Ein Staat, zwei Völker
Der israelisch-palästinensische Antagonismus kann nur in einem gemeinsamen demokratischen Staat aufgehoben werden
Von Werner Pirker *
In Haifa, der stark arabisch geprägten israelischen Hafenstadt, fand vom 28. bis 30. Mai die »Zweite Konferenz für einen säkularen, demokratischen Staat im historischen Palästina und das Recht auf Rückkehr« statt. Initiiert von der jüdisch-arabischen Organisation »Abnaa el Balad« (Kinder des Landes) zog die Veranstaltung, auf die drei Tage verteilt, mehr als tausend Teilnehmer von allen fünf Kontinenten an. Auf der Eröffnungsveranstaltung sprachen unter anderen Omar Barghuti, Koordinator der internationalen Kampagne für Investitionsstopp, Boykott und Sanktionen (BDS), Jamal Jumaa von Stop the Wall, per Videoübertragung aus Gaza Haidar Eid, Koordinator der Bewegung gegen die Blockade, Abd el Latif Gheit, Vorsitzender der Gefangenenhilfsorganisation »Adameer«, sowie der in London lebende israelische Historiker Ilan Pappe. Ihnen ist die Einsicht gemeinsam, daß die Möglichkeit einer Zweistaatenlösung, sofern sie überhaupt erstrebenswert ist, von den zionistischen Eliten vertan wurde und man deshalb auf die einfachere, selbstverständlichere, nachhaltigere, vor allem aber gerechtere unter den beiden Lösungen orientieren sollte: auf die Schaffung eines demokratischen Staates für alle Bürger auf dem Boden des historischen Palästina.
Abstraktes Postulat
Zu dem hier dokumentierten Artikel von Werner Pirker schrieb der bekannte israelische Soziologe, Historiker und Philosoph Moshe Zuckermann eine Entgegnung. Er vertritt darin die Auffassung, dass die Forderung nach einem gemeinsamen Staat für Israelis und Palästinenser an der politischen Realität des Nahen Ostens vorbei ginge. Wir haben Zuckermanns Analyse an anderer Stelle veröffentlicht: Abstraktes Postulat.
Die Suche nach einem neuen Lösungsansatz ergibt sich aus dem Fiasko des sogenannten Friedensprozesses und dem dabei deutlich gewordenen Versagen des linkszionistischen »Friedenslagers«, einen tragbaren Kompromiß mit dem palästinensischen Volk herzustellen. Eine Versöhnung zwischen jüdischen Kolonisten und palästinensischen Kolonisierten ist nur in einem gemeinsamen Staat auf der Grundlage gleicher Rechte möglich. Dann müßte kein Siedler gehen und kein Palästinenser mehr in seiner eigenen Heimat Bürger dritter oder vierter Klasse sein.
Zweistaatenkonsens
Im Mainstream-Diskurs gilt es freilich als nahezu unumstritten, daß es im israelisch-palästinensischen Konflikt nur eine, nämlich die Zweistaatenlösung geben könne. Die Westmächte USA und EU erhoffen sich aus dem Entstehen eines palästinensischen Staates an der Seite Israels eine dauerhafte Befriedung des nationalen Widerstandes gegen die im zionistischen Projekt verdichtete imperialistische Vorherrschaft. Was unter »internationale Gemeinschaft« firmiert, hat sich die Bildung einer eigenen, von den Hegemonialmächten abweichenden Meinung längst abgewöhnt und sieht deshalb ebenfalls »keine Alternative« zur Zweistaatenlösung. Auch die Führer der arabischen Staaten meinen, sich mittels dieser Kompromißlösung des palästinensischen Problems dauerhaft entledigen zu können. Auf palästinensischer Seite hat die PLO die in ihrer Nationalcharta festgelegte Orientierung auf die »Befreiung ganz Palästinas« seit Beginn des Oslo-Prozesses ad acta gelegt und sich die Formel »Zwei Völker, zwei Staaten« zu eigen gemacht. Selbst die islamistische Hamas hat wiederholt ihre Bereitschaft bekundet, Israel in den Grenzen von 1967 anzuerkennen. Das Gros der Palästina-Solidaritätsbewegung in aller Welt ist ebenfalls voll auf ein Nebeneinander von Israel und Palästina eingeschworen.
