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Die Mehrheit bricht ihr Schweigen

Tausende Israelis demonstrieren gegen Ultraorthodoxe *

Ultraorthodoxe Juden in Israel versuchen zunehmend, das öffentliche Leben nach ihren Vorstellungen zu maßregeln, zum Beispiel eine Geschlechtertrennung durchzusetzen. Die Mehrheit der Israelis findet das offenbar befremdlich, Tausende treibt es auf die Straße.

Mehrere tausend Israelis haben am Dienstag (27. Dez.) in der Stadt Beit Schemesch gegen religiösen Fanatismus ultraorthodoxer Juden demonstriert. Zu der Kundgebung gegen die Benachteiligung von Frauen im öffentlichen Leben hatten Menschenrechtsgruppen aufgerufen. Auch Staatschef Schimon Peres hatte seine Landsleute aufgefordert, sich an der Demonstration zu beteiligen. Der Parlamentarier der linken Meretz-Partei, Nitzan Horowitz, bezeichnete die Debatte über die Rechte der Frauen als Kampf um das Wesen Israels.

»Hier steht nicht ein einzelner Stadtteil oder eine bestimmte Buslinie auf dem Spiel, sondern der Charakter des Staates. Wird Israel ein fortschrittliches und demokratisches Land sein oder eine abgeschottete und rückständige Gesellschaft?«, sagte der Politiker bei der Kundgebung. Demonstranten trugen Schilder mit Aufschriften wie: »Israel soll nicht wie Iran werden« oder »Die Mehrheit bricht ihr Schweigen«.

Beit Schemesch war in die Schlagzeilen geraten, nachdem das Fernsehen einen Bericht über ein Schulmädchen gezeigt hatte, das von einem ultraorthodoxen Mann bespuckt worden war. Das Mädchen soll nach Meinung der religiösen Eiferer nicht sittsam gekleidet gewesen sein. Der Vorfall stieß auch in gemäßigteren religiösen Kreisen auf scharfe Kritik. »Die Diskriminierung von Frauen verstößt gegen die Tradition der Bibel und gegen die Grundprinzipien der Juden«, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Jerusalem.

Hintergrund der Demonstration ist der eskalierende Streit über die von ultraorthodoxen Juden geforderte Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit. Frauen werden unter anderem auf Schildern aufgefordert, vor den Synagogen auf die andere Straßenseite zu wechseln, in Bussen und Straßenbahnen hinten zu sitzen, sich im Supermarkt in getrennte Schlangen an der Kasse zu stellen sowie bei Wahlen verschiedene Wahlurnen zu benutzen.

Frauen sollen sich nach Ansicht der Ultraorthodoxen zudem sittsam in der Öffentlichkeit zeigen und so kleiden, dass nur das Gesicht und die Hände unbedeckt bleiben. Buchhandlungen wurden in orthodoxen Stadtteilen von Jerusalem schon genötigt, »unsittsame« Bücher aus dem Angebot zu nehmen. Die orthodoxen Juden sind in Israel zwar in der Minderheit, weisen aber eine erheblich größere Geburtenrate als der Durchschnitt der Bevölkerung auf.

* Aus: neues deutschland, 29. Dezember 2011


Tausende demonstrieren in Beit Shemesh **

Am Dienstag (27. Dez.) haben Tausende gegen den Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Raum protestiert. Ultra-orthodoxe Gruppen hatten in den vergangenen Wochen wiederholt gefordert, in Bussen, Supermärkten und an anderen öffentlichen Orten Geschlechtertrennung einzuführen. Die Situation spitzte sich am Wochenende zu, als ein orthodoxer Mann eine Schülerin anspuckte, weil sie ihm „nicht züchtig genug“ gekleidet war.

Oppositionsführerin Tzipi Livni, die Vorsitzende der Arbeitspartei Shelly Yachimovich, Kultur- und Sportministerin Limor Livnat und der Rabbiner Haim Amsalem sprachen auf der Kundgebung. Livnat erklärte, der Ausschluss von Frauen sei „ein verabscheuungswürdiges Verbrechen“ und kündigte an, „mit allen Mitteln“ dagegen zu kämpfen.

Der Knessetabgeordnete Amir Peretz, der ebenfalls an der Demonstration teilnahm, erklärte: „Genug ist genug! Wir müssen diesen Zustand beenden. […] Es ist eine untragbare Situation, wenn ein Mädchen in Israel Angst hat, auf die Straße zu gehen.“

Auch der Bürgermeister von Beit Shemesh, Moshe Abutbul, äußerte sich zu der Gewalt in seiner Stadt und sagte, dass dieses Verhalten unentschuldbar sei und die Polizei mit „harter Hand“ gegen die Unruhestifter vorgehen solle.

Ministerpräsident Binyamin Netanyahu erläuterte seine ablehnende Haltung erneut am Dienstag bei dem diesjährigen Bibel-Wettbewerb in Jerusalem. „Die Bibel beschreibt eine gerechte Weise, wie jeder Mensch, und insbesondere Frauen, behandelt werden sollen. Der Ausschluss von Frauen widerspricht der Tradition der Bibel und den Traditionen des Judentums.“

Bildungsminister Gideon Sa’ar pflichtete Netanyahu bei und sagte: „Wir müssen unsere Stimme erheben gegen diese dunklen Kräfte. Der Radikalismus der Sikarier und die gaunerhaften Methoden der ‚Preisschild‘-Gangs repräsentieren nicht das Judentum. Das ist nicht die israelische Art.“

Bei der Botschafterkonferenz in Jerusalem rief Präsident Peres alle Bürger dazu auf, an der Demonstration in Beit Shemesh teilzunehmen. „Die Religiösen, die Säkularen, die Traditionalisten – wir alle müssen die Prinzipien des Staates Israel verteidigen gegen diese kleine Gruppe, die unserer nationalen Solidarität schaden will.“ Denn die Verantwortung liege nicht nur bei der Polizei: „Das ist ein Test für unsere Nation, die Mehrheit aus den Fängen einer kleinen Minderheit zu befreien, die an den Grundfesten der Demokratie nagt. […] Keiner hat das Recht, Mädchen oder Frauen zu bedrohen. Wir sind alle Bürger.“

(Ynet, 27.12.11)

** Quelle: Newsletter der Israelische Botschaft, 28.12.2011


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