen Status hat und alle fünf Jahre erneuert werden muß. Am 21. Februar entschied der Oberste Gerichtshof, daß das Tal-Gesetz verfassungswidrig sei, und verlangte eine Neufassung bis zum 1. August.
Premierminister Benjamin Netanjahu, der sich – wie nahezu alle israelischen Regierungen seit 1948 – auch auf die religiösen Parteien stützt und sich folglich mit diesen arrangieren muß – versuchte, sich mit der Einbeziehung der Kadima durch die parteipolitischen Widersprüche hindurchzulavieren. »Im Prinzip« sprach er sich zwar für die allgemeine Wehrpflicht aus, wollte sie aber nur »stufenweise« und eingeschränkt einführen. Die Kadima, die hauptsächlich aus Furcht vor Neuwahlen in die Regierung eingetreten war, weil sie dabei laut Umfragen kräftig verlieren würde, wirft Netanjahu jetzt vor, er habe immer die Haredim begünstigt, und zwar auf Kosten der »nationalen Interessen« und der »gemeinsamen Zukunft«.
Kadima wurde im November 2005 vom damaligen Premierminister und Likud-Chef Ariel Scharon gegründet, weil er in seiner eigenen Partei keine tragfähige Mehrheit für den Rückzug aus dem Gaza-Gebiet fand. Neben früheren Likud-Anhängern gehören ihr auch ehemalige Mitglieder der sozialdemokratischen Arbeitspartei, darunter Präsident Schimon Peres, an.
Netanjahu sitzt jetzt nicht nur der vom Obersten Gerichtshof festgelegte Termin für eine Neuregelung im Nacken, sondern auch sein wichtigster verbliebener Koalitionspartner: Die rechtsextreme, aber säkulare Jisrael Beitenu von Außenminister Avigdor Lieberman tritt ebenso wie Kadima für die Ausdehnung der Wehrpflicht auf die Haredim ein. Lieberman hat indessen am Mittwoch klargestellt, daß er nicht vorhabe, die Koalition zu verlassen, sondern sich »weiter in der Regierung durchschlagen« wolle.
Netanjahu verfügt auch nach dem Austritt der Kadima aus der Koalition noch über eine Mehrheit von 66 der 120 Knesset-Abgeordneten. Andererseits deuten alle Umfragen und Prognosen nach wie vor darauf hin, daß seine Partei, der Likud, bei Neuwahlen ihren Stimmenanteil deutlich verbessern und die stärkste Fraktion stellen könnte. Deshalb gehen die israelischen Medien überwiegend davon aus, daß die Knesset-Wahl, die regulär erst im Oktober 2013 fällig wäre, vorgezogen und vielleicht sogar noch in diesem Jahr stattfinden wird. Die Entscheidung müßte dann allerdings schon in dieser Woche fallen, bevor die Parlamentarier in die Sommerpause gehen.
* Aus: junge Welt, Donnerstag, 19. Juli 2012
Regieren auf dem toten Gleis
Nach dem Koalitionsbruch der Kadima herrscht in Israel der politische Stillstand
Von Oliver Eberhardt **
Israels politisches Leben steht still:
Nachdem man sich nicht auf ein neues
Wehrdienstgesetz einigen konnte, hat
die Kadima-Partei die Koalition verlassen.
Premier Netanjahu sträubt
sich dennoch gegen Neuwahlen.
Am Ende hatten die beiden Partner
nur noch über ihre Anwälte
miteinander gesprochen. Tagelang
hatten die beiden Juristen noch
versucht, einen Kompromiss auszuhandeln,
der es Kadima und Likud
ermöglicht hätte, zusammenzubleiben.
Doch am Dienstag war
endgültig klar: Eine Einigung über
ein neues Wehrdienstgesetz, jenes
Thema, das in Israel neben den
Sozialprotesten derzeit alles beherrscht,
ist nicht möglich. Es ist
das Ende einer Politehe, die vor
nur 70 Tagen mitten in der Nacht
geschlossen wurde, während alle
Welt glaubte, dass sich am nächsten
Tag das Parlament auflösen
und in ein paar Monaten Neuwahlen
stattfinden würden.
Mit dem Auszug der größten
Parlamentsfraktion herrscht in Israel
nun politischer Stillstand.
Denn zwar umfasst Benjamin Netanjahus
Koalition mit nun 66 Abgeordneten
mehr als die Hälfte der
120 Sitze. Doch eine Mehrheit hat
er bei den meisten Themen dennoch
nicht. Denn in der Koalition
haben sowohl die säkularen Konservativen
um die Partei Yisrael
Beitenu von Außenminister Avigdor
Lieberman als auch die nationalistischen
und religiösen Parteien
eine Sperrminorität, wobei Likud
zum religiösen Lager tendiert.
Die Auswirkungen dieser Situation
waren bereits vor dem Auszug
Kadimas deutlich sichtbar.
Bereits seit Wochen passiert gar
nichts mehr. Nichts Innenpolitisches.
Und schon gar keine Außenpolitik.
»Das gesamte Streben
Netanjahus drehte sich seit Wochen
darum, diese Mega-Koalition
zusammenzuhalten«, kommentierte
das Armeeradio.
Mit dem Ergebnis, dass Siedlergruppen,
aber auch Militär und
selbst einzelne Minister nahezu
ungehindert durch das Kabinett
ihre eigene Agenda umsetzen
können. So legalisierte das Militär
am Montag einen Siedlungsposten
im Westjordanland und am Dienstag
erklärte ein Ausschuss ein
akademisches Institut in der Siedlung
Ariel zur Universität – Entscheidungen,
die normalerweise
von der Regierung blockiert worden
wären, um den Status quo
nicht zu verändern. »An solchen
Vorkommnissen zeigt sich, dass
die politische Agenda der Regierung
komplett zusammengebrochen
ist«, so das Armeeradio.
Theoretisch könnte der Stillstand
nun bis zum nächsten regulären
Wahltermin im Oktober 2013
weitergehen. Nur: Am 1. August
läuft auf Geheiß des Obersten Gerichts
das Tal-Gesetz aus, das bisher
die Freistellung ultraorthodoxer
Juden vom Militärdienst regelte.
Sollte bis dahin kein neues
Gesetz verabschiedet sein, muss
das Militär alle, also auch die ultraorthodoxen,
18-Jährigen einziehen
– was nach übereinstimmender
Meinung der Medien zu
einer möglicherweise gewalttätigen
Konfrontation mit den Ultraorthodoxen
und spätestens dann
zum Zusammenbruch der Regierung
führen würde.
Verhindert werden könnte das
auf nur zwei Wegen: Indem die
Regierung den Gerichtsbeschluss
missachtet. Oder indem das Parlament
vor dem 1. August seine
Auflösung beschließt.
** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 19. Juli 2012
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