Das größte Interesse an einer Zweistaatenlösung aber müßte paradoxerweise mit Israel jener Staat haben, der sie bisher am hartnäckigsten sabotiert hat. Denn zu den zwei Staaten für zwei Völker gäbe es – schließt man eine ultimative, auf ethnische Säuberung oder gar Vernichtung zielende Lösung aus – als Alternative nur die Aufrechterhaltung des kostspieligen Besatzungszustandes oder die Annexion der besetzten Gebiete. Diese liefe aber – bei Anerkennung der vollen bürgerlichen Rechte für die in das israelische Staatsgebiet eingebürgerten Palästinenser – auf die Einstaatenlösung und damit auf das Ende Israels als exklusiv jüdischer Staat hinaus. Das wäre für die zionistische Führungsschicht das »worst case scenario«. In Beantwortung der Frage »Wäre eine Einstaatenlösung eine gerechte Lösung?«, heißt es in einem von Mitarbeitern des Außenministeriums verfaßten Beitrag auf der offiziellen Website der israelischen Regierung: »Der Ruf nach einer Einstaatenlösung ist gleichbedeutend mit dem Ruf nach der Zerstörung Israels. Das einzige Heimatland auf der Welt für das jüdische Volk würde aufhören zu existieren.« Folgerichtig läßt das Außenministerium wissen: »Die logischste Lösung des Konflikts zwischen den Israelis und den Palästinensern ist die Gründung von zwei Nationalstaaten; eines jüdischen und eines palästinensischen. Ein einziger binationaler Staat würde den Konflikt nicht lösen, sondern vielmehr zu mehr Konfrontation und Unfrieden führen.«
Der überwältigenden Zustimmung zur Zweistaatenlösung steht deren praktisches Scheitern gegenüber. Denn so logisch, wie es das Außenministerium nun weismachen will, war Israel die Gründung eines palästinensischen Nationalstaates jahrzehntelang nicht erschienen. Zwischen 1948, als sich die Israelis im Ergebnis des ersten israelisch-arabischen Krieges über die UN-Teilungsresolution von 1947 hinweggesetzt hatten, bis zum Beginn des Oslo-Prozesses 1993 hat keine israelische Regierung die Möglichkeit eines palästinensischen Staates auch nur in Betracht gezogen. Die israelische Politik basierte vielmehr auf der strikten Nichtanerkennung des palästinensischen Selbstbestimmungsrechtes und der PLO als dessen politischer Ausdruck.
Als hätte es Oslo nie gegeben, verwarf Benjamin Netanjahu zu Beginn seiner zweiten Amtszeit 2009 die Idee einer Zweistaatenlösung, die er auf eine »erweiterte Autonomieregelung« reduziert wissen wollte. Als er sich dann doch noch zu der »Zwei Völker, zwei Staaten«-Formel bekannte, wurde dies als großartige Friedensgeste gewürdigt. Der lockere Umgang der Netanjahu-Regierung mit dem von Washington und Brüssel geheiligten Nahost-Lösungsmodell macht den ausgeprägten Unwillen des jüdischen Staates deutlich, zu einer für die Palästinenser auch nur einigermaßen akzeptablen Friedenslösung zu kommen. Man nutzt die Idee einer Zweistaatenlösung, um die Vorstellung über eine Einstaatenlösung erst gar nicht aufkommen zu lassen. Gleichzeitig werden vollendete Tatsachen geschaffen, die, wenn überhaupt, nur noch die Karikatur eines palästinensischen Staates denkbar erscheinen lassen.
