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Konflikt im Gaza-Grenzgebiet eskaliert

Israelis im Süden leiden unter Traumata und wirtschaftlichen Folgen von Raketenangriffen

Von Indra Kley, Jerusalem *

80 Raketen sind in den vergangenen zwei Wochen in der israelischen Region Eschkol an der Grenze zum Gaza-Streifen eingeschlagen. Die Menschen harren aus – und hoffen auf Frieden.

Direkt hinter den Feldern ragen die beiden weiß-grünen Minarette in den blauen Frühlingshimmel. Vielleicht einen Kilometer, mehr nicht, liegt Abasan al-Kabir entfernt, ein Ort im südlichen Gaza-Streifen. »Sie sitzen auf den Türmen und beobachten uns die ganze Zeit«, weiß Zeevik Etzion, »manchmal mit Scharfschützen. Wir können nur auf unsere Felder, wenn wir es vorher mit der Armee koordinieren.« Heute dürfen die Bewohner des Kibbuz Nirim raus – zum ersten Mal nach Tagen des Raketenhagels aus dem Gaza-Streifen. Wie zum Beweis tuckert ein roter Traktor vorbei. Das Führerhaus ist mit dicken Stahlplatten verstärkt.

Seit zwei Wochen eskaliert die Gewalt wieder: Mehr als 90 Raketen und Mörsergranaten sind auf den Süden Israels abgefeuert worden. Einige erreichten die Städte Ashkelon und Beerscheva, eine Grad-Rakete schlug gar in Yavne ein, 25 Kilometer südlich von Tel Aviv. Bei Luftangriffen der israelischen Armee wurden im Gegenzug mehrere Palästinenser im Gaza-Streifen getötet.

Als Antwort auf den ständigen Beschuss hat Israel vorzeitig das noch in der Testphase befindliche Raketenabwehrsystem »Kipat Barsel« (Eisenkuppel) bei Beerscheva aufgestellt. In den kommenden Tagen soll es auch auf das Gebiet um die Küstenstadt Ashkelon ausgeweitet werden. Die »Eisenkuppel« kann laut Hersteller Raketen und Artilleriegeschosse mit Reichweiten bis zu 70 Kilometer innerhalb von Sekunden abfangen.

Dem Landwirt Zeevik Etzion und den anderen 12 000 Bewohnern aus der Region Eschkol in der Wüste Negev bringt das jedoch nichts: Die 31 Kibbuzim und Gemeinden des Bezirks liegen direkt an der Grenze zum Gaza-Streifen – zu nah, um Attacken abzufangen. Hier sind in den vergangenen zwei Wochen 80 Geschosse niedergegangen. Innerhalb von fünf Monaten drangen 31 bewaffnete Palästinenser in die angrenzenden Orte ein. »Getötet wurde Gott sei Dank niemand«, sagt der 52-jährige Etzion. »Aber der Schaden für uns ist trotzdem unermesslich.«

In der Landwirtschaftsregion Eschkol werden 60 Prozent der israelischen Kartoffeln sowie die Hälfte der Paprika- und Tomatenproduktion hergestellt. Auch nach Europa exportieren die Bauern. »Sobald ein Schuss fällt, sobald eine Kassam-Rakete einschlägt, dürfen wir nicht mehr auf unsere Felder. Selbst bei Nebel ist es zu gefährlich«, erklärt Etzion. »Und die Frachter im Hafen von Ashkelon, die unsere Ware verschiffen, warten natürlich nicht auf uns.«

Ein dunkelgrüner Armee-Jeep fährt vorbei. Die Soldaten grüßen freundlich, fragen, ob alles in Ordnung sei. Man kennt sich. »Schau, was für eine ländliche Idylle wir hier haben«, sagt Etzion und schweift mit dem Arm ausholend über die Felder. »Aber das kann sich von einer auf die andere Sekunde ändern.«

Sharon Kalderons Idylle ist seit drei Jahren nicht mehr intakt. Die 47-Jährige lebt im Kibbuz Sufa, etwa 20 Kilometer südlich von Nirim. Vor wenigen Tagen schlugen hier drei Raketen ein. Neben dem Spielplatz liegen noch Metallsplitter auf dem sandigen Boden. Kalderon zeigt ein Bild, das ihr jüngster Sohn Ron, sieben Jahre alt, gemalt hat: In der Mitte eine gerade Linie, links das Haus der Familie mit dem markanten roten Ziegeldach, auf das eine Rakete fliegt. Rechts ist eine kleine gelbe Pyramide zu sehen, vor der die Abschussvorrichtung steht. »Ron glaubt, dass dort rechts die Palästinenser leben. Der Strich in der Mitte ist die Grenze zwischen dem Gaza-Streifen und Israel«, erklärt Kalderon. Vor drei Jahren wurde bei Ron eine posttraumatische Belastungsstörung festgestellt. »Seit damals eine Kassam neben seinem Kindergarten runterkam, hat er Angst«, sagt die Mutter.

Ihr Sohn braucht rund um die Uhr Betreuung, ist zu 30 Prozent behindert. In der Schule wird er von einem Sozialarbeiter begleitet, dreimal pro Woche fährt Kalderon mit ihm zur Reit- und Hydrotherapie. »Mehr als einmal« habe sie darüber nachgedacht wegzuziehen. »Aber alle Psychologen haben uns gesagt: Das würde es für Ron noch schlimmer machen, weil das hier sein Zuhause, seine gewohnte Umgebung ist.« Kalderon versucht nun einfach, sich so gut wie möglich um ihren Sohn zu kümmern. Und ihm trotz des Terrors den Glauben an ein friedliches Miteinander zu vermitteln. »Wir erklären ihm, dass es ebenso gute und schlechte Juden wie gute und schlechte Araber gibt. Und dass es nur die schlechten Menschen sind, die mit Raketen auf uns schießen.«

Auch Zeevik Etzion, der Landwirt aus Nirim, sieht sich »noch immer als Linker«. »Wir wissen, dass die Menschen auf der anderen Seite auch viel gelitten haben«, sagt er. »Wir hoffen einfach darauf, dass eines Tages Frieden und Ruhe herrschen – auf beiden Seiten.« Sein zehnjähriger Sohn Tal will in Nirim bleiben und später einmal die Felder seines Vaters übernehmen. Er fühlt sich sicher. Und das nicht nur, weil sein Vater auch der Leiter des lokalen Sicherheitsteams ist, das jeder Kibbuz in Eschkol hat. »Unsere Schule ist so gut geschützt, wegen der Raketen ist noch kein einziges Mal der Unterricht ausgefallen«, sagt er. Das leise Bedauern in der Stimme des Jungen ist nicht zu überhören.

* Aus: Neues Deutschland, 31. März 2011


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