Ohnedies beinhaltet die von Israel und seinen westlichen Verbündeten vorgesehene »Staatlichkeit« nicht mehr als eine »erweiterte Autonomie«. Von einem Staat in den Grenzen der von Israel 1967 besetzten palästinensischen Gebiete ist sowieso nicht mehr die Rede. Der mit Beginn des »Friedensprozesses« forcierte Bau jüdischer Siedlungen auf völkerrechtswidrig besetztem Territorium hat die minimalsten Voraussetzungen für einen souveränen Staat zerstört. Mehr als ein quasistaatliches Gebilde von Israels und seiner Schutzmächte Gnaden war ohnehin nie vorgesehen gewesen. Im Ergebnis des Siedlungsbaus kontrolliert Israel mehr als die Hälfte des für einen palästinensischen Staat vorgesehenen Territoriums und ganz Ostjerusalem. Am kolonialistischen Charakter des israelischen Siedlerstaates würde die Ernennung von Westbank und Gazastreifen zum Staat nichts ändern. Ein aus Kantonen zusammengestoppelter Ministaat bliebe Teil einer Apartheid-Architektur, deren Zweck einzig in der Sicherung der white supremacy, der weißen Vorherrschaft über die angestammte Bevölkerung, besteht.
Verbrieftes Rückkehrrecht
Gerechte Lösungen sehen anders aus. Denn selbst im Idealfall einer Rückgabe aller von Israel 1967 okkupierten Gebiete wäre die Aufteilung des Territoriums immer noch extrem ungerecht, da sich die Palästinenser mit einem wesentlich kleineren, zudem territorial zerissenen Teil des Landes zufriedengeben müßten. Dazu käme, daß der jüdische Staat sich die Bereitschaft, ein palästinensisches Gegenüber zu akzeptieren, mit dem Verzicht der Vertriebenen auf Rückkehr bezahlen ließe. Das Rückkehrrecht aber ist ein unveräußerliches. Nicht nur, weil es allgemein anerkannt ist, sondern weil es den Palästinensern in einer UN-Sicherheitresolution vom Dezember 1948 auch explizit zugesichert wurde.
Soll der Nahost-Konflikt dauerhaft gelöst werden, muß an seine Wurzeln zurückgegangen werden. Diese liegen in der 1948 erfolgten Gründung eines exklusiv jüdischen Staates auf einem von der autochthonen Bevölkerung weitgehend »gesäuberten« Territorium. In dem in Oslo 1993 geschlossenen israelisch-palästinensischen Kompromiß ist die »Katastrophe« (Nakba) der zionistischen Landnahme ausgeklammert; die angestrebte Lösung bezieht sich ausschließlich auf die Rückgabe der im Juni-Krieg 1967 besetzten Gebiete.
Die auf dem Kongreß von Haifa erhobene Forderung nach einem demokratischen Staat auf dem Boden Palästinas mag jenen seltsam vorkommen, die der im Westen vorherrschenden Meinung von »Israel als der einzigen Demokratie im Nahen Osten« anhängen. Dabei waren sich die Gründer des Staates Israel des Widerspruchs zwischen einem exklusiv jüdischen und einem demokratischen Staat durchaus bewußt. Vor die Wahl zwischen einer zionistischen und einer demokratischen Lösung gestellt, entschieden sie sich für den jüdischen Staat. Der Staat Israel ist zwar, wenngleich ihm keine geschriebene Verfassung zugrunde liegt, formal ein demokratischer Staat. Die zionistische Machtausübung über ganz Palästina aber ist ihrem Wesen nach die Negation der Demokratie – ein palästinensischer Staat auf der Westbank und im Gazastreifen würde an den realen Machtverhältnissen, das heißt an der israelischen Vorherrschaft kaum etwas ändern.
Am Beispiel Sakhnin
Doch auch im israelischen Kernland, das heißt in den 1948 besetzten Gebieten, beruht das Verhältnis zwischen den beiden Völkern nicht auf einer demokratischen Grundlage, genießt die jüdische Mehrheit entscheidende Vorrechte. Das wichtigste bezieht sich auf den Zugang zu Grund und Boden. Die Umverteilung der Ländereien von den Einheimischen zu den Zuwanderern bildete seit Beginn der jüdischen Einwanderung nach Palästina den wichtigsten Hebel zur Gestaltung Israels zu einer exklusiv jüdischen Gesellschaft.
Bei einem Lokalaugenschein in Sakhnin, einer überwiegend arabisch besiedelten Stadt in Galiläa, konnten sich ausländische Konferenzteilnehmer ein Bild von der Brutalität des Verdrängungsmechanismus machen, dem die arabische Bevölkerung in Israel ausgesetzt ist. Sakhnin ist die Stadt, in der 1976 der erste »Tag des Landes«-Marsch als Protest gegen die Landkonfiskationen stattfand. Inzwischen ist die 30000 Einwohner zählende arabische Hochburg umzingelt von jüdischen Siedlungen. 1948 verfügte die Stadt bei einer Einwohnerzahl von 3000 über 70000 Hektar Land, heute sind es bei einer zehnmal höheren Einwohnerzahl gerade noch 10000. Der Grundbesitz der jüdischen Siedlungen beträgt stolze 138000 Hektar, über die die Siedler eifersüchtig wachen, auf daß nicht ein Quadratmeter in arabische Hände gerät. Es sei für Palästinenser praktisch unmöglich geworden, Land zu erwerben, beklagten ein einheimischer Ingenieur und seine holländische Ehefrau, die sich seit gut zwanzig Jahren vergeblich um eine Baubewilligung bemühen, ihr Schicksal. Nicht daß es etwa klar formulierte Gesetze gäbe, die den Einheimischen den Erwerb des ihnen gestohlenen Landes verbieten würden. Es sind vielmehr unzählige administrative Fallstricke und Tricks, die die »Kinder des Landes« von ihrer Scholle fernhalten. So gelten 1948 Geflüchtete und dann wieder Zurückgekehrte bis heute als »Abwesende«, denen sogar der Rückkauf ihres konfiszierten Eigentums untersagt ist.
Deshalb wird schwarz gebaut, auch auf die Gefahr hin, daß schon am nächsten Tag der Bulldozer vor der Haustür steht. Sie beneide die Menschen in den besetzten Gebieten nicht um ihr Schicksal, sagte die Frau aus Holland. Doch sei die Situation für viele israelische Araber noch unerträglicher, da ihnen eigentlich jeglicher rechtliche Status fehle. So machte der Abstecher nach Sakhnin deutlich, was eigentlich unter dem demokratischen Staat zu verstehen ist, der an Stelle der »einzigen Demokratie in Nahost« entstehen soll.
Der demokratische säkulare Staat auf dem Boden Palästinas ist keine aus der Verzweiflung über die Stagnation des auf die Zweistaatenlösung orientierten Friedensprozesses geborene Idee. Bereits nach dem Sechstagekrieg 1967 war sie ins Zentrum der strategischen Überlegungen der PLO gerückt. Ziel des bewaffneten Kampfes gegen Zionismus und Imperialismus sei ein demokratischer multikonfessioneller Staat, in dem Muslime, Christen und Juden Seite an Seite lebten, hieß es in Erklärungen von 1968. Später sprach man von einem »laizistischen Palästina«, für das immer größere Teile der israelischen Bevölkerung zu gewinnen seien. In beiden Konzepten werden die Juden nicht als Ethnie, sondern nur als Religionsgemeinschaft wahrgenommen. Ob multikonfessionell oder laizistisch, was sich ja nicht ausschließt: Die Befreiung Palästinas wird als die Aufhebung des (im religiösen Sinn) jüdischen Staates gedacht.
Staat ohne Nation
Doch auch die antizionistische Linke in Israel orientierte schon sehr früh auf eine Einstaatenlösung. Der zionistischen Doktrin von Israel als Staat des jüdischen Volkes hielt sie die Idee von Israel/Palästina als Staat seiner Bürger entgegen. Israels Oberstes Gericht hat diese Ansicht als staatsfeindlich verworfen. Als Detail am Rande sei erwähnt: Israelische Paßinhaber dürfen sich national unterschiedlich ausweisen: als Araber, Drusen, Beduinen, Tscherkessen oder eben Juden. Allein die Bezeichnung »israelisch« ist ihnen untersagt, da dies als Absage an das Dogma von Israel als Staat des jüdischen Volkes gewertet und strafrechtlich verfolgt wird. Somit ist Israel der einzige Nationalstaat, dessen Staatsnation nicht existiert.
Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems befand sich die Arafat-PLO in einer äußerst geschwächten und isolierten Position. Gleichzeitig drängte der siegreich aus der Ost-West-Konfrontation hervorgegangene Imperialismus auf eine Befriedung des Konfliktes im Nahen Osten. Daraus ergab sich die Zweistaaten-Option. Der Leiter des Alternativen Forschungszentrums in Jerusalem, Michel Warszawski, betrachtet es als kolonialistische Attitüde, wenn Angehörige der herrschenden Nation der beherrschten Nation die richtige Lösung, wenn auch im Sinn der Unterdrückten gemeint, vorschreiben wollen. Deshalb sei der Wunsch des palästinensischen Volkes nach einem eigenen Staat – wenn auch nur auf einem kleinen Teil Palästinas – zu respektieren gewesen. Bereits vor Oslo hat die PLO ihre Linie dahingehend korrigiert, daß die »Autorität des Volkes« auf »jedem Stück des befreiten palästinensischen Territoriums« durchzusetzen sei. Die von Israel bewilligte Palästinensische Autorität (PA) in Ramallah hat indes wenig zur nationalen Emanzipation des palästinensischen Volkes beigetragen. Im antikolonialen Kampf von Palästinensern und fortschrittlichen Israelis müßten die Opfer der nationalen Unterdrückung die führende Rolle einnehmen, sagte Warszawski. Die gemeinsame Aktion sollte die Agenda bestimmen und nicht die Agenda die gemeinsame Aktion.
Für Ilan Pappe wäre ein gemeinsamer Staat von israelischen Juden und arabischen Palästinensern ein neues geschichtliches Phänomen, wobei er davor warnte, ein fertiges Konzept dieses Staates entwerfen zu wollen. Es müßte ein Staat des Dialogs sein, der sich allmählich zum Bewußtsein seiner selbst entwickelt.
Daß ein binationales Staatswesen entstehen sollte, wurde in Haifa eher ablehnend beschieden. Denn dies beinhalte die Gefahr territorialer Ansprüche einer der beiden oder beider konstituierenden Nationen. Als Staat seiner Bürger würde sich das künftige Palästina einer nationalen Definition eher entziehen. Einem im Ergebnis des nationalen Befreiungskampfes der Palästinenser entstandenen Palästina wäre es freilich kaum zu verübeln, sich in seiner arabischen Identität zu definieren. Zumindest das Recht, als Titularnation aufzutreten, das heißt das Land Palästina und nicht Israel zu nennen, würde man den Palästinensern kaum absprechen können.
Nicht ohne Widerspruch blieb auf der Konferenz die Beschreibung des anzustrebenden Staates als »säkular«. Ohnedies könne nur ein säkularer Staat ein demokratischer sein. Mit der Betonung seines säkularen Charakters würde ein künstliches Hindernis für das Bündnis mit islamischen Kräften errichtet werden, lautete der Einwand.
»Landesverräter«
Gegenwärtig und auch in absehbarer Zukunft muß davon ausgegangen werden, daß die überwiegende Mehrheit der israelischen Gesellschaft der Perspektive eines demokratischen säkularen Staates in ganz Palästina absolut feindselig gegenübersteht. Aus ideologischen Gründen: die Identifizierung von Israel und Zionismus ist weitgehend ungebrochen. Aber auch aus durchaus praktischen Gründen. In einem gleiche Rechte für all seine Bürger garantierenden Gemeinwesen würden die Juden ihre Vorrechte gegenüber den Palästinensern (zumindest auf dem Papier) einbüßen. Da der neue Staat sich der Verpflichtung, die nicht rückkehrwilligen Vertriebenen zu entschädigen, nicht entziehen könnte und dies wohl auch nicht vorhaben dürfte, müßte die israelische Wohlstandsgesellschaft schwere Einbußen hinnehmen. Dazu käme, daß das Land seine herausragende Stellung als Waffenexporteur verlieren würde. Auch hielte sich der Anreiz der USA, ein friedlich gewordenes Israel/Palästina weiter zu unterstützen, durchaus in Grenzen.
So sehr eine südafrikanische Lösung für Palästina, das heißt ein Sturz des israelischen Apartheid-Regimes zu begrüßen wäre, so wenig läßt sich die in Südafrika nach dem Sieg des ANC eingetretene Entwicklung als leuchtendes Beispiel anführen. Das Post-Apartheid-System hat der schwarzen Bevölkerung nur die politische Gleichberechtigung gebracht. Wirtschaftlich hat das Ende der offenen Rassentrennung den Weißen und Indern mehr genutzt als der nach wie vor in elenden Verhältnissen lebenden autochthonen Bevölkerung. Eine ähnliche Entwicklung zuungusten der Unterprivilegierten wäre auch in einem »befreiten Palästina« zu erwarten, sollte dem politischen Umsturz kein Eingriff in die Eigentumsverhältnisse folgen.
Wie Ilan Pappe im Gespräch mit dieser Zeitung erzählte, findet die Einstaatenlösung auf der Grundlage gleicher Rechte für Juden und Palästinenser im akademischen Diskurs zunehmend Anhänger. Die radikalzionistische Webseite isracampus.org.il führt eine lange Liste all jener Wissenschaftler, die sie des »Landesverrats« für schuldig hält. Der Linkszionismus mit seiner Kibbuz-Romantik, der über Jahrzehnte das Bild Israels als Bastion des Fortschritts inmitten arabisch-feudaler Rückständigkeit geprägt hatte, droht völlig von der Bildfläche zu verschwinden. Auf der einen Seite ist die extreme Rechte, die den Palästinensern als nationales Kollektiv mehr oder weniger offen das Existenzrecht abspricht, absolut vorherrschend geworden. Auf der anderen Seite verliert der Zionismus zunehmend an Überzeugungskraft, was sich in postzionistischen Positionen äußert, denen zufolge die Existenz Israels nicht unbedingt an den Zionismus gebunden sei. In dem Maße, in dem es vorstellbar wird, daß die jüdische Existenz in der Region auch jenseits eines exklusiv jüdischen Staates möglich sein könnte, verschärfen die Hardcore-Zionisten ihre ideologische Kampagne, die in ihrer Unerbittlichkeit und maßlosen Demagogie bereits totalitäre Züge angenommen hat. Wer sich nicht dem Antisemitismus-Vorwurf aussetzen will, hat das Existenzrecht Israels als Staat des jüdischen Volkes ohne Wenn und Aber anzuerkennen. Eine Sichtweise, die bis hinein in die deutsche Linkspartei internationaler common sense geworden ist.
Der Ruf nach der Einstaatenlösung ist nicht, wie das israelische Außenministerium behauptet, gleichbedeutend mit dem Ruf nach der Zerstörung Israels. Sehr wohl aber wäre eine Einstaatenlösung auf der Grundlage gleicher Rechte für Juden und Palästinenser gleichbedeutend mit dem Ende des Zionismus. Das aber stellt den Zionismus und nicht die Demokratie vor ein Legitimationsproblem.
* Aus: junge Welt, 30. Juni 2010